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Machtkampf in der Palästinen­sischen Autonomie­behörde

Wer übernimmt Abbas’ Nachfolge in der »ersten Verteidigungslinie der Besatzung«?

Von Maryam C. P.

Ein Plakat zeigt Yasir Arafat und Mahmoud Abbas an einem Tisch.
Plakat aus alten Zeiten: 2003 wurde Mahmoud Abbas (rechts) von Yasir Arafat zum palästinensischen Ministerpräsidenten ernannt. Foto: Al Jazeera English /Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0

Mahmoud Abbas, auch Abu Mazen genannt, befindet sich gesundheitlich auf dem absteigenden Ast. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr, trotz anhaltender Versuche der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), den schlechten gesundheitlichen Zustand des Präsidenten geheim zu halten. Inzwischen wird jedoch auch über die mentale Verfassung des Präsidenten und Vorsitzenden der Fatah Partei gewitzelt.

Auf geleakten Videoaufnahmen eines Parteitreffens im April 2021 ist der 87-Jährige in denkbar unrühmlicher Weise zu sehen, als er erklärt, sowohl China, die USA als auch die arabischen Golfstaaten »könnten ihn mal«. Umso ironischer wirkte diese Entgleisung, da wohl kein anderer palästinensischer Politiker sich je so auf Kosten der eigenen Bevölkerung ausländischen Interessen unterwarf wie Abbas. Angesichts der massiven finanziellen Abhängigkeit von den USA, der EU und den Golfstaaten bemühte sich die PA umgehend um Schadensbegrenzung und behauptete, das Video sei manipuliert.

Die Geschichte von Abbas, sein politischer Auf- und Abstieg, ist aus dekolonialer Perspektive durchaus konsistent. Denn wie palästinensische Journalist*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahren betonen, diente die Schaffung der PA im Zuge der Osloer Abkommen nie der politischen Interessenvertretung der palästinensischen Bevölkerung. Vielmehr wurde eine Struktur geschaffen, die als Subunternehmen des israelischen Militärs fungiert. Insofern ist die zentrale Funktion der PA die Aufstandsbekämpfung innerhalb einer Gesellschaft, die sich bis heute nicht mit ihrer kolonialen Unterdrückung abgefunden hat und die mit massiver Repression, etwa durch die für Folter bekannte Geheimpolizei Preventive Security, unterdrückt wird.

Diktatur unter israelischer Schirmherrschaft

Zum Nachfolger Yasir Arafats wurde Mahmoud Abbas 2004 dementsprechend auch nicht trotz, sondern wegen seiner fehlenden Beliebtheit. Als »moderater« Politiker wurde er auf Druck der israelischen Regierung, der USA und des damaligen ägyptischen Diktators Husni Mubarak zum Präsidenten der PA ernannt. Nachdem die Hamas die Parlamentswahlen 2006 – die letzten ihrer Art – in den seit 1967 militärisch besetzten Teilen Palästinas (nachfolgend: besetzte Gebiete) gewann, führte die Entscheidung der Fatah, das Ergebnis mit Unterstützung der israelischen Regierung, der USA und der EU gewaltsam zu kippen, zu einem kurzen Bürgerkrieg und einem verhängnisvollen Bruch zwischen der Westbank und Gaza, der bis heute anhält. Seitdem verhindert die PA Parlaments- und Präsidialwahlen in der Westbank. Abbas, der bereits 2009 hätte abtreten müssen, konsolidierte in über 18 Jahren mit Hilfe von Notstandsgesetzen ein System, das die Unabhängigkeit der Justiz und der Legislative untergräbt. Höhepunkt dieser Entwicklung war 2018 die Auflösung des Parlaments durch Abbas.

Populäre Oppositionelle der linken und islamischen Parteien lässt Abbas entweder selbst verhaften oder mit Hilfe der von ihm als »heilig« bezeichneten Sicherheitskooperation mit dem israelischen Militär aus dem Weg räumen. So ist es in der palästinensischen Linken kein Geheimnis, dass Khalida Jarrar, Abgeordnete für die linke PFLP, nicht zuletzt deswegen seit Jahren regelmäßig in israelischer Administrativhaft – das heißt ohne Anklage und das Recht auf ein Verfahren – festgehalten wird, weil sie eine der wenigen Politiker*innen ist, die offen die PA-Führung kritisiert. Bisan*, eine Journalistin und Menschenrechtsaktivistin aus Nablus, erklärt: »Khalida Jarrar gehört innerhalb ihrer Partei nicht zum militanten Flügel, das weiß auch der israelische Geheimdienst. Ein entscheidender Grund dafür, dass sie seit Jahren mit Inhaftierungen zermürbt wird, ist, dass sie gegen Abbas aufgestanden ist. Als Subunternehmen kann die PA derlei Gefallen vom israelischen Militär einfordern, das seinerseits ein Interesse hat, diejenigen ruhig zu stellen, die die Kollaboration der PA offen in Frage stellen.«

Die Entscheidung über das höchste politische Amt in den besetzten Gebieten wird nicht an den Wahlurnen, sondern maßgeblich nach regionalen und internationalen Interessen getroffen.

Auch die Erschießung von linken, unabhängigen Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen wie Basel Al Arraj, der 2017 mit Hilfe der Preventive Security vom israelischen Militär gefunden wurde, kam der PA gelegen. Denn Al Arraj gehörte zur Generation Oppositioneller, die die PA offen als erste Verteidigungslinie der Besatzung benennen. Vor allem von jungen Palästinenser*innen wird er als wichtige intellektuelle Figur des palästinensischen Widerstands erinnert.

Abbas’ Anstrengungen, eine Mini-Diktatur in der Westbank unter der Schirmherrschaft Israels einzurichten, stößt jedoch auf kontinuierlichen Widerstand. Die Proteste gegen die PA in der Westbank intensivierten sich im Sommer 2021 nach der Ermordung des Journalisten Nizar Banat. Im September 2022 flammten Proteste vor allem in Nablus und Jenin erneut auf, bei denen sich Demonstrant*innen den Sicherheitskräften der PA auf der Straße entgegenstellten, nachdem diese eine Reihe junger Aktivisten verhaftet hatten. Laut des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) fordern rund 80 Prozent der Bevölkerung in den besetzten Gebieten Abbas’ Rücktritt.

Wie wird der Machtwechsel ablaufen?

Seit im Juni Gerüchte über ein baldiges Ableben Abbas’ wieder laut wurden, ist die Debatte um dessen Nachfolge erneut aktuell. Sami*, seit über 20 Jahren Fatah-Mitglied und Politikanalyst aus Bethlehem, erklärt die kafkaesken Rahmenbedingungen des bevorstehenden Machtwechsels: »Grundsätzlich gibt es drei entscheidende Faktoren: Zum einen die Bevölkerung in Gaza und Westbank. Diese würde nicht akzeptieren, dass ein Kandidat gegen den Willen der überwiegenden Mehrheit einfach eingesetzt und damit der Übergang von autoritärer Herrschaft zur Diktatur besiegelt würde. Die Proteste, die das auslösen würde, wären nicht einfach einzudämmen. Das weiß auch die PA-Führung. Der zweite zentrale Faktor sind die Interessen des israelischen Staates. Wer als ›Sicherheitsproblem‹ wahrgenommen wird, also als Gegner der Sicherheitskoordination, oder als zu ›radikal‹ in grundsätzlichen Fragen gilt, würde entweder bereits im Vorfeld in Administrativhaft gesteckt, oder es würde Druck auf die PA aufgebaut, sie aus dem Rennen zu nehmen. Der dritte Faktor ist die internationale Gemeinschaft, wobei hier der westliche Teil in der Regel die Perspektive und die sogenannten Sicherheitsbedenken Israels teilt. Die regionalen Großmächte, vor allem Ägypten und die Golfstaaten, haben jedoch eigene Interessen und einen nicht unwesentlichen Einfluss. Nur wer es schafft, alle drei Faktoren zu bedienen, hat eine reelle Chance.«

Samis Analyse zeigt, wie normalisiert ein hierzulande nicht vorstellbarer Zustand ist; die Tatsache, dass die Entscheidung über das höchste politische Amt in den besetzten Gebieten nicht an den Wahlurnen, sondern maßgeblich nach regionalen und internationalen Interessen getroffen wird. Denn die in freien Präsidentschaftswahlen aussichtsreichsten Kandidat*innen der linken und islamischen Parteien sind vom demokratischen Prozess ausgeschlossen. Ihre Führungsriege wurde entweder vom israelischen Militär in extralegalen Tötungen erschossen (1), muss im Falle eines Wahlsieges mit Inhaftierung rechnen oder sitzt bereits als politische Gefangene in israelischen Gefängnissen.

Sollte sich die PA nach fast zwei Jahrzehnten verhinderter Wahlen nun doch gezwungen sehen, Präsidentschaftswahlen auszurufen, stünden die Menschen vor einer Scheinwahl, in der sie aus denjenigen auswählen dürften, die als Favoriten israelischer und regionaler Interessen deren Vorauswahl überstanden haben. Gleichzeitig zeigen Meinungsumfragen des PCPSR aus den letzten Jahren, dass Marwan Barghouti, der zum linken Flügel der Fatah gehört und sich seit 2002 in israelischer Haft befindet, bei freien Präsidentschaftswahlen in den besetzten Gebieten mit rund 35 Prozent wahrscheinlich mit großem Abstand gewinnen würde.

Die PA-Führung unter Abbas, Nutznießer im System indirekter Herrschaft, kennt die Spielregeln und setzt dementsprechend auf Kandidaten aus ihrem eigenen Repressionsapparat. Da die israelischen Interessen der einflussreichste Faktor in dieser Matrix sind, haben jene Kandidaten die besten Aussichten, die in der Lage sind, exklusive Beziehungen zur israelischen Militärverwaltung aufrechtzuerhalten.

Die aussichtsreichsten Kandidaten

Kein anderer meistert dieses Spiel so wie der ehemalige Chef der Preventive Security, Hussein Al Sheikh, Abbas’ rechte Hand. Als Leiter der PA, die die israelischen Genehmigungen für das Übertreten der Checkpoints koordiniert, sichern ihm seine engen Kontakte zu hochrangigen israelischen Militärs und Geheimdienstler*innen eine zentrale Machtposition in der PA.

Denn Palästinenser*innen aus der Westbank und Gaza können sich aus den militärisch besetzten Enklaven nicht heraus bewegen, ohne hierfür Passierscheine (auf Arabisch tasrih) vom israelischen Militär zu haben. Wer also in diesem von Menschenrechtsorganisationen als Apartheid bezeichneten System (2) außerhalb dieser Enklaven ins Krankenhaus oder zur Arbeit muss, seine Familie und Freund*innen sehen oder einfach nur das Recht wahrnehmen möchte, sich wie israelische Siedler*innen frei im Gesamtgebiet Israel/Palästina zu bewegen, kann dies nur mit grünem Licht des israelischen Militärs. Al Sheikh verfügt so über die Macht, relative Bewegungsfreiheit zu ermöglichen.

Der 55-Jährige ist neben seinen intimen Beziehungen zur Besatzungsmacht auch für sexualisierte Übergriffe bekannt. Palästinensische Frauen, die er in sexuelle Beziehungen nötigte, erhalten von ihm oft eine tasrih als Kompensation. Hana*, die in einer Marketingfirma in Ramallah arbeitet, ist eine der Wenigen, die bereit ist, über dieses Thema zu sprechen. »Meine Arbeitskollegin hatte mit Anfang 20 eine Affäre mit Hussein Al Sheikh. Obwohl dieses Wort eigentlich nicht stimmt, denn es suggeriert Freiwilligkeit. Aber sie hat jetzt ein Leben. Während wir in unserem eigenen Land hinter Checkpoints eingesperrt sind, kann sie jedes Wochenende nach Haifa ans Meer fahren. Ich verurteile sie nicht.«

Im Mai machte Abbas seinen Schützling zum Generalsekretär des Exekutivkomitees der PLO sowie zum Hauptansprechpartner für westliche Diplomat*innen. Al Sheikhs Schwäche ist jedoch seine fehlende Beliebtheit in der Bevölkerung. Für seine Rolle in dem System, das die Unterdrückung der Menschen vor Ort verantwortet, ist er verhasst. Weitere Kandidaten aus dem Repressionsapparat der PA sind Majd Farraj, der Chef der Geheimdienste, und Jibril Rayoub, ehemaliger Chef der Preventive Security. Beide sind in der Bevölkerung kaum weniger verhasst als Al Sheikh.

Obgleich ein rotes Tuch für die PA-Führung, wurde auch Mohammed Dahlan, ein Abtrünniger des Abbas-Regimes, mehrfach, zuletzt vom ehemaligen Botschafter der USA in Israel, David Friedmann, ins Spiel gebracht. Dahlan setzte sich 2012 in die Vereinigten Arabischen Emirate ab und mischt seither von dort als enger Berater des Königshauses im politischen Geschehen der Region mit. Er pflegt enge Kontakte zu hochrangigen Politiker*innen in Katar, Israel und den USA und gilt als einer der Architekten des sogenannten »Deal of the Century« der Trump-Ära, mit dem 2019 die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Diktaturen im Golf und der israelischen Regierung eingeleitet wurde. Seine Beziehungen zum ägyptischen Geheimdienst sichern ihm zudem Einfluss am Grenzübergang zu Gaza, wo er als ehemaliger Chef der Preventive Security wie kein anderer für Verfolgung und systematische Folter von Mitgliedern der islamischen Parteien bekannt ist.

In freien Wahlen hätten weder Dahlan noch Al Sheikh eine Chance, da sie von der Mehrheit der Palästinenser*innen zutiefst verachtet werden. Es ist jedoch möglich, dass die PA nach Abbas’ Ableben weiterhin Gründe für die Verhinderung von Wahlen finden wird. Dabei kann sie davon ausgehen, dass ihre westlichen Geldgeber*innen ihr diese nicht aufzwingen werden, sondern es bevorzugen, auch ohne Wahlen weiter den Sicherheitsapparat sowie sogenannte »Good-Governance«- oder »Peace-building«-Projekte zu finanzieren.

Ob Scheinwahlen oder eine Fortführung des Status quo unter der jetzigen PA-Führung – in beiden Fällen wird Palästinenser*innen ein echter demokratischer Prozess verweigert. Allerdings wird der vom Westen finanzierte Status quo durch die Aufstände einer Bevölkerung in Frage gestellt, die sich wie andere Gesellschaften überall auf der Welt gegen (neo-)koloniale Gewalt und ihre lokalen Stellvertreter*innen wehrt.

Maryam C. P.

forscht und arbeitet als Politologin zwischen Palästina und Berlin.

* Zum Schutz der interviewten Personen wurden alle Namen im Text geändert.

Anmerkungen:

1) Zu den extralegalen Tötungen siehe das Buch von Ronen Bergman: Rise and Kill First: The Secret History of Israel’s Targeted Assassinations. Random House 2018.

2) Übersicht über Organisationen, die den Apartheid-Begriff verwenden: togetheragainstapartheid.org/whos-calling-it-apartheid