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Mussolinis Erben an der Macht

Nach ihrem Wahlsieg verbleibt Giorgia Meloni erst einmal in der Kontinuität der großen Koalition Mario Draghis

Von Jens Renner

Die neue Regierung unter Giorgia Meloni führt den Kurs Mario Draghis zunächst fort. Foto: DAVIDE GIOIA/Flickr, CC BY 2.0

Öffentlich hat Giorgia Meloni sich zu dem »Vorfall« nicht geäußert. Dass sie abseits der Kameras und Mikrofone getobt hat, ist aber nicht auszuschließen. Denn die Spitzenkandidatin der postfaschistischen Brüder Italiens (Fratelli d’Italia/FdI) und künftige italienische Ministerpräsidentin tut derzeit alles, um als moderate, pragmatische Politikerin zu erscheinen. Nun kursiert ein Video, das ihren Parteifreund Romano La Russa am Grab eines verstorbenen Kameraden zeigt, die Hand erhoben zum »römischen Gruß«. Romano La Russa ist der Bruder von Melonis Freund und Berater Ignazio La Russa und als Assessor der lombardischen Regionalregierung in Mailand zuständig für innere Sicherheit. Einen Antrag der Opposition, den bekennenden Faschisten abzusetzen, lehnte die rechte Mehrheit geschlossen ab. La Russas Geste sei ein »Akt der Liebe zu einem Verstorbenen« und seine »persönliche Angelegenheit«.

Ähnliche Vorkommnisse sind in Italien keine Seltenheit. Bemerkenswert ist die Geschlossenheit, mit der die drei rechten Parteien – neben den Fratelli auch Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia – dem rechten Provokateur zur Seite sprangen. Das lässt Rückschlüsse auch auf die nationale Ebene zu, wo dieselben Parteien die Übernahme der Regierung vorbereiten. Bei allen Unterschieden ihrer Geschichte und Tradition werden sie sich an der Bewertung der faschistischen Vergangenheit mit Sicherheit nicht zerstreiten. Mussolini habe »Irrtümer« begangen, gab Meloni im Wahlkampf zu Protokoll. Dazu zählt sie die Abschaffung der Demokratie, die antisemitischen Rassegesetze und das Bündnis mit Hitler. Dass der Duce des Faschismus zugleich »viel Gutes« bewirkt habe und ein »bedeutender Staatsmann« gewesen sei, gehört seit Jahrzehnten zu den Grundüberzeugungen auch der konservativen »Mitte«.

Bei allen Unterschieden ihrer Geschichte und Tradition wird sich die rechte Koalition an der Bewertung der faschistischen Vergangenheit mit Sicherheit nicht zerstreiten.

Das Kapital hofft auf Stabilität

Der »Skandal« von Mailand war mit Sicherheit nicht der letzte seiner Art. Nach dem klaren Sieg des Rechtsblocks bei der Parlamentswahl am 25. September – und rund um den bevorstehenden 100. Jahrestag des »Marsches auf Rom« (siehe nächste Seite) – dürften rechte Provokationen eher noch häufiger vorkommen, weil faschistische Überzeugungstäter*innen sich mehr denn je als Vollstrecker des »Volkswillens« sehen. 43,8 Prozent für die von Meloni, Salvini und Berlusconi angeführte Koalition, 26 Prozent allein für die FdI, weitere 1,9 Prozent für Italexit, ein Sammelbecken von Faschist*innen, Impfgegner*innen und Verschwörungsgläubigen, ergeben einen Stimmenanteil von 45,7 Prozent für rechte Parteien. Das reichte für eine klare Mehrheit der Mandate in beiden Parlamentskammern. Denn das 2017 auf Betreiben des Partito Democratico (PD) eingeführte Wahlgesetz begünstigt Bündnislisten, die sich auf die Aufteilung »sicherer« Wahlkreise einigen. Während die Rechten das im Handumdrehen schafften, vergeudeten ihre Gegner*innen die Zeit mit letztlich ergebnislosen Bündnisverhandlungen. Hauptverantwortlich für die Zersplitterung der demokratischen Kräfte war PD-Generalsekretär Enrico Letta, der ein Wahlbündnis mit Giuseppe Contes Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque Stelle/M5S) kategorisch ausschloss.

Während letztere im Wahlkampf sozialreformerische Forderungen in den Vordergrund stellten, präsentierte sich der PD als Partei des »Weiter wie bisher« und treuester Fanclub Mario Draghis. Unter dem parteilosen Premier und Ex-Banker Draghi aber wuchs nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Zahl der in absoluter Armut Lebenden. Alles deutet darauf hin, dass die kommende rechte Regierung Draghis neoliberale Wirtschaftspolitik fortsetzen wird. Salvinis und Berlusconis Wahlversprechen, insbesondere massive Steuersenkungen für die eigene Klientel, wären nur mit noch deutlich höherer Staatsverschuldung finanzierbar. Das aber hätte Interventionen der EU zur Folge – ein Horrorszenario für Meloni, die im Wahlkampf die brave Europäerin und sparsame Haushälterin gab. Entsprechend gelassen reagierten auch die heimischen Kapitalvertreter*innen auf Melonis Triumph. Ihnen geht es vor allem um politische Stabilität, die sie durch das eindeutige Wahlergebnis garantiert sehen.

Damit allerdings könnten sie sich täuschen. Denn die zahlreichen Streitthemen innerhalb des Rechtsblocks wurden nur bis zum Wahltag zurückgestellt. Am ehesten noch werden sich die anstehenden Personalfragen lösen lassen. Dass Salvini, wie er hofft, noch einmal als Innenminister den starken Mann spielen kann, ist unwahrscheinlich – Meloni reklamiert das prestigeträchtige Ressort für die eigene Partei. Auch die Ministerien für Außen- und Militärpolitik will sie weder der Lega noch Forza Italia überlassen, und für Wirtschaft und Finanzen könnte sie einen parteilosen Technokraten engagieren.

Mehr Konfliktstoff birgt das Haushaltsgesetz für das kommende Jahr, das bis Ende November verabschiedet und der EU-Kommission zur Prüfung vorgelegt werden muss. Nachverhandlungen über Umfang und Verwendungszweck der aus Brüssel fließenden Hilfsgelder werden nur sehr begrenzt möglich sein. So stehen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik die Zeichen auf Kontinuität und die »Melonomics« werden sich wenig von der in den europäischen Leitmedien gefeierten neoliberalen »Agenda Draghi« unterscheiden.

Anders verhält es sich mit dem Kern des postfaschistischen Programms, den von Meloni verkörperten erzreaktionären Werten »Gott, Vaterland, Familie«, die zur Richtschnur einer repressiven Politik gegen Frauen, Minderheiten und Migrant*innen werden sollen. Schon im Wahlkampf forderte Meloni erfolgreich Polizeieinsätze gegen Antifaschist*innen, die ihre Auftritte störten. An der Spitze der Regierung hat sie direkten Zugriff auf die Staatsmacht. Dass sie damit ähnlich umgeht wie ihr ungarischer Freund und Partner Viktor Orbán, steht zu befürchten. Zu den Projekten, die oben auf der rechten Agenda stehen, gehören die Einführung eines autoritären Präsidialsystems und »differenzierter Autonomie« für die Regionen. Von dieser würde vor allem der reichere Norden profitieren, das traditionelle »Legaland«.

Die Gegenkräfte sammeln sich

Die linken Parteien versprechen derweil »harte Opposition«. Im Parlament vertreten ist die Italienische Linke (Sinistra Italiana/SI), die im Bündnis mit den Grünen auf 3,6 Prozent der Stimmen kam und damit knapp die 3-Prozent-Hürde übersprang. Außen vor blieb die Unione Popolare (UP) um den ehemaligen Bürgermeister von Neapel, Luigi De Magistris, ein Bündnis, zu dem auch Potere al Popolo (PaP) und Rifondazione Comunista (RC) gehörten. Die UP hatte zwar das mit Abstand profilierteste linke Programm und erfreute sich öffentlichkeitswirksamer Unterstützung durch Jean-Luc Mélenchon und anderer Prominenter. Trotzdem kam sie über 1,4 Prozent nicht hinaus.

Ob die beteiligten Gruppierungen gemeinsam weitermachen, ist offen. Denn auch das gehört zur bitteren Wahrheit: Viele ehemalige Anhänger*innen linker Gruppierungen bleiben heute den Wahlurnen fern – als Teil der politisch heterogenen »Partei der Nichtwähler*innen«, die mit 36 Prozent alle anderen klar hinter sich ließ. Andere Linke stimmten für die Fünf Sterne, die unter dem Ex-Premier Conte einen Linksschwenk vollzogen hatten, zumindest im Wahlkampf. Der Partito Democratico dagegen erscheint nach der Niederlage völlig orientierungslos. Erst im Frühjahr soll ein Parteitag für Klarheit sorgen – Ausgang ungewiss.

So sind es – wieder einmal – vor allem außerparlamentarische Kräfte, die Hoffnung machen. Am 23. September, zwei Tage vor der Wahl, beteiligten sich Zehntausende Schüler*innen am Klimastreik, und wenige Tage danach konnte die feministische Bewegung Non una di meno (Nicht eine weniger) mehrere Tausend Menschen mobilisieren, die in Rom, Mailand und anderen Städten gegen die drohende Einschränkung des Rechts auf Abtreibung auf die Straße gingen. Auch der Gewerkschaftsbund CGIL demonstrierte in Rom für höhere Löhne und Renten – und gegen die faschistische Gefahr: Vor einem Jahr, am 9. Oktober 2021, attackierten Kader der neofaschistischen Partei Forza Nuova die CGIL-Zentrale. Der Feind steht rechts, die Gegenkräfte sammeln sich. Für einen heißen Herbst reicht das noch nicht, aber ein Anfang ist gemacht.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Anmerkung:

Jens Renners Buch »Neuer Faschismus? Der Aufstieg der Rechten in Italien« erschien 2020 in der Reihe Politik aktuell bei Bertz + Fischer; Rezension in ak 663.