analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 717 | International

Siegergeschichte

Nach Massakern in Suwaida und den Küstenregionen schrumpft die Hoffnung auf ein friedliches Syrien

Von Zain Salam Assaad

Vor einem Gebirge in Syrien ist eine Stadt und eine Minarette zu sehen.
Die HTS verkündete, Syrien vereinen und mit Minderheiten kooperieren zu wollen – die jüngsten Gewaltausbrüche in Suwaida zeichnen ein anderes Bild. Foto: Fahed27 / Pixabay

Die jüngsten Gewaltausbrüche in der Provinz Suwaida im südlichen Syrien markieren einen neuen Abschnitt seit dem Sturz von Baschar al-Assad im Dezember 2024. Dort lebt neben der christlichen und sunnitisch-beduinischen Bevölkerung seit Generationen eine drusische Mehrheit. Was zu Beginn als lokaler Konflikt zwischen Drus*innen und sunnitischen Beduin*innen dargestellt wurde, eskalierte zu einem Bruch mit der neuen Übergangsregierung in Damaskus durch blutige Massaker an drusischen Zivilist*innen und Verbrechen an beduinischen Familien in der Provinz. Suwaida bleibt nun seit knapp einem Monat teilweise von lebenswichtigen Hilfsgütern blockiert. Hunderte, mehrheitlich drusische Zivilist*innen, wurden getötet und nahezu 200.000 Menschen vertrieben.

Das Rebellenbündnis Hay’at Tahrir al-Scham (HTS) hatte am 8. Dezember 2024 die Macht in Syrien übernommen. Das Land stand bis dahin mehr als 50 Jahre unter der Herrschaft der Assad-Familie. Mit dem Sturz Assads gab es eine vorsichtige Hoffnung, dass verschiedene religiöse und ethnische Gruppen die Zukunft des Landes gemeinsam gestalten könnten. Diese Hoffnung schwindet nun.

Wachsende Angst

Jede Kraft, die Syrien regieren will, steht vor großen Herausforderungen: Nach vierzehn Jahren Krieg herrscht weiterhin eine humanitäre Krise, die Verbrechen der letzten Jahre müssen aufgearbeitet werden, und hinzu kommt die Konfrontation mit intervenierenden Mächten. Auch der gesellschaftliche Zusammenhalt angesichts der blutigen Geschichte ist eine große Aufgabe. Obwohl die islamistische HTS sehr früh verkündete, mit den lokalen Vertretungen der ethnischen und religiösen Gruppen vor Ort kooperieren zu wollen, kam der Gewaltausbruch in Suwaida nicht überraschend – die Angst wuchs seit Monaten.

Denn bereits vor dem Gewaltausbruch in Suwaida war es zu Hetzkampagnen gegen Minderheiten gekommen, zur Einschüchterung von HTS-Kritiker*innen, zu Entführungen, willkürlichen Verhaftungen, einer Vereinnahmung der muslimischen und arabischen Identität sowie der vielfältigen sunnitischen Gemeinschaft durch die HTS-Selbstdarstellung, Verharmlosungen der Instrumentalisierung dschihadistischer Ideologien und Verratsvorwürfen.

Schon der Sturz Assads war von einer Offensive der von der Türkei kontrollierten islamistischen Syrischen Nationalarmee (SNA) in Gebieten der Selbstverwaltung von Rojava (AANES) in Nordostsyrien begleitet gewesen. Und im März 2025 hatten sich Kämpfe in der syrischen Küstenregion in Massaker an der mehrheitlich alawitischen Bevölkerung verwandelt. Laut Reuters starben dabei bis zu 1.500 Menschen. Die öffentliche Debatte im Land sowie in weiten Teilen der Diaspora stellt bis heute diese und andere Verbrechen als gerechtfertigte Reaktion auf militante Assad-Anhänger, als Einzelfälle und Vergeltungsakte dar.

Auf lokaler Ebene scheiterte nach nur einem Monat der Versuch, einen Zivilrat in Masyaf in der westlichen Provinz Hama zu gründen. Das geschah aufgrund des Drucks der politischen Verwaltung von Hama und der lokalen Behörden unter indirekter Androhung von Verhaftungen, wie lokale Akteur*innen berichten. Dies knüpft an die bereits existierende Kritik an der ersten Konferenz für Nationalen Dialog im Februar 2025 an: Verschiedene politische Kräfte gaben an, nicht eingeladen bzw. viel zu kurzfristig eingeladen worden zu sein. Andere betonten, dass die diskutierten Inhalte den aktuellen Herausforderungen der verschiedenen Regionen nicht gerecht würden.

Zwischen Schuldzuweisungen

In kürzester Zeit kippte die Stimmung im Süden: Aus vorsichtiger Hoffnung wurde ein sektiererischer und politisierter Konflikt, der sich auf nationaler und regionaler Ebene ausbreitet, bis in die Diaspora. Wie zuvor in der Küstenregion führte der Einsatz von Regierungstruppen in Suwaida, der angeblich der »Wiederherstellung von Sicherheit« dienen sollte, zu gut dokumentierten Menschenrechtsverletzungen: Hinrichtungen, Plünderungen, Entführungen und willkürlicher Gewalt. Videos aus der Stadt zeigen bewaffnete Männer, teils in Uniform, die Opfer verhöhnen, die mit mitgebrachten Scheren drusischen Männern die Schnurrbärte abschneiden und sie demütigen. Drusische unbewaffnete Männer wurden gezwungen, von Balkonen zu springen und erschossen während sie stürzten. Szenen, die erschreckend an das Massaker von 2013 im Damaszener Vorort Tadamon unter Assad erinnern.

Wenig später berichteten Medien von Verbrechen an und einer Vertreibung von beduinischen Familien durch lokale drusische Milizen. Schnell wurde eine Teilblockade über die Provinz verhängt, die von Damaskus klein geredet oder teils geleugnet wird. Internationale Hilfsorganisationen und Journalist*innen berichten jedoch von erschwertem Zugang. Die Lage verschärft sich weiter durch die Dynamiken in der Region: So flog Israel Luftangriffe auf Damaskus und andere Ziele, offiziell zum »Schutz drusischer Zivilist*innen«. Dies wird wiederum benutzt, um die drusische Gemeinde und Kämpfer*innen pauschal als »israelische Agenten« zu diffamieren und die Rolle der Übergangsregierung zu verharmlosen. Doch vereinfachte Darstellungen mit Bezug auf das Verhältnis der beteiligten Akteure zu Israel reichen nicht aus, um die Lage zu verstehen, besonders nicht angesichts der Tatsache, dass die regierenden Kräfte in Damaskus seit dem Sturz Assads eine eher israelfreundliche Politik verfolgen. HTS-nahe Stimmen haben Angriffe Israels in der Region in den letzten Jahren, Monaten und Wochen gefeiert, solange sie als Gewinn gegen eigene Feind*innen gesehen wurden.

»Der Sieger entscheidet«

Die »Siegeskonferenz« der Übergangsregierung am 29. Januar 2025 verkündete das Ende der Assad-Ära und Pläne zur Bildung neuer nationaler Institutionen unter HTS-Chef Ahmed Al-Sharaa (ehemals bekannt als Abu Muhammad al-Dschaulani). Dabei wurden die Verfassung von 2012 außer Kraft gesetzt sowie Armee, Sicherheitsbehörden, Baath-Partei und unter HTS vereinte militante Fraktionen offiziell aufgelöst. Ziel war es, die eigene Macht zu festigen und regionale Unterstützung zu sichern. Zugleich wurden wichtige Akteure wie die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) trotz laufender Verhandlungen ausgeschlossen und eine UN-Vermittlung zurückgewiesen. Das deutete schon früh auf das Bestreben der Übergangsregierung hin, sich vollständig durchzusetzen und auf das damit verbundene Risiko, dass sich politische Spaltungen weiter vertiefen würden.

Seit dem historischen Sturz im Dezember verbreitet sich unter Syrer*innen der Satz »Der Sieger entscheidet« und damit ein neues Narrativ der Herrschaft. Die Logik ähnelt der von Assad-Anhänger*innen: »Assad oder wir brennen das Land nieder.« Sie grenzt ein mehrheitlich bedrohtes »Wir« mit Recht auf Macht von »den Anderen« ab, die pauschal als bedrohliche abweichende Stimmen dargestellt werden, die lediglich von imperialen Interessen getrieben seien. Das »Wir« wird als Syriens Zukunft gezeichnet, »die Anderen« als Hindernis. Diese Rhetorik homogenisiert, mobilisiert und vereinnahmt in verschiedene Richtungen, während es an Prozessen und Ressourcen fehlt, die ein progressives kollektives Narrativ formen könnten. Die Vielfältigkeit der Gesellschaft und Opposition in Syrien werden als Potenzial zur Spaltung dargestellt oder nur durch Feindbilder erklärt. Doch es zeigt sich spätestens jetzt: Weder Assads Panarabismus noch der Islamismus kann die Menschen einen, obwohl das Ende des Assad-Regimes die Chance bot, die Frage nach Einheit und Frieden in Syrien neu zu stellen.

Gespaltene Diaspora

Syrien litt lange unter Assads erzwungener Einheit, die letztlich zur Zersplitterung des Landes führte. Die gewollte Gewaltzentrierung durch den übergeordneten Staat lässt sich nur mittels politischer Verhandlungen durchsetzen, solange die Übergangsregierung selbst ihre eigenen Reihen nicht kontrolliert und weiterhin mit ihren dschihadistischen Ursprüngen zu kämpfen hat.

Durch ihr Vorgehen in den vergangenen Monaten hat die Übergangsregierung nun wichtige potenzielle Verbündete in Suwaida verloren. Sie hat zugelassen, dass gegen ganze Bevölkerungsgruppen online und offline mobilisiert wurde. Das sendet ein klares Signal: Der von Damaskus propagierte Frieden ist kein Frieden für alle. Viele Aktivist*innen und Gemeinschaften, die bereit waren, an einem neuen Syrien mitzuarbeiten, wurden enttäuscht. Das zeigt sich auch an der Spaltung in der Diaspora.

In Deutschland spiegelt die Debatte über Syrien oft orientalistische Muster wider: Selbst eine Ablehnung des Dschihadismus geht oft nicht mit Solidarität mit der Zivilbevölkerung einher. Auf dem Höhepunkt der Gewalt gegen Zivilist*innen in Suwaida und der Küstenregion fokussierten sich Expert*innen mehr darauf, die Vielfalt innerhalb islamistischer Strömungen in Syrien zu analysieren, als auf die verheerende humanitäre Lage, mit der Syrer*innen konfrontiert sind. Geopolitische Analysen können Nachrichten nicht ersetzen. Die Ereignisse seit dem Sturz Assads sind Teil eines größeren Gesamtbildes, zu dem auch das gewalttätige Erbe des Regimes gehört. Gerechtigkeit steht weiterhin aus.

Woran es derzeit fehlt, sind faire und politische Strategien, die sich klar gegen jede Gewalt an Zivilist*innen positionieren und die Angst unter vielen ethnischen und religiösen Gemeinden in Syrien ernst nehmen. Rassistische Diskurse in Deutschland, Abschiebedebatten und Drohungen gegen syrische Minderheiten auf deutschen Straßen dürfen nicht nebensächlich werden und die Bemühungen um eine inklusive politische Lösung für Syrien nicht überschatten. Ohne die echte Beteiligung aller Teile der syrischen Gesellschaft wird Einheit unmöglich bleiben.

Zain Salam Assaad

studiert Global Studies im Master, ist Autor*in und freie*r Journalist*in, geboren und aufgewachsen in Syrien, lebt seit 2016 in Deutschland.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 64 Euro, Sozialpreis 42 Euro) liest du jeden Monat auf 32 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo unterstützen.