Keine Kapitulation
Im Neuordnungsprozess des Mittleren Ostens kämpft die kurdische Bewegung um ihren Platz
Von Hêlîn Dirik

Der einzige Weg zu einem friedlichen Zusammenleben führe über demokratische Politik; die Guerilla solle einen Kongress einberufen, den bewaffneten Kampf beenden und sich auflösen – so der Ende Februar veröffentlichte Appell von Abdullah Öcalan, dem seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Sein »Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft« sorgte für Fragezeichen, vor allem mit Blick auf die permanenten Angriffe der Türkei: In Rojava haben die türkische Armee und Kämpfer der Syrischen Nationalarmee (SNA) seit dem Sturz Assads und der Machtübernahme der islamistischen HTS-Miliz ihre Angriffe auf die Selbstverwaltung intensiviert. In den Medya-Verteidigungsgebieten in Südkurdistan/Nordirak kämpft die türkische Armee vom Boden und aus der Luft gegen die PKK-Guerilla. Unter diesen Umständen werteten einige den Aufruf als Kapitulation, wieder andere sehen in Öcalans Botschaft gerade jetzt eine historische Chance auf Frieden. Die PKK erklärte jedenfalls einen Waffenstillstand, machte jedoch deutlich, dass sie sich im Falle weiterer Angriffe verteidigen werde. Sie stellte außerdem die Bedingung, dass Öcalan persönlich die Leitung eines etwaigen Entwaffnungsprozesses übernehmen müsse. Damit ist jetzt die Türkei am Zug, die bislang allerdings ihre Angriffe gegen die Guerilla fortsetzt.
Im derzeitigen Neuordnungsprozess in Syrien und in der gesamten Region, in der alle möglichen Kräfte um Einfluss ringen, sind Frauen, Minderheiten und die Errungenschaften der kurdischen Bewegung besonders bedroht. Deshalb sorgte auch das Abkommen zwischen den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) und der HTS-Regierung in Damaskus teils für Verunsicherung, auch in der kurdischen Diaspora. Es sieht vor, dass die Verwaltung aller zivilen und militärischen Institutionen der autonomen Verwaltung in Rojava an den syrischen Staat übergeben wird. Das Abkommen wurde unterschrieben, während in den Küstenstädten Syriens Massaker von HTS-nahen Kräften an Alawit*innen begannen. Ilham Ahmed, die Außenvertreterin der Selbstverwaltung, betonte, dass das Abkommen auch ein Schritt in Richtung nationaler Versöhnung sei, um weitere solcher Angriffe zu verhindern. In dieser instabilen Phase geht es der Selbstverwaltung darum, die Übergangsregierung dazu zu verpflichten, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Syriens in den kommenden politischen Prozess einzubinden. Laut Abkommen muss Damaskus die Gleichstellung und Rechte aller Minderheiten sicherstellen; auch ein Rückkehrrecht für Vertriebene und eine Waffenruhe in ganz Syrien sind Teil der Vereinbarung. Für die Umsetzung dieser Punkte sollen Ausschüsse gebildet werden, an denen die Autonomieverwaltung Rojavas, die in den letzten Jahren ein Hauptfaktor für Frieden und Stabilität in der Region gewesen ist, beteiligt sein soll.
Es sind richtige Schritte, und doch stellt sich die Frage, wie dieser Prozess mit einer Regierung aus ehemaligen IS- und Al-Qaida-Mitgliedern vonstatten gehen soll, die noch vor wenigen Wochen ihre »Siegeskonferenz« ohne die Beteiligung einer einzigen Frau, dafür aber in Anwesenheit von islamistischen Kriegsverbrechern abgehalten hat. Auch bleibt die Frage offen, was das alles für Rojava bedeutet. Was geschieht etwa mit den Errungenschaften der Frauenrevolution, was wird aus der gesellschaftlichen Utopie, für die Rojava steht? Das alles lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht leicht beantworten. Woran wir festhalten müssen, ist, dass der Aufruf Öcalans oder das Abkommen zwischen SDF und HTS-Regierung keine Kapitulation, kein Ende sind – weder für den Kampf der Menschen in Rojava und Syrien noch der kurdischen Bewegung insgesamt. Selbstverteidigung ist mehr als bewaffneter Kampf; gesellschaftliche Organisierung und das entschlossene Beharren auf Frieden und Gerechtigkeit sind genauso ein Teil davon. Für Millionen von Menschen, insbesondere Frauen, die sich in dieser Bewegung politisiert und organisiert haben, ändert sich nichts an der Notwendigkeit, den Widerstand gegen staatliche und patriarchale Gewalt fortzusetzen. Und dieser wird entscheidend für die Zukunft der Region und die kommende Phase sein.