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In Hamburg hält man dicht

Zum dritten Mal wurde in Hamburg ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum NSU abgelehnt – und die Hoffnung der Angehörigen auf Aufklärung zerstört

Von Marie Hoffmann

Das Bild zeigt die Spitze der Demonstration zum Gedenken an die zehn Opfer des NSU, im Juli 2018 in Hamburg. Im Vordergrund läuft ein Mann, der ein Banner hält, auf dem die Namen der NSU-Opfer zu lesen sind. Direkt hinter ihm bilden zehn Menschen eine Reihe. Jede Person hält ein Schild in der Hand auf dem je ein NSU-Opfer zu sehen ist.
Am 14. Juli 2018 demonstrierten Tausende in Hamburg im Gedenken an die zehn Opfer des NSU. Sie forderten die Verbrechen restlos aufzuklären – auch in der Hansestadt. Foto: Rasande Tyskar/Flickr , CC BY-NC 2.0

Es wird viel geschrieben dieser Tage: über Koalitionsräson, über Fraktionszwang, über Gewissen von Abgeordneten und darüber, dass in Hamburg mit Miriam Block eine Grünen-Abgeordnete dafür abgestraft wurde, dass sie – oh Schreck – mit der oppositionellen Linkspartei für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des NSU-Mordes an Süleyman Taşköprü vor 22 Jahren gestimmt hat. Wenig bis nichts wird darüber geschrieben, was in Hamburg denn eigentlich aufzuklären gewesen wäre, dabei ließen sich darüber ganze Bücher füllen. Denn in der sich gern als aufgeklärt und weltoffen gerierenden Hansestadt hat die Nicht-Aufklärung rechten Terrors eine lange Tradition – die den NSU-Mord an Süleyman Taşköprü ermöglicht hat.

Anschläge, rassistische Übergriffe, Bedrohungen und Morde haben nie heilende Wunden hinterlassen – auch weil Betroffene, Hinterbliebene und Angehörige bis heute auf Aufklärung warten. So wie Arin Rungjang. Sein Vater Prayong Rungjang starb 1977 an den Folgen eines Angriffs durch eine Gruppe von Neonazis in Hamburg. Arin Rungjang war damals zweieinhalb Jahre alt. Seinen Verlust verarbeitete der inzwischen international renommierte Video- und Objektkünstler aus Bangkok 2019 in seinem Werk »They beat your father«. Auf Nachfrage berichtete er, sein Vater habe damals als Ingenieur bei einer Ölgesellschaft in Hamburg gearbeitet – über die Täter und die genauen Umstände des Angriffs auf seinen Vater habe er bis heute nichts herausfinden können.

Prayong Rungjang könnte das erste Todesopfer des rechten Terrors in der Hamburger Nachkriegsgeschichte gewesen sein – ohne Zweifel blieb er nicht das letzte. Denn die 1980er Jahre entwickelten sich schnell zu einer Hochzeit rechten Straßenterrors. Es war die Zeit der Savage Army, der Lohbrügge Army, der »Hansa Bande«, der »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS), der Wehrsportgruppe Dems. Und es war die Zeit, in der Hamburger Nazikader sich ausbildeten, sich vernetzten, sich radikalisierten – und töteten.

Am Morgen des 19. Juni 1982 wurde Tevfik Gürel in Norderstedt vor einer Diskothek niedergeschlagen. Dabei riefen die Täter »Ausländer raus!« Gürel fiel bewusstlos zu Boden und die Täter traten weiter auf ihn ein. Schwerverletzt kam er ins Krankenhaus, wo er drei Tage später starb.

In Kirchdorf-Süd wurde im Juli 1982 eine 17-Jährige von einem Rechten angegriffen – er rammte ihr ein Messer in die Brust. Kurz darauf ging ein Neonazi in Wandsbek mit einem Gasrevolver auf einen Mann los und verletzte diesen. Beide überlebten. Am 17. Oktober desselben Jahres wurde dann Adrian Maleika von neonazistischen HSV-Hooligans in der Nähe des Volksparkstadions erschlagen.

Am 24. Juli 1985 starb Mehmet Kaymakçı durch einen rassistischen Angriff am Kiwittsmoor-Park im Bezirk Hamburg-Nord. Kaymakcı, der in jungen Jahren mit vielen Träumen nach Deutschland gekommen war und als Maurer arbeitete, wurde von drei Neonazis erschlagen. Die Täter erschlugen den bereits bewusstlosen Kaymakçı mit einem 94 Kilogramm schweren Betonklotz. Mehmet Kaymakcı wurde nur 29 Jahre alt.

Ebenfalls 1985, am 21. Dezember, wurde Ramazan Avcı von einer Gruppe rechter Skinheads angegriffen und starb an den Folgen. Im Hamburger Abendblatt war zu lesen: »Während Ramazan im Krankenhaus mit dem Tode ringt, hat ein Richter den mutmaßlichen Haupttäter in Untersuchungshaft nehmen lassen. Seine Komplizen bleiben vorerst auf freiem Fuß.« Avcı starb drei Tage später und hinterließ seine schwangere Frau. Kurz nach dem Tod Avcıs äußerte sich der SPD-Innensenator Rolf Lange in einem Interview: »Dieser schreckliche Vorfall hat bisher kein Beispiel und bleibt hoffentlich auch ein Einzelfall.« Ein Einzelfall. Genauso einer wie Prayong Rungjang, Adrian Maleika und Mehmet Kaymakçı. Und obwohl klar war, dass es sich bei den Mördern von Ramazan Avcı um bekannte Nazi-Skins – einer der Täter war der Bruder von Nazifunktionär Thomas Wulff – handelte, schloss der damalige Polizeipräsident Dieter Heering einen politisch motivierten Hintergrund aus. Auch das Landgericht Hamburg stellte bei der Urteilsverkündung gegen die Mörder von Ramazan Avcı fest, dass die fünf Angeklagten durchaus zu einer großen Gruppe von »Skinheads« gehört hatten, die »ausländerfeindlich« eingestellt sei, doch »Ausländerfeindlichkeit« als Tatmotiv läge nicht vor.

»Wie – und wann – haben die Strafverfolgungsbehörden, die Justiz und der Senat ihr politisches Versagen und ihre Verantwortungslosigkeit gegenüber den migrantischen Communities, insbesondere der türkischen, aufgearbeitet? Mit welchen Erkenntnissen und Konsequenzen?«, danach fragt der jüngst abgelehnte Antrag auf einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Linksfraktion in Hamburg. Der Antrag fragt aber auch danach, wie sich die Hamburger Behörden mit der von Hamburger Neonazis und rechten Skins ausgehenden Gewalt befasst hat und was seine Informationsquellen waren.

Die Halskestraße, die Bundeswehr und der NSU

Am 27. April 1980 verübten Neonazis der bundesweit agierenden »Deutschen Aktionsgruppen« einen Bombenanschlag auf die Janusz-Korczak-Schule am Bullenhuser Damm, durch den zwei Menschen verletzt wurden. Die Schule war von den Nazis als Außenstelle des KZ Neuengamme genutzt worden und wurde erst kurz vor dem Bombenanschlag umbenannt – in Gedenken an die Mordnacht vom 20. April 1945, in der die Nazis 20 Kinder, vier Betreuende und 21 sowjetische Kriegsgefangene umgebracht hatten. »Wann, wie und durch welche Strafverfolgungsbehörden wurde der antisemitische Terrorakt in Hamburg aufgeklärt? Wer waren die Täter*innen und ihre Unterstützer*innen?«, das wollte die Linksfraktion in ihrem Antrag wissen.

Eine gute Frage, denn wenige Monate nach dem Bombenanschlag am Bullenhuser Damm, am 22. August 1980, verübten Mitglieder eben jener »Deutschen Aktionsgruppen« das Attentat auf eine Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße 72. Dabei starben Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie galten damals als die ersten dokumentierten Mordopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar wurden Manfred Roeder und drei weitere Neonazis als Drahtzieher hinter den »Deutschen Aktionsgruppen« wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt, doch das sollte Roeder in seinen Aktivitäten nicht lange behindern. Von 13 Jahren Haft musste er wegen guter Führung nur acht Jahre absitzen. Wie die Einschätzung über die »gute Führung« und »günstiger Sozialprognose« des Manfred Roeder zustande kam – unklar.

Klar aber ist: 1995 wurde der verurteilte Rechtsterrorist Manfred Roeder zu einem Vortrag an die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg eingeladen. Im Nachgang dazu entwickelte sich ein freundlicher Schriftwechsel zwischen Roeder und der Bundeswehr. In diesem bestellte Manfred Roeder »z. B. 1 Lkw (VW-Iltis) oder 1 Pkw 0,4 t (VW-Kübel), 1 Lkw 2 t, DB-PR mit Plane und Spriegel sowie unterschiedliches Handwerkzeug«, was die Bundeswehr im bereitwillig überließ. Bis heute ist unbekannt, was mit diesem Material geschah. Das klärte auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bundes nicht auf. Festgestellt wurde hierin lediglich, dass es sich bei den Materiallieferungen an den Rechtsterroristen um einen »ganz normalen Vorgang« gehandelt habe. Wie gut die »Sozialprognose« war, zeigte sich dann 1996 als Manfred Roeder gemeinsam mit anderen Neonazis einen Farbanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Erfurt verübte. Beim Prozess gegen ihn war der Saal durch eine große glatzköpfige Roeder-Fangemeinde gefüllt, die späteren NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie deren Unterstützer Ralf Wohlleben und André Kapke.

Der Mord an Süleyman Taşköprü 

Der NSU tötete 2001 Süleyman Taşköprü mit drei Schüssen in seinem Ladengeschäft in Hamburg-Altona. Süleyman Taşköprü starb in den Armen seines Vaters, der kurz nach der Tat den Laden betrat. Obwohl dieser der Polizei sofort mitteilte, dass er zwei deutsche Männer am Tatort gesehen hatte, ermittelten die Beamt*innen in Hamburg in Richtung »Organisierte Kriminalität«, auch gegen die Familie Taşköprü, und schlossen ein rassistisches Motiv aus.

Dies blieb auch nach der operativen Fallanalyse eines bayerischen Profilers so, obwohl dieser 2006 nahelegte, dass ein oder mehrere Täter mit rassistischer Motivation für die Mordserie verantwortlich sein könnten. Statt sinnvollerweise weiter in diese Richtung zu ermitteln, nahm die Hamburger Polizei lieber die Dienste eines Geisterbeschwörers in Anspruch – kein Witz –, der zur Aufklärung des Mordes beitragen sollte. Dabei hätte es eine ganze Menge zu ermitteln gegeben, darauf haben immer wieder Antifaschist*innen, Journalist*innen, die Hamburger Linksfraktion und nicht zuletzt auch die Familie Taşköprü selbst hingewiesen.

In einer bereits 2014 – also ein Jahr nach dem Beginn des NSU-Prozesses in München – veröffentlichten Pressemitteilung wiesen die Nebenklageanwält*innen auf zahlreiche Hinweise auf Verbindungen des Thüringer Heimatschutzes nach Hamburg hin: »Wir gehen davon aus, dass es eine regionale Unterstützung aus Hamburg für den NSU gegeben haben muss. Wie dies konkret gewesen ist, können wir zurzeit nicht sagen, dies liegt in der Pflicht der Ermittlungsbehörden. Die Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 29. April 2014 hingegen ist unbefriedigend. Die Versäumnisse und Fehler der Hamburger Behörden werden keineswegs aufgeklärt. Ein Kennverhältnis zwischen Angeklagten im NSU-Prozess und Hamburger Personen wird von den offiziellen Behörden in Hamburg jedoch nicht ausgeschlossen. Allerdings wird diesem Anfangsverdacht, dass es durchaus engere Verbindungen zwischen Einzelpersonen gegeben haben kann, nicht konsequent nachgegangen.«

Offene Fragen, offene Wunden

Bis heute hat sich daran nichts geändert. Im Gegenteil hat die Hamburger Bürgerschaft nun zum dritten Mal die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses verhindert. Die Familie, die Angehörigen, die Freunde von Süleyman Taşköprü warten bis heute auf Antworten.

Es fehlen die Antworten auf Fragen, wie die, die im nun abgelehnten Antrag der Linksfraktion in Hamburg gestellt wurden: Was wusste der Hamburger Verfassungsschutz eigentlich über die Beziehungen der Hamburger Nazikader Christian Worch und Thomas Wulff zum »Chef« des Thüringer Heimatschutzes und V-Mann Tino Brandt? War dem Hamburger Verfassungsschutz bekannt, dass Tino Brandt Thomas Wulff unter anderem auf Anweisung des V-Mann-Führers anrief, der die Gespräche dann mithörte? Interessant wäre auch zu erfahren, wie der Hamburger Verfassungsschutz die Rechtsschulung, die die Hamburger Neonazi-Rechtsanwältin Gisa Pahl im Oktober 1997 für den »Thüringer Heimatschutz« gab, bewertete. Unter den Teilnehmenden der Schulung befand sich neben V-Mann Tino Brandt unter anderem auch Uwe Böhnhardt. Welche anderen Zusammenkünfte und Verbindungen von Hamburger Neonazis und dem Thüringer Heimatschutz gab es? Hat Beate Zschäpe an Tagungen teilgenommen, die von Neonazianwalt Jürgen Rieger und seiner »Artgemeinschaft« ausgerichtet wurden? Wieso gab es nie Hausdurchsuchungen bei der Artgemeinschaft und dem Deutschen Rechtsbüro von Rieger und Pahl, obwohl diese Geld vom NSU erhalten hatten? Und welche Rolle spielten eigentlich Blood & Honour bzw. Combat 18?

Es ist die fehlende Aufklärung dieser Fragen, die in Hamburg schmerzhafte Wunden nicht heilen lassen kann.

Und es fehlen die Antworten auf Fragen, wie sie Ayşen Taşköprü – die Schwester von Süleyman Taşköprü – beispielsweise in einer Broschüre der Partei Die Linke stellt: »Alle wissen, auch in der Hamburger Politik und in den Behörden, dass unfassbare Fehler bei den Ermittlungen gemacht wurden. Wie können die Verantwortlichen davon ausgehen, dass diese Fehler nicht vermeidbar waren? Wie können sie behaupten, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss nicht nötig sei? Wovor haben die verantwortlichen Politiker*innen und Parteien in Hamburg Angst? Warum ist kein lautes politisches Interesse da zu untersuchen, wie der NSU mit Hamburger Strukturen vernetzt und organisiert war? Wer sind die Helfershelfer? Wer hat das Kerntrio in Hamburg unterstützt, sodass es auf meinen Bruder gekommen ist? Warum wird darauf beharrt, dass es nur drei Täter*innen sind? Was hatte Hamburg gegen die Vernichtung von so vielen Akten machen können? Warum sind Unterlagen weiterhin unter Verschluss? Wie kamen die Ermittler*innen darauf, in der Türkei zu ermitteln? Wie viele V-Leute wurden auch aus Hamburger Behörden bezahlt? Was wussten, was wissen die Hamburger Behörden? Warum sind all die ›Pannen‹ nicht verhindert worden? Was genau lernen die Hamburger Behörden aus dieser Geschichte?«

Es ist die fehlende Aufklärung dieser Fragen, die in Hamburg schmerzhafte Wunden nicht heilen lassen kann. Es ist die Aufklärung dieser Fragen, die die Hamburger SPD, die FPD, die CDU, die AfD und die Grünen mit Ausnahme von Miriam Block verhindert haben.

Marie Hoffmann

ist Antifaschistin.

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