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Ein Kartenhaus aus Polizei-Lügen

Immer mehr Details über den Tod des 16-jährigen Mouhamed Dramé kommen ans Licht – Initiativen rufen zu Großdemonstration auf

Von Carina Book

Ein Mural erinnert an Mouhamed Dramé, der am 8. August von der Polizei ermordet wurde. Foto: Mean Streets Antifa Dortmund

Zuerst wurde die Polizeiversion der Geschichte in den Medien verbreitet. In dieser hieß es, der 16-jährige Mouhamed Dramé sei mit einem Messer auf Beamte losgegangen, diese seien dann gezwungen gewesen aus Notwehr zu schießen. NRW-Innenminister Herbert Reul bestätigte diese Aussage. Während antirassistische Initiativen schon sehr früh ahnten, dass die Darstellung der Polizei nicht korrekt sein konnte, verging eine ganze Weile, bis auch bei Staatsanwaltschaft und Innenministerium Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einsatzes geäußert wurden.

Nun fällt ein Lügenkonstrukt nach dem anderen in sich zusammen: Mouhamed Lamine Dramé war erst kurz vor dem tödlichen Einsatz in eine Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt gezogen und befand sich in einem psychischen Ausnahmezustand. Er hielt sich, offenbar in suizidaler Absicht, ein Messer vor den Bauch, benötigte dringend Hilfe. Statt diese zu erhalten, wurde er am 8. August 2022 nach dem Einsatz von Pfefferspray mit einem Taser angegriffen und mit einer Maschinenpistole von der Polizei erschossen.

Bislang wurde verbreitet, dass Pfefferspray und Taser aufgrund von Drogen- und Alkoholeinfluss keine Wirkung gehabt hätten und sich Mouhamed Dramé weiter auf die Polizeibeamten zubewegt habe. Ein toxikologisches Gutachten zeigte, dass das nicht stimmt: Der 16-jährige hatte weder Drogen noch Alkohol im Blut. Er hätte sich vor Schmerzen krümmen müssen, und dies hätte nicht als Angriff interpretiert werden können, ordnete Kriminologie-Professor Thomas Feltes am 26. Oktober gegenüber dem WDR ein. Dass es gänzlich unmöglich ist, dass Dramé überhaupt eine Reaktion auf den Tasereinsatz zeigen konnte, wurde schließlich am 9. November bekannt: Der erste Schuss aus der Maschinenpistole wurde nur 0,717 Sekunden nach einem wahrnehmbaren Tasergeräusch abgegeben. Dies geht aus einem Bericht für den Rechtsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags hervor, in dem eine Tonaufnahme analysiert wurde.

William Dountio, Sprecher der Afrikanischen Community Dortmund und Mitgründer des Bündnis Solidarität für Mouhamed Dramé erklärte dazu: »Nun wurde offiziell bestätigt: Mouhamed war zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für irgendjemanden – besonders nicht in dem Moment, in dem er erschossen wurde. Daher sollte die Anklage auf Mord lauten.« Noch ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Polizeibeamt*innen im Fall Mouhamed Dramé. Sie kündigte ein Ermittlungsergebnis noch für November an.

Am 6. November wurde zudem durch eine Recherche des WDR bekannt, dass die Beamt*innen den Taser entgegen den Dienstvorschriften einsetzten. In der Dienstvorschrift, aus der der WDR zitierte, heißt es: »Grundsätzlich nicht geeignet sind DEIG (Anm. d. Red.: Taser) zur Bewältigung von dynamischen Lagen im Kontext von Bedrohungen oder Angriffen mit Hieb-, Stich, Schnitt- oder Schusswaffen.« Taser-Einsätze sind schon lange höchst umstritten und werden in Nordrhein-Westfalen noch bis 2024 in einem Pilotprojekt getestet. Ein Test, der erst Ende Oktober einen weiteren Mann in Dortmund das Leben kostete, denn der Herzkranke starb nach einem Beschuss mit einem Elektroschocker. Innenminister Reul kündigte an, auch diesen Einsatz überprüfen zu lassen.

Die Wahrheit muss ans Licht kommen.

William Dountio

Echte Aufklärung fordert William Dountio auch im Fall Mouhamed Dramé: »Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Die neuen Erkenntnisse sind ein Anfang. Das gibt uns als Initiative Mut weiterzumachen. Wir haben die neuen Erkenntnisse direkt mit der Familie geteilt und Mouhameds großer Bruder hat große Hoffnungen, dass lückenlos aufgeklärt wird, wie und warum seinem Bruder das Leben genommen worden ist.«

Dountio organisiert gemeinsam mit vielen Initiativen eine Großdemonstration am 19. November. Doch er sorgt sich um die Sicherheit der Teilnehmenden, denn für diese ist offiziell die Polizei verantwortlich: »Wir wollen sicherstellen, dass sich die Polizei an diesem Tag friedlich verhält. Wir möchten ein Gespräch mit dem Polizeipräsidenten darüber führen, wie er die Sicherheit von Menschen mit beispielsweise psychischen Erkrankungen gewährleisten will. Bisher haben wir keine Antwort vom Polizeipräsidenten, geschweige denn eine Einladung erhalten.« Seit 1990 sind in Deutschland mindestens 318 Menschen bei Polizeieinsätzen getötet worden. Hinreichende Aufklärung geschweige denn Aufarbeitung gab es in der Mehrzahl der Fälle nicht. Die Demonstration am 19. November soll den politischen Druck hochhalten, sodass zumindest in diesem Fall nichts unter den Teppich gekehrt werden kann.

Foto: Solidaritätskreis Mouhamed

Unterstützung

Die Familie von Mouhamed Lamine Dramé hat den Wunsch geteilt, nach Deutschland reisen zu können, um an den Ort zu kommen, wo ihr Sohn und Bruder getötet wurde. Auf der Seite betterplace.org gibt es ein Crowdfunding, um diese Reise zu ermöglichen. Am 19. November wird es in Dortmund eine große Demonstration geben, die von mehr 30 Initiativen getragen wird.

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.

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