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Geteilte Solidarität wird nicht kleiner

Durch die mediale Omnipräsenz des Ukrainekriegs ist das Elend im Jemen vollständig aus unserer Wahrnehmung verschwunden

Von Jakob Reimann

Man sieht ein zerstörtes Gebäude vor blauem Himmel, vor dem ein Soldat steht.
Ein saudischer Soldat vor einem zerstörten Gebäude in Aden. Foto: AHMED FARWAN / Flickr, CC BY-SA 2.0

Im Jemen wurde Anfang April eine von der UN verhandelte Waffenruhe eingesetzt, die seitdem zweimal um je zwei Monate verlängert wurde und durch die die Gewalt im Land spürbar zurückgegangen ist. Im Sommer kam es in weiten Teilen des Landes zu verheerenden Sturzfluten, die insbesondere in den Lagern für Binnengeflüchtete wüteten; fast 100 Personen starben, und mehr als 51.000 Haushalte waren betroffen. In den letzten Wochen ereigneten sich in Schabwah und Ma’rib im Zentrum sowie im Süden des Landes blutige Kämpfe zwischen verschiedenen Konfliktparteien mit einer Vielzahl von Toten.

Hand aufs Herz: Wer wusste von diesen Ereignissen? Oder von dem dreijährigen Jungen, der im Juli durch Artilleriebeschuss eines Spielplatzes in Ta’iz getötet wurde? Oder von den in weiten Teilen des Landes anhaltenden Streiks von Lehrer*innen, die für die Auszahlung ihrer oft seit Monaten einbehaltenen Gehälter protestieren? Ein Lehrer aus Aden berichtete mir, er verdiene das Äquivalent von drei US-Dollar pro Monat. In linken Medien der deutschsprachigen Medienlandschaft wird durchaus über Entwicklungen im Jemen berichtet. In der bürgerlichen Presse hat er hingegen mittlerweile mehrheitlich den Status von Kriegen und Konflikten in Subsahara-Afrika eingenommen: nämlich überhaupt keinen. War das Medieninteresse am seit siebeneinhalb Jahren wütenden Krieg schon immer marginal, geht die Jemen-Berichterstattung in den großen Pressehäusern mittlerweile kaum mehr über vereinzelte, von dpa übernommene Kurzmeldungen hinaus.

Die Begründung für dieses Medienphänomen ist auch in einem anderen Krieg zu suchen, dem wichtigen in Europa, bei dem Menschen sterben, die meistens so aussehen wie »wir« – oder zumindest wie ich, der zur weißen Mehrheitsgesellschaft in diesem Land gehört. Über sieben Millionen vor dem Krieg in der Ukraine fliehende Menschen wurden seit Ende Februar in Europa aufgenommen, während Tausende verzweifelte Menschen in der Hölle von Moria festsitzen oder die Ampel unmenschliche Abschiebungen nach Pakistan exekutiert, wo wegen des heftigsten Monsunregens seit Jahrzehnten ein Drittel des Landes unter Wasser steht und über 1.300 Menschen gestorben sind.

Die »schlimmste humanitäre Krise der Welt«

Auch in linken Kreisen wird angesichts der extremen Ungleichbehandlung von Geflüchteten aus der Ukraine einerseits und solchen aus Afrika sowie West- und Zentralasien andererseits vielfach die eindimensionale Begründung herangezogen, dies beruhe auf dem weitverbreiteten Rassismus innerhalb westlicher Gesellschaften und ihrer herrschenden Klassen. Keine Frage: Der auch von Politiker*innen und Medienschaffenden in diesem Kontext geäußerte kulturchauvinistische Rassismus ist eine zentrale Ursache. Doch der wesentliche Unterschied zwischen der aktuellen und anderen Geflüchtetenbewegungen ist, dass diesmal Menschen aus einem nominal mit »dem Westen« verbündeten Staat fliehen, erklärte der marxistische Publizist und Völkerrechtler Freerk Huisken kürzlich im Interview mit dem Podcast 99 zu EINS.

Das Leid der verzweifelten Menschen aus der Ukraine kann politisch und medial im Sinne westlicher Interessen instrumentalisiert werden: Sie dienen als lebende Zeugnisse der Barbarei des geopolitischen Hauptgegners in Moskau. Wie sollten demgegenüber die Millionen Geflüchteten aus dem Jemen, deren Krankenhäuser, Schulen und Moscheen von deutschen Waffen pulverisiert werden, schon medial instrumentalisiert werden? Statt dem Krieg in der Ukraine mit zivilen, humanitären und diplomatischen Ambitionen zu begegnen – woran die Ampelkoalition kein Interesse hat –, heißt es im politischen Berlin im Grunde unisono, Unterstützung der Ukraine müsse vor allem im Militärischen liegen, in Form von Waffenlieferungen, Verschiebung von Nato-Truppen und schwerem Gerät nach Osteuropa, durch irrsinnige Hochrüstung der Bundeswehr – und vor allem: »unsere« ungeteilte Empathie und Aufmerksamkeit. Wir leiden kollektiv mit den 44 Millionen geschundenen Ukrainer*innen, was gut ist; nur für die Opfer all der anderen Konflikte auf diesem Globus bleibt kein Platz mehr.

Seit nunmehr siebeneinhalb Jahren wütet im Jemen ein Krieg, der laut UN die »schlimmste humanitäre Krise der Welt« hervorgebracht hat. Seit März 2015 bombardiert eine Koalition unter Führung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate Menschen und zivile Infrastruktur unter dem Vorwand, den Aufstand der sogenannten Houthis zurückzuschlagen, die von ihnen eroberten Landesteile zurückzuerobern und die Regierung des von den Rebellen ins saudische Exil getriebenen illegitimen »Präsidenten« Hadi wieder an die Macht zu bringen. Dem in erster Linie mit Waffen aus dem Westen geführten Krieg sind mittlerweile rund 400.000 Menschen zum Opfer gefallen – 70 Prozent aller Toten sind Kinder unter fünf Jahren. Seit Jahren hat der Krieg mittlerweile die Natur eines Abnutzungs- und Zermürbungskriegs angenommen mit nur marginalen Frontverschiebungen; auf beiden Seiten ist der Wille nach einem gesichtswahrenden Ausweg daher durchaus vorhanden.

Dem in erster Linie mit Waffen aus dem Westen geführten Krieg sind mittlerweile rund 400.000 Menschen zum Opfer gefallen – 70 Prozent aller Toten sind Kinder unter fünf Jahren.

Nach intensiven Verhandlungen trat dann am 2. April dieses Jahres eine vom UN-Sondergesandten für den Jemen, dem schwedischen Diplomaten Hans Grundberg, vermittelte Waffenruhe in Kraft. Diese wurde im Juni und August um je zwei weitere Monate verlängert, wodurch seit Kriegsbeginn die längste Ära einer zumindest in Worten bestehenden Feuerpause erwirkt wurde. Die Gewalt wurde keineswegs eingestellt, doch ist sie in der Tat zurückgegangen. So ergeben die aktuellsten Daten des Yemen Data Project (YDP) für die Monate April bis Juli, dass die Saudi-Emirate-Koalition in dem Viermonatszeitraum keinen Luftschlag gegen das Land ausführte, wobei Drohnenschläge vom YDP nicht dokumentiert werden.

Anders der internationale Kriegsmonitor ACLED, nach dessen Zahlen die Koalition seit Beginn der Waffenruhe 192 Drohnenschläge hauptsächlich im Südwesten des Landes ausgeführt hat. Insgesamt seien laut ACLED seit Beginn der Waffenruhe 354 Menschen durch direkte Waffengewalt getötet worden; nach Angaben der UN vom Anfang August kam es in dieser Zeit hingegen immerhin zu einer Abnahme ziviler Toter um 60 Prozent und einer Halbierung der Vertriebenenzahlen. Insgesamt hat ACLED von sämtlichen Kriegsakteuren über 2.000 Verletzungen der Feuerpause seit April dokumentiert. Rund drei Viertel davon fallen in die Kategorie Mörser- und Artillerieangriffe, die meisten davon im Nordwesten des Landes, der Hochburg der Houthis, sowie daran angrenzend im unmittelbaren Grenzgebiet zu Saudi-Arabien.

Ein weiterer Hotspot der Gewalt ist das Ma’rib-Gouvernement, wo es neben Artilleriebeschuss auch knapp 70 direkte Zusammenstöße von Bodentruppen gab. Die spärlichen, doch vorhandenen Öl- und Gasquellen des Jemen liegen in dieser Region. Ma’rib ist die einzige Großstadt im Zentrum und Norden des Landes, die sich nicht unter Kontrolle der Houthis, sondern zur Hadi-»Regierung« loyaler Truppen befindet, weshalb die Rebellen vor anderthalb Jahren eine Offensive zur Eroberung der Region initiierten. Dieser Feldzug könnte womöglich kriegsentscheidend sein. Sollte den Houthis die Eroberung Ma’ribs gelingen, wären neben der Hauptstadt Sana’a und Hodeida, der mit Abstand umschlagsstärksten Hafenstadt des Landes, die drei wichtigsten Wirtschaftszentren unter Kontrolle der Rebellen. Dadurch würde die ökonomische Machtbalance in dem wirtschaftlich am Boden liegenden Land deutlich zugunsten der Houthis verschoben, was die vom Westen unterstützte Hadi-»Regierung« an den Verhandlungstisch zwingen würde.

Kriegsmüde Bevölkerung

Für die Entwicklungen im Jemen im nächsten halben Jahr scheint dieses militärische Szenario gegenwärtig bedauerlicherweise das realistischere zu sein. Mit dem militärischen Vorteil auf ihrer Seite haben die Houthis kaum Anreize, sich für den Gewinn eines Friedens auf substanzielle Konzessionen einzulassen. Und auch die Saudi-Emirate-Koalition ist genau wie die Hadi-»Regierung«, die sie unterstützt, auch nach Jahren der militärischen Demütigung durch eine schlecht ausgerüstete Rebellengruppe dermaßen in Logik und Rhetorik des Krieges gefangen, dass ein gesichtswahrender Verhandlungsfrieden nur schwer denkbar ist. Umso mehr muss der Fokus auf den UN-vermittelten Friedensprozess um dem Sondergesandten Hans Grundberg liegen.

Die Menschen im Jemen sind kriegsmüde, niemand hier will diesen von außen aufgezwungenen Krieg, hat das ärmste Land der arabischen Welt neben der direkten Waffengewalt doch vor allem unter den todbringenden Folgeerscheinungen des Krieges zu leiden: die historische Hungersnot, das nahezu vollständig von saudischen Bombern zerstörte Gesundheitssystem, der größte je dokumentierte Choleraausbruch der Menschheit und andere grassierende Epidemien wie Dengue oder Malaria – all diese Phänomene sind keine »Kollateralschäden«, sondern werden von der Saudi-Emirate-Koalition mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Westen vorsätzlich als Kriegswaffen eingesetzt. Jahrelange Bombardements ziviler Infrastruktur und der spärlichen Industrie ließen die Wirtschaft des Landes kollabieren; der freie Fall des Jemen-Rial hat die Kaufkraft der Menschen in Luft aufgelöst. Al Jazeera berichtete, wie Menschen in Hodeida auf Mülldeponien nach Nahrung suchen, Verdorbenes essen. Das World Food Programme der UN dokumentiert, wie Familien in Hajjah im Nordjemen die bitteren, schlecht verdaulichen Blätter des lokalen Halas-Baumes essen um zu überleben.

Es ist vielen Menschen hierzulande hoch anzurechnen, dass sie Solidarität und Empathie mit den unter dem russischen Angriffskrieg leidenden Ukrainer*innen aufbringen, dass sie Säcke voll Zahnbürsten, Seife und Kinderspielzeug zu den Geflüchteteneinrichtungen an den Hauptbahnhöfen bringen, dass sie geflüchtete Familien bei sich zu Hause aufnehmen. Doch Solidarität wird nicht kleiner, wenn man sie teilt, sondern aufrichtiger.

Jakob Reimann

schreibt in verschiedenen linken Medien über Kriege und Konflikte in Westasien und Nordafrika und die gesellschaftlichen Kämpfe in der Region. Zusammen mit Jules El-Khatib ist er Co-Chefredakteur des linken Online-Portals Die Freiheitsliebe.