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Fünf Jahre für Solidarität

In der polnischen Grenzstadt Hajnówka stehen Aktivist*innen vor Gericht – der Fall zeigt, wie es um das europäische Asylsystem steht

Von Marita Fischer

Das Bild zeigt den Grenzzaun zwischen Polen und Belarus, auf der polnischen Seite. In regelmäßigen Abständen von etwa 20 Metern sind Grenzschützer*innen postiert, die durch die Gitterstäbe hindurch die belarussische Seite der Grenze beobachten
Der schwer bewachte Grenzzaun zwischen Polen und Belarus ist zu einem Symbol für den menschenverachtenden Kurs der EU in der Asylpolitik geworden. Foto: Gov.pl/Wikimedia Commons, Attribution 3.0 Poland

Im Frühjahr 2022 stoppen polnische Grenzschützer (Straż Graniczna) zwei Autos in der Nähe von Narewka in Ostpolen, unweit der belarussischen Grenze. In den Autos befinden sich eine schutzsuchende Familie aus dem Irak, ein Schutzsuchender aus Ägypten und vier Menschen mit europäischen Pässen, die die Autos fahren. Die Fahrer*innen werden festgenommen und zu einem Stützpunkt des Grenzschutzes in Narewka gebracht. In den nächsten Tagen werden die Vier als Beschuldigte verhört. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie in konspirativer Weise den illegalen Grenzübertritt der schutzsuchenden, ausländischen Menschen organisiert haben und sie ins Land transportierten. Gegen die vier werden Ermittlungen eröffnet. Während sie in Narewka verhört werden, stürmt die Polizei das Haus einer weiteren Aktivistin, die in Podlasien, der ostpolnischen Grenzregion wohnt. Drei Jahre später, Anfang Februar dieses Jahres, begann nun der Prozess gegen die Helfer*innen, deren Fall unter dem Namen »Hajnówka Fünf« bekannt wurde, da der Prozess am dortigen Gericht stattfindet. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft.

Im Dezember 2023 wurde die rechts-nationalistische PiS-Partei in Polen abgewählt und Donald Tusk, von der liberalkonservativen Partei »Koalicja Obywatelska« (KO), zum Ministerpräsidenten ernannt. Der Großteil der europäischen Staatsoberhäupter zeigte sich erleichtert. Endlich gebe es wieder Hoffnung für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Polen. Tatsächlich gibt es, seit Tusk im Amt ist, weniger Nachrichten über Angriffe auf die liberale Demokratie aus Polen. Auch die sogenannten »LGBTIQ-freien Zonen« wurden größtenteils wieder rückgängig gemacht.

Schutzschild-Ost

Die menschenrechtswidrige Aufrüstung und Abschottung an der polnisch-belarussischen Grenze geht jedoch uneingeschränkt weiter. Die von Tusk geführte Regierung will 2,3 Milliarden Euro in die Aufrüstung der Grenzinfrastruktur an der Ostgrenze nicht nur mit Belarus, sondern auch mit der russischen Enklave Kaliningrad investieren. Im Zuge des Projekts »Schutzschild-Ost« sollen hier u.a. Panzersperren, Drohnenabwehranlagen und Bunker gebaut werden. Diese sollen erklärtermaßen auch für Schutzsuchende eine möglichst unüberwindbare Hürde bilden, denn die Migrationsbewegungen an der Ostgrenze werden von Tusk immer wieder als Mittel der »hybriden Kriegsführung« Russlands bezeichnet. Diese entmenschlichende Bezeichnung soll das rechtswidrige Vorgehen gegen Schutzsuchende rechtfertigen. Zudem erlaubt sie der Regierung eine »ernsthafte und reale Bedrohung« für die nationale Sicherheit zu behaupten.

Eine solche »Bedrohungslage« ist wiederum Voraussetzung für die Anwendung eines im vergangenen Monat verabschiedeten Gesetzes, mittels dessen das Asylrecht für den Großteil der über Belarus einreisenden Schutzsuchenden nun für je 60 Tage außer Kraft gesetzt werden kann – mit wenigen Ausnahmen, etwa für Schwangere und unbegleitete Minderjährige. Das bedeutet, dass Asylgesuche vieler Menschen, die etwa vor Krieg, Unterdrückung und Verfolgung aus dem Sudan, Jemen oder Afghanistan flüchten, in Polen gar nicht mehr geprüft werden. Empörung von Seiten der EU aufgrund dieses offensichtlichen Rechtsbruchs Polens blieb aus. Dass ein Menschenrecht von einem EU-Staat einfach ausgesetzt wird, ist ein neuer, trauriger Tiefpunkt in der menschenverachtenden Migrationspolitik der EU.

Die stetige Zunahme der Militarisierung und Menschenrechtsverletzungen im Grenzgebiet dokumentiert Ärzte ohne Grenzen seit 2022. Aus einem im Februar veröffentlichen Bericht geht hervor, dass von November 2022 bis November 2024 insgesamt 442 Menschen in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze medizinisch versorgt werden mussten. Die Hälfte von Ihnen war durch Schläge, Hundebisse und Gummigeschosse schwer verletzt. Andere litten an Infektionen, Dehydrierung, Erschöpfung, psychischen Traumata sowie tiefen Schnittwunden und Brüchen, die beim Überklettern des Grenzzauns oder bei Stürzen entstanden sind. Mindestens 90 Menschen sind beim Versuch, Sicherheit und Schutz in der EU zu finden, an der polnisch-belarussischen Grenze bisher verstorben, so die Zahlen der polnischen Online-Plattform we are monitoring.    

Schleuser-Vorwurf gegen Helfer*innen

Die Repressions- und Abschottungsanstrengungen Polens gelten in erster Linie unmittelbar den Schutzsuchenden. Doch auch solidarische Menschen, die diesen bei ihrem Überlebenskampf in den polnischen Wäldern helfen wollen, sind von Repressionen betroffen. Das zeigt der Fall der Hajnówka-Fünf exemplarisch. Schon Ende März 2022 entschied ein Gericht in Hajnówka, dass eine der beschuldigten Personen, die einen nicht-polnischen EU-Pass besitzt, Polen innerhalb von drei Tagen verlassen muss und verhängte einen fünfjährigen Einreisebann gegen sie. Ungefähr ein halbes Jahr später wurde jene lokale Aktivistin, deren Haus im März 2022 durchsucht wurde, von Grenzschützern als Zeugin in dem Fall befragt. Nach monatelangen Ermittlungen und zahlreichen Verhören, die die Behörden durch den Schleuser-Vorwurf rechtfertigten, änderte die Staatsanwaltschaft im Dezember 2023 die Anklage. Gegen die vier Aufgegriffenen, sowie die zuvor als Zeugin befragte Person, wird nun wegen der »Hilfe zum illegalen Aufenthalt« ermittelt. Es sei vor allem fraglich, welchen finanziellen oder persönlichen Vorteil die Fünf von der angeblichen Hilfeleistung gehabt haben sollen, sagt eine Aktivistin des polnischen Anti-Repressions-Kollektiv »Szpila« bei einer online-Veranstaltung Ende März. Die Vorteilsnahme ist eine Voraussetzung dieses Straftatbestandes, da er sich ursprünglich gegen kommerzielle Schmuggelstrukturen richten sollte und nicht zur Kriminalisierung von solidarischer Hilfe gedacht war.  Im Prozess gegen die Hajnówka-Fünf passiert jetzt jedoch genau das: schon die Versorgung der verzweifelten Menschen im Wald mit Nahrung und Wasser wird von der Staatsanwaltschaft als strafbare Handlung gewertet.  

Nach monatelangen Ermittlungen und zahlreichen Verhören, änderte die Staatsanwaltschaft im Dezember 2023 die Anklage.

Der erste Prozesstag gegen die Fünf fand erst Ende vergangenen Januar, also fast drei Jahre nach den Vorfällen im polnischen Grenzwald statt. Zu Beginn der Verhandlung beantragte die Staatsanwaltschaft, ohne Erklärung, die Öffentlichkeit von dem Verfahren auszuschließen. Das Gericht gab dem Antrag teilweise statt, Medienvertreter*innen und Publikum müssen den Gerichtssaal deshalb immer wieder verlassen.

Blaupause für Deutschland?

Trotz geringer Aufmerksamkeit in Deutschland für den Fall der Hajnówka-Fünf, ist die Solidarität in der polnischen Aktivist*innen-Szene ungebrochen. Unterstützt werden sie insbesondere durch die Helsinki Foundation of Human Rights und das feministische Anti-Repressions-Kollektiv Szpila. Neben der Organisation von juristischem Beistand für die Betroffenen veröffentlicht das Kollektiv online detaillierte Informationen zu dem Prozess und verbreitet Hinweise über Solidaritätsproteste.

Eine Kriminalisierung, wie die Hajnówka-Fünf sie gerade in Polen erleben, könnte künftig auch Aktivist*innen in Deutschland drohen, wenn sie sich an den grünen EU-Außengrenzen für Menschenrechte einsetzen. Seit Februar 2024 sieht der Absatz vier des §96 Aufenthaltsgesetzes unter anderem eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren vor, wenn Menschen »wiederholt oder zugunsten mehrerer Ausländer« bei der Einreise in das Hoheitsgebiet der EU helfen. Auch hier kommt es nicht mehr auf einen persönlichen Vorteil an. Voraussetzung ist allerdings, dass die Einreise auf dem Landweg passiert. Diese Einschränkung ist Ergebnis einer erfolgreichen  Kampagne der Seenotrettungs-Community, die sich durch die Regelung zu Recht weiter kriminalisiert sah. Was allerdings ein großer und wichtiger Erfolg für die Seenotrettung ist, dürfte für die Aktivist*innen an den grünen Außengrenzen dazu führen, dass sie noch unmittelbarer der Gefahr eine Kriminalisierung ausgesetzt sind. Auch für Schutzsuchende ist das eine bedrohliche Entwicklung, da sich diese Repressionen mittelbar auch gegen sie wenden.  

Marita Fischer

studiert Jura in Berlin und ist im »no border«-Kontext aktiv.