Konjunkturprogramm für rechts
Über künftiges Regierungshandeln geben Koalitionsverträge nur begrenzt Auskunft, aber sie sind Wegweiser – wohin weist der von Union und SPD?
Von Nelli Tügel

Für das, was ihr wollt, müsst ihr nicht die AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU.« Mit diesen Worten brachte Anfang Januar die inzwischen zur Bundestagspräsidentin aufgestiegene Ex-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner erfrischend ehrlich auf den Punkt, was Kern des wenig später im Bundestag aufgeführten Brandmauer-Schmierentheaters sein sollte: Die sich selbst gern so bezeichnenden »demokratischen Parteien der Mitte« ächten die extreme Rechte zwar noch formal (und wer ausschert und kurz nicht mehr mitächtet, wie Friedrich Merz Ende Januar, wird dafür gescholten), doch nicht wegen programmatischer Inhalte. Denn von denen haben die »demokratischen Parteien der Mitte« das meiste ja längst in ihre eigenen Programme und ihre eigene politische Sprache übernommen.
Weil das ebenso für die Sozialdemokratie gilt, mutet es aus Sicht von deren Führungspersonal auch nicht seltsam an, dass ihr Fraktionsführer, Rolf Mützenich, noch Ende Januar Merz erschüttert zugerufen hatte, dieser habe mit seinem Ausländer-Raus-Antrag im Parlament das »Tor zu Hölle geöffnet« und nun, wenige Wochen später, wesentliche Inhalte dieses Antrags Teil der Koalitionsvereinbarung von Union und SPD geworden sind. Mützenich meinte mit der Hölle nämlich gar nicht die weitere Entrechtung von Migrant*innen – er meinte, dass die Hölle sei, so etwas mit Stimmen der AfD beschließen zu lassen, statt es eben hübsch »unter Demokraten« zu regeln.
Jetzt haben sie geregelt, die Demokrat*innen. Ein 144 Seiten langer Textbrei mit dem Titel »Verantwortung für Deutschland«, und die Ankündigung, Anfang Mai eine Regierung zu bilden, sind das Ergebnis. Da es neuerdings (seit der Vorstellung des Koalitionsvertrages der Ampel 2021, um genau zu sein) ein irritierend starkes öffentliches Interesse an diesem Textgenre gibt, sei kurz erwähnt: Um einen Vertrag handelt es sich bei einem sogenannten Koalitionsvertrag keineswegs, sondern um eine Zusammenstellung von Absichtserklärungen, von denen nur manche Realität werden. Über die Maßnahmen einer künftigen Regierung gibt er nur begrenzt Auskunft. Die folgenreichsten Eingriffe in den Sozialstaat der vergangenen Jahrzehnte etwa, die Agenda 2010, kündigten SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag seinerzeit ebenso wenig an, wie sich 2009 anhand eines Koalitionsvertrags vorhersehen ließ, dass Union und FDP wenig später Griechenland ein Spardiktat auferlegen würden, oder 2021, dass wenig später ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr geschnürt werden würde. Auch die kürzlich noch vom alten Bundestag vorgenommene Grundgesetzänderung, mit der die Aufrüstung von der Schuldenbremse ausgenommen wurde, stand nie in einem Koalitionsvertrag. Anders als sehr viele Maßnahmen, wie etwa eine Kindergrundsicherung oder die Krankenversicherung für Saisonarbeiter*innen, die nie umgesetzt wurden. Papier ist geduldiger als Geschichte.
Mützenich meinte mit der Hölle gar nicht die weitere Entrechtung von Migrant*innen – er meinte, dass die Hölle sei, so etwas mit Stimmen der AfD beschließen zu lassen, statt es eben hübsch »unter Demokraten« zu regeln. Jetzt haben sie geregelt.
Nichtsdestoweniger sind solche Papiere eine Art Wegweiser. Und das am 9. April von Union und SPD vorgestellte Papier weist, um Mützenich erneut zu zitieren, auch wenn er es ganz anders meinte, in Richtung Hölle, vor allem für jene, die ohnehin weit unten in der Gesellschaft stehen und an deren Rechten, Zukunftschancen und Menschenwürde schon von der vorherigen Regierung ständig herumgeschnitten worden war: Migrant*innen, Bürgergeldempfänger*innen und junge Menschen. Die künftige Regierung kündigt in ihrem Papier an, zum alten Hartz-System zurückzukehren (das Ganze soll dann »Grundsicherung für Arbeitssuchende« heißen), eine weitere »Abschiebe-Offensive« zu starten, ausdrücklich auch nach Afghanistan und Syrien, den ohnehin beschränkten Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus für zwei Jahre komplett auszusetzen, die Zahl der »sicheren Herkunftsländer« massiv auszuweiten und den Rechtsschutz für Asylsuchende, also ihre Möglichkeiten, gegen Asylentscheidungen rechtlich vorzugehen, einzuschränken. Das Lieferkettengesetz soll wieder abgeschafft werden. Die Klimakatastrophe ist ein Problem unter ferner liefen. Es sollen – zunächst (!) – ein Wehrdienst nach schwedischem Modell (freiwillig) eingeführt und Überwachungsbefugnisse für Sicherheitsbehörden ausgebaut werden.
Um auch Klöckner ein zweites Mal zu zitieren: »Für das, was ihr wollt, müsst ihr nicht die AfD wählen.« Nun, das ist zwar einerseits, rein auf das Wahlprogramm geblickt, wahr, aber andererseits ist ja der Witz an der Sache: Dass Wähler*innen der AfD seit Jahren erleben, dass Druck von rechts auch die anderen Parteien immer rechter macht und Ergebnisse bringt, motiviert sie (und weitere) natürlich, die AfD erst recht zu wählen. Denn die hat ja geliefert, und sie soll in den Augen ihrer Anhänger*innen weiter und noch viel mehr liefern. Die Versprechen der künftigen Koalition sind daher auch ein erneutes Konjunkturprogramm für die extreme Rechte. Und weil sich das schon ankündigte, hatte die AfD just am Tag der Vorstellung des »Koalitionsvertrags« in bundesweiten Umfragen erstmals die CDU überholt – als stärkste Kraft.