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Kerker in Budapest

Antifa-Prozess: Wie deutsche Behörden von ungarischen Verhältnissen profitieren

Von Carina Book

Demonstration in Mailand, die die Freilassung von Ilaria S. fordert. Foto: picture alliance / ROPI | Meroni/UnioneSarda/ROPI

Die guten Nachrichten, die am 13. Februar aus Mailand kamen, dürften in drei Gefängniszellen verhaltene Hoffnung geweckt haben: Der 23-jährige Gabriele M. aus Italien soll vorerst nicht nach Ungarn ausgeliefert werden. M. war am 22. November 2023 aufgrund eines europäischen Haftbefehls festgenommen worden. Die ungarischen Behörden werfen ihm die Beteiligung an zwei Angriffen auf Neonazis im Zusammenhang mit dem »Tag der Ehre« in Budapest im Februar 2023 vor.

Nun lehnte das Berufungsgericht Mailand eine Auslieferung nach Ungarn ab. Stattdessen soll M. längstens bis zum 18. Mai im Hausarrest in Italien bleiben. Der Staatsanwalt Giulio Benedetti, der genau wie M.s Anwälte die Auslieferung ablehnte, sagte vor Gericht: »Ungarn hat keine ausreichenden Garantien für die Achtung der Menschenrechte im Gefängnis gegeben.«

Eine wichtige Feststellung mit Blick auf die bereits seit einem Jahr in Ungarn inhaftierte Italienerin Ilaria S. und für Maja T. aus Deutschland, derzeit in Isolationshaft in der JVA Dresden.

Die unter fragwürdigen Bedingungen vor Ort erlangten Erkenntnisse werden sogar in Verfahren in Deutschland eingebracht.

Das Gericht in Mailand wird nun mit dem ungarischen Justizministerium darüber beraten, welche Alternativen zur Auslieferung bestehen. Auf dieser Grundlage könnte ein neuer Versuch gemacht werden, auch für Ilaria S. Hausarrest in Italien zu erreichen. Nachdem S. bei einer Vorverhandlung im rechtsautoritären Ungarn am 29. Januar in Ketten gelegt und eskortiert von Beamten in Tarnanzügen und Sturmhauben in den Gerichtssaal geführt worden war, entbrannte in Italien öffentliche Entrüstung.

Die Bilder der 39-jährigen Italienerin schlugen auch auf diplomatischer Ebene so hohe Wellen, dass sich selbst die extrem rechte italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in einem Gespräch mit ihrem ungarischen Kollegen Viktor Orbán für eine menschenwürdige Behandlung der Gefangenen S. einsetzte. Der italienische Außenminister Antonio Tajani bestellte den ungarischen Botschafter ein, und auch Justizminister Carlo Nordio forderte Ungarn auf, die Rechte von S. zu wahren und die Haftbedingungen zu überprüfen. Zwar wollten die Minister den Antrag von S.’ Anwälten und ihrem Vater, sie in den Hausarrest nach Italien zu verlegen, nicht unterstützen, aber immerhin rotieren in Italien die höchsten diplomatischen Ebenen in den Fällen Ilaria S. und Gabriele M.

Guantanamo-mäßig lagert Deutschland einen Teil seiner Rechtsverfolgung aus.

Sven Richwin

Ganz anders in Deutschland: Der deutsche Tobias E. sitzt wie Ilaria S. bereits seit einem Jahr in ungarischer Haft. Außerdem wartet Maja T. auf die Entscheidung des Kammergerichts in Berlin, ob aufgrund des internationalen Haftbefehls aus Ungarn ein Auslieferungshaftbefehl erlassen wird.

Doch hier in Deutschland, wo man sich schon mehrfach auf EU-Ebene Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit angeschlossen hat, rührt sich im Außenministerium überhaupt nichts. Stattdessen nutzt Deutschland die vermeintlichen Ermittlungsergebnisse der – wegen unzureichender Rechtsstaatlichkeit gescholtenen – ungarischen Behörden für eigene Interessen aus, berichtet Sven Richwin, der gemeinsam mit Maik Elster die Verteidigung von Maja T. übernommen hat: »Guantanamo-mäßig lagert Deutschland damit einen Teil seiner Rechtsverfolgung aus, ohne an hiesige rechtsstaatliche Grundsätze gebunden zu sein.«

Wie der Strafverteidiger von Maja T. berichtet, wollte das deutsche Konsulat in Ungarn nicht einmal seine Erkenntnisse über die dortigen Haftbedingungen teilen. Die unter fragwürdigen Bedingungen vor Ort erlangten Erkenntnisse werden sogar in Verfahren in Deutschland eingebracht. »Die deutschen Ermittler versuchen, auch Vernehmungen von inhaftierten Deutschen in Ungarn durchzuführen«, so Richwin.

Unmenschliche Haftbedingungen

Besonders perfide erscheint dies vor dem Hintergrund der Bedingungen in der ungarischen Untersuchungshaft. »Während in Deutschland immer noch die Prämisse der Unschuldsvermutung gilt, dient die Untersuchungshaft in Ungarn vor allem dazu, die Gefangenen einzuschüchtern und schnelle Geständnisse zu erreichen. Bereits Mitteilungen über die eigenen Haftbedingungen sind sanktionsbedroht. Dennoch zeichnen die Berichte von Menschenrechtsgruppen und Gefangenen ein desaströses Bild der Haftbedingungen. Von Überbelegungen bis zu mangelnder Versorgung und schikanösen Behandlungen sind die Menschenrechtsverstöße eklatant«, so Richwin.

Das verdeutlicht auch ein 18-seitiger Brief der Gefangenen Ilaria S. Darin schildert die Grundschullehrerin die schrecklichen Haftbedingungen in Ungarn und berichtet von Bettwanzen, Kakerlaken und Mäusen in den Zellen und Fluren. Außerdem klagt S. über Unterernährung und darüber, dass sie mehr als sechs Monate lang keinen Kontakt zu ihrer Familie haben durfte. Inzwischen erwägen die Anwälte der italienischen Antifaschistin eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie werfen Ungarn vor, gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verstoßen, der Menschen vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe schützt.

Für Maja T. könnte eine Auslieferung nach Ungarn zum Desaster werden. Die ungarische Regierung unter Orbán hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe queerfeindlicher Gesetze auf den Weg gebracht. Mehrfach wurde Ungarn von der EU-Kommission oder EU-Mitgliedstaaten deshalb verklagt. Die mangelnden Rechte für LGBTIQ-Personen spiegeln sich in der ungarischen Justiz und damit zwangsläufig auch in den Haftanstalten wider. Strafverteidiger Richwin erklärt: »Die Äußerungen führender politischer Repräsentanten des ungarischen Staates lassen angesichts der vielfach kritisierten mangelnden Unabhängigkeit der ungarischen Justiz, insbesondere der Richterschaft, nichts Gutes erahnen. Es ist zu befürchten, dass Maja allein aufgrund der sexuellen Orientierung ein faires Verfahren in Ungarn versagt bleibt.«

Kein faires Verfahren

Bei der Vorverhandlung Ende Januar erklärte sich Ilaria S. in Bezug auf die Anschuldigungen für nicht schuldig. Ihr werden »schwere und lebensgefährliche Körperverletzung« sowie Mitgliedschaft in einer internationalen kriminellen Vereinigung im Zusammenhang mit mehreren Angriffen von Antifaschist*innen auf Neonazis während des »Tages der Ehre« 2023 in Budapest vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft hatte im Falle eines Geständnisses elf Jahre Haft für die Italienerin gefordert. Auch die aus Deutschland stammende Mitangeklagte Anna M. bekannte sich nicht schuldig.

Anders Tobias E.: Er gab vor Gericht zu, Mitglied der kriminellen Vereinigung gewesen zu sein, und akzeptierte eine Freiheitsstrafe von drei Jahren. Unter welchen Umständen es zu diesem überraschenden Geständnis kam, ist unklar – besonders vor dem Hintergrund der Einschätzung mehrerer Rechtsanwält*innen der im Budapester Verfahren beschuldigten Personen.

In einer zwei Tage vor Prozessbeginn veröffentlichten Presseerklärung von Anwält*innen der Beschuldigten hieß es: »Konkrete Beweise für die Begehung der vorgeworfenen Taten durch eine kriminelle Vereinigung wurden bislang nicht vorgelegt, obwohl der erste Prozess in Ungarn bereits Ende Januar beginnen soll. Die mageren Ermittlungsergebnisse, die der Verteidigung der Beschuldigten vorgelegt wurden, geben wenig her.«

Auch die Verurteilung von Tobias E. auf Basis seines Geständnisses verdeutlicht die Mängel in der Rechtsstaatlichkeit Ungarns. In Deutschland wäre eine solche wohl kaum vorstellbar gewesen, denn hier gilt der sogenannte Amtsermittlungsgrundsatz. Dieser verpflichtet Gerichte dazu, Geständnisse zu überprüfen. Eine Verurteilung, die allein auf dem Geständnis eines Angeklagten basiert, widerspricht dem Schuldprinzip. Die Verteidigung von Tobias E. ist bereits in Berufung gegangen. Sollte das ungarische Urteil rechtskräftig werden, wäre denkbar, dass E. als Zeuge geladen wird, um gegen andere Angeklagte auszusagen. Das Hauptverfahren gegen Ilaria S. und Anna M. in Budapest soll am 24. Mai beginnen.

Internationale Haftbefehle

Unterdessen fahndet die ungarische Polizei weiterhin mit europäischen und internationalen Haftbefehlen nach Antifaschist*innen aus mehreren Ländern. Wie das nd berichtet, wurde in der ersten Februarwoche ein Mann in Helsinki festgenommen, der ebenfalls wegen der Vorfälle im Zusammenhang mit dem »Tag der Ehre« 2023 gesucht wurde.

Aus Deutschland stehen zehn Antifaschist*innen auf der Fahndungsliste. Als Gründe für die Haftbefehle nennt die ungarische Polizei Körperverletzung bzw. schwere Körperverletzung. Die zehn deutschen Antifas gelten für die Behörden als abgetaucht. Bei einer Ergreifung stünde eine Auslieferung nach Ungarn zu befürchten.

Dagegen wenden sich nun die Eltern der Beschuldigten mit einer Petition. Sie weisen darauf hin, dass ihren Kindern bei einer Auslieferung eine Untersuchungshaft droht, die sich nahezu unbegrenzt verlängern lässt. Überdies seien die zu erwartenden Haftstrafen um ein Vielfaches höher, als es in Deutschland zu erwarten wäre. »Statt die Betroffenen ins rechtspopulistische Ungarn auszuliefern, hätte Deutschland die Möglichkeit, auch ein eigenes Verfahren unter rechtsstaatlichen Bedingungen zu führen. Dennoch wird bisher die Drohung einer Auslieferung ins immer autoritärer und korrupter werdende Ungarn gezielt genutzt, um die Betroffenen unter Druck zu setzen. Diese Drohkulisse muss ein Ende haben!«, fordern die Eltern.

Ein in Deutschland geführtes Verfahren könnte ein ernsthaftes Auslieferungshindernis darstellen, meint auch Sven Richwin: »Nach unserer Kenntnis wird das Verfahren in Deutschland auch weiterhin ernsthaft seitens der Generalstaatsanwaltschaft Dresden betrieben, so fanden auch noch in jüngster Zeit Hausdurchsuchungen in diesem Zusammenhang statt.« Auf ein Verfahren in Deutschland hoffen auch die Eltern der Beschuldigten. In der Petition gegen die Auslieferung schreiben sie: »Als Eltern der Betroffenen machen wir uns große Sorgen wegen der physischen und psychischen Folgen, die eine Auslieferung für unsere Kinder hätte.«

Tag der Ehre

Jedes Jahr am 11. Februar versammeln sich weit über Tausend Neonazis aus ganz Europa in Budapest, um in geschichtsrevisionistischer Manier den Tausenden deutschen Nazisoldaten und ihren ungarischen Kollaborateuren zu huldigen, die 1945 versuchten, die Belagerung der Roten Armee zu durchbrechen, was einem Selbstmordkommando gleichkam.
Darauf basiert ein rechter Heldentod-Mythos, der neonazistische Gruppen alljährlich zum massenhaften kollektiven Abhitlern motiviert – weitgehend ungestört von den ungarischen Behörden. Letztes Jahr wurden die Neonazis allerdings nicht in Ruhe gelassen. Schon zwei Tage vor dem Tag der Ehre kam es 2023 zu Auseinandersetzungen zwischen Antifaschist*innen und Neonazis und mehreren direkten Angriffen auf Neonazis. Die ungarische Polizei bildete umgehend eine Sonderkommission, um nach den Antifaschist*innen zu fahnden. Seitdem sitzen die italienische Antifaschistin Ilaria S. und der deutsche Antifaschist Tobias E. unter extrem widrigen Bedingungen in ungarischer Haft. Die ungarischen Behörden fahnden weiter nach Antifaschist*innen aus mehreren Ländern.
Auch in diesem Jahr kamen weit über Tausend Neonazis aus ganz Europa zum Fascho-Spektakel in Budapest – sogar noch deutlich mehr als in den Vorjahren. Nachdem die Stadt eine Kundgebung im Városmajor-Park verboten hatte, trafen sich Hunderte Neonazis unter den Augen der Polizei zu einem angeblich spontanen Flashmob in der Budapester Innenstadt und führten eine den Faschismus glorifizierende Kundgebung durch.
Am Nachmittag trafen sich weitere Neonazis in Militärkleidung mit faschistischen Symbolen auf der Budapester Burg und starteten von dort ihren als »Wanderung« betitelten Aufmarsch. Gegen diese Veranstaltungen demonstrierten rund 400 Antifaschist*innen, während sie von der Polizei, die mit Hunden im Einsatz war, abgefilmt wurden. »Es wurde deutlich, dass der ungarische Staat gezielt versucht, antifaschistisches Engagement zu kriminalisieren«, kommentierte die VVN-BdA, die zu den Protesten mit aufgerufen hatte. Die VVN-BdA kritisiert überdies einen Polizeieinsatz im Vorfeld der Proteste: »Die ungarische Polizei hat einen vom österreichischen KZ-Verband, den österreichischen Sozialdemokratischen Freiheitskämpfern und der VVN-BdA organisierten Bus antifaschistischer Aktivist*innen aus Deutschland und Österreich auf der Strecke angehalten. Obwohl die ungarische Polizei wusste, dass die Busreisenden zur Teilnahme am gemeinsamen Gedenken an die Opfer des Holocaust nach Budapest fuhren, veranlasste sie eine Identitätsfeststellung und filmte und fotografierte sämtliche Personen. Ein Aktivist wurde sogar gezwungen sein Telefon zu entsperren und die Polizei las dessen Gerätenummer aus. Bei der Durchsuchung des Busses wurden auch sämtliche Materialien (Fahnen, Zeitungen, Schilder, Aufkleber etc.) abfotografiert. Selbst der Gedenkkranz der VVN-BdA wurde untersucht und abfotografiert. Augenscheinlich war für die ungarische Polizei alles verdächtig, was mit dem Begriff Antifaschismus in Zusammenhang stand.«

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.

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