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Arbeit in der Festung Europa

Moria ist eine Maßnahme, um Geflüchtete in moderne Sklaverei zu zwingen

Von Tarek Shukrallah

Der Brand Mitte September hatte das komplette Lager verwüstet, es ist davon auszugehen, dass das Lagersystem weiter bestehen bleibt. Foto: Screenshot YouTube

Über das abgebrannte Elendscamp Moria wird dieser Tage viel geschrieben: »Moria ist die Europäische Idee«, lässt etwa Jan Ole Arps (ak 663) verlauten. Es ist das sichtbare Exempel europäischer »Flüchtlingspolitik«, ausgelegt auf die Verelendung und Entmenschlichung von Menschen, die an der EU-Außengrenze noch lebendig ankommen. Es ist eine Manifestation der Herrschaftstechniken dessen, was Fabian Georgi »Festungskapitalismus« nennt (ak 634). Er beschreibt damit die auf Abschottung ausgelegte Grenzpolitik des globalen Nordens als zentrales Element für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse.

Das restriktive, europäische Grenzregime gilt der Kontrolle der Mobilität einer Mehrheit der globalen Arbeiter*innenklasse: »Die überwiegende Mehrheit subalterner Bevölkerungen soll in ihren Homelands räumlich fixiert werden, während die Mobilität nützlicher Gruppen in die abgeschotteten Wohlstandszonen durch Pässe, Visa und Grenzen selektiv inwertgesetzt, also profitabel gemacht werden«, so Georgi. Doch die Villa ohne Besenkammer und Dienstmädchenzimmer gibt es nicht: Hier haben im Kapitalismus vor allem Migrant*innen und Geflüchtete ihre Plätze. Die Sicherung vor dem »Außen«, dem Ort, wo produziert wird, vollzieht sich nicht ohne Selektion und Ausdifferenzierung nach »Innen«, wo konsumiert und profitiert wird. Im Zentrum des europäischen Arbeitsmarktes sind rassifizierte Klassenverhältnisse, eine moderne Form der Sklaverei, die profitable Folge für Konzerne und die weißen Mehrheitsgesellschaften. Eine intersektionale Klassenanalyse zu leisten, heißt immer wieder genau hinzuschauen, wie sich ökonomische und gesellschaftliche Diskriminierungen gegenseitig beeinflussen.

Moderne Sklaverei auf dem freien Arbeitsmarkt

Am 3. September vermeldete das Statistische Bundesamt, dass mehr als ein Drittel aller erwerbstätigen Ausländer*innen atypisch beschäftigt seien. Das heißt, mehr als ein Drittel aller Menschen, die ohne deutschen Pass in der BRD leben, sind befristet, in Teilzeit, geringfügig oder als Zeitarbeiter*innen angestellt. Ebenfalls kaum überraschend ist das massive Gefälle zwischen EU- und nicht-EU-Ausländer*innen, das bei der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten besonders deutlich hervortritt: Während annähernd 20 Prozent aller in Teilzeit Beschäftigen Pässe aus dem außereuropäischen Ausland besitzen, sind es bei EU-Ausländer*innen nur knapp 13 Prozent, kaum mehr als es bei Pass-Deutschen sind. Ökonomische Diskriminierung und Ausbeutung rassifizierter Menschen machen dabei nicht vor Pässen Halt: Es ist davon auszugehen, dass BIPoC in allen Bereichen die Mehrheit atypisch Beschäftigter stellen. Ebenfalls bleibt in der Studie die systematisch atypische Arbeit von Sans-Papiers, also von Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel, und von in illegalisierte Arbeitsverhältnisse gezwungenen Refugees unberücksichtigt.

Es sind konkrete Biografien von Menschen, die als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind, an denen sich die rassistische Ausgestaltung einer Arbeitsmarktintegration nachvollziehen lässt. Geschichten, wie die des 24-jährigen Amin (1), der seit vier Jahren in Berlin lebt. Er kommt aus Afghanistan und wuchs im Iran auf. Seine noch lebenden Familienmitglieder haben es nicht nach Europa geschafft. Die Situation afghanischer Geflüchteter in Deutschland ist besonders prekär.

Seinen ersten Ablehnungsbescheid erhält Amin 2017, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine aktuelle Adresse trotz korrekter Meldung nicht ermittelt und er in Folge dessen nicht zum Interview erscheint. Er geht zur Ausländerbehörde, um die Situation aufzuklären und erhält schließlich eine Duldung von sechs Monaten: »Sie haben mich bedroht, ich durfte nicht reden.« Der Behördenmitarbeiter legt Amin einen Stapel Formulare zur sofortigen Unterschrift vor. Darunter ist ein afghanischen Passantrag in persischer Sprache, bereit, um der Botschaft zugestellt zu werden. Hätte Amin das Papier unterschrieben, hätte ihm die Vortäuschung einer akuten Bedrohung, also eines Fluchtgrundes, vorgeworfen werden können, und es wäre zu einer sofortigen Abschiebung gekommen. Um seinen Asylantrag positiv zu beeinflussen und seine Bleibeperspektive zu verbessern, sucht Amin einen Job. Auf diese Weise gelingt es ihm, seine Duldung über eine Arbeitserlaubnis zu verlängern. Er arbeitet von nun an als Bauarbeiter bei einem bekannten Berliner Bauunternehmen, im ersten Monat als unbezahlter Praktikant. Über ein Jahr arbeitet Amin dort, sein Einkommen beträgt knapp 1.000 Euro. Seine Miete in einem Berliner Randbezirk kostet ihn 500 Euro, hinzu kommen Strom- und Heizungskosten, Telefon und Internet. Zu seiner Arbeitsstelle muss er täglich mit der Bahn fahren. Er hat keine Monatskarte, weil ihm eine Abrechnung der Fahrtkosten vom Arbeitgeber in Aussicht gestellt wird. »Ich hatte gar kein Geld zum Essen«, erinnert er sich.

Die Arbeit als Bauarbeiter ist hart. Nach einigen Monaten hat Amin starke Rückenschmerzen und wird krankgeschrieben. Nach nur kurzer Zeit wird ihm unter rechtswidriger Umgehung der Kündigungsfrist fristlos gekündigt. Amin will sich gerichtlich wehren, doch ehemalige Kolleg*innen möchten nicht aussagen aus Angst davor, in dieselbe Situation zu geraten. Amin hat Überstunden im Wert von über 2.000 Euro angehäuft, Fahrkarten über 800 Euro gesammelt. Immer wieder hat er am Wochenende gearbeitet, um von seinem Gehalt überhaupt leben zu können. Das Geld erhält er nie. Stattdessen wirft ihm nun das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten vor, er habe die Stelle mit Absicht verloren und verweigert Sozialleistungen. Ohne familiäres Hilfesystem geraten viele Geflüchtete auf diese Weise in Obdachlosigkeit oder sind gezwungen unsichere Schwarzarbeiten zu verrichten, um ihr Überleben zu sichern. Amin versucht seine Arbeitsperspektiven zu verbessern, indem er einen Führerschein macht. Er findet nach einiger Zeit wieder ein Beschäftigungsverhältnis. Wieder bei einer Baufirma, wieder mit einem unbezahlten einmonatigen Praktikum zu Beginn und der Aussicht auf eine feste Beschäftigung, sofern er sich in der Praktikumsphase zu beweisen weiß. Ansonsten droht ihm weiterhin ein Leben in Arbeitslosigkeit, die seine Bleiberechtsperspektive bedroht.

Junge Geflüchtete müssen sich ausbeuten lassen

Der geflüchtete Aktivist Nurullah (2) berichtet ähnliches. Er ist seit 2015 in Deutschland und in verschiedenen Netzwerken organisiert (3), die geflüchtete Menschen in Europa unterstützen. Oft begleitet er Einzelfälle, denen sonst keiner hilft. Er versorgt sie mit psychologischer Beratung, anwaltlicher Unterstützung und begleitet sie bei Amtsgängen. Er kennt sich gut mit der Situation in Griechenland und Italien aus. Gemessen an der katastrophalen Situation geflüchteter Menschen außerhalb, sei die Situation derer gut, denen eine Registrierung und Antragstellung innerhalb von Camps wie Moria gelinge. Eine Registrierung in den Camps sei gegenwärtig allerdings nahezu unmöglich. Registrierte Geflüchtete erhielten zumindest 150 bis 250 Euro im Monat, um ihr Überleben zu sichern. »Abschiebung ist nicht die Frage, nur das Überleben.« Für alle anderen gebe es wenige Möglichkeiten, ihre Existenz zu sichern. Für viele Frauen sei Sexarbeit die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Für männliche Geflüchtete komme typischerweise Feldarbeit in Frage, für die sie einen Mindestlohn erhalten. Davon bleibe kaum etwas übrig, denn für die Unterbringung in der Farm, für Essensversorgung und Hygiene müssen die Geflüchteten selbst aufkommen. Nach einigen Wochen sind viele bei den Farmern verschuldet.

Nurullah hat zwei Geschwister. Während sein Bruder ebenfalls in Deutschland mit einer Aufenthaltsgenehmigung lebt, wurde seine Schwester in Folge eines unfairen Asylverfahrens abgelehnt und lebt nun mit einer Duldung. Auch sie sucht sich Arbeit um ihre Bleibeperspektive zu verbessern und findet ein dreimonatiges unbezahltes Praktikum, an dessen Ende kein Arbeitsverhältnis zustande kommt. Über zwei Jahre hangelt sie sich von Praktikum zu Praktikum und erhält im besten Fall eine Übungsleiterinnenpauschale. Szenen wie diese seien der allgemeine Standard, berichtet Nurullah. Junge Geflüchtete müssen trotz beruflicher Qualifikationen aus dem Herkunftsland erneut Ausbildungen antreten, an deren Ende eine Übernahme nicht garantiert ist. An den Arbeitsstellen werden sie für Schwerstarbeit eingesetzt und erleben immer wieder teils offen zur Schau gestellten Rassismus von weißen Kolleg*innen.

»Aus Menschen, die grundlegende Rechte geltend machen können sollten, werden im wörtlichen Sinne Asyl-Bewerber*innen«, schreibt Karin Scherschel (PROKLA, Nr. 183). Arbeitgeber*innen nutzen die prekäre Situation und die aufenthaltsrechtliche Abhängigkeit geflüchteter Menschen systematisch aus. Längst ist diese Art irregulärer Beschäftigung ein fester Bestandteil innereuropäischer Arbeitsmärkte. An die Stelle eines menschenrechtlich abgesicherten Rechts auf Asyl rückt ein Arbeitszwang, eine moderne Form der Sklaverei. Wer in Deutschland bleiben möchte, muss sich den rassistischen Bedingungen des deutschen Arbeitsmarktes unterwerfen. Und diesen ist die Ausbeutung geflüchteter Menschen im Speziellen, und migrantisierter Menschen im Allgemeinen, ein integraler Bestandteil.

Tarek Shukrallah

ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in migrantischen bzw. antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-sharing-Plattform mit Blog partizipieren.org.

Anmerkungen:
1) Name geändert.
2) Name geändert.
3) Aus Sicherheitsgründen bleiben die Organisationen unbenannt.