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|ak 695 | Wirtschaft & Soziales

Hypochondrischer Mann Europas

Die Debatte über den wirtschaftlichen Abstieg ist Musik in den Ohren deutscher Unternehmen

Von Lene Kempe

Alte, rostige Industrietürme ragen in den Himmel, im Vordergrund sind Gräser und Pflanzen zu sehen
Standort Deutschland (Symbolbild). Foto: Pedelecs/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Bad News: Die deutsche Wirtschaft wächst nicht mehr, das dritte Quartal in Folge. Nicht nur das: Wie der Internationale Währungsfonds im August vermeldete, ist sie unter den 22 untersuchten Volkswirtschaften und Regionen die einzige (!), in der das Bruttoinlandsprodukt 2023 sinken soll. Der für dieses Jahr prognostizierte »Einbruch« gegenüber dem Vorjahr beträgt – 0,3 Prozent. Zum Vergleich: In der Finanzkrise  schrumpfe die Wirtschaft 2009 um etwa fünf Prozent, genau wie 2020 während der Corona-Pandemie.

Aber ein Minus ist ein Minus, und dass Deutschland vom Wachstumspfad abgekommen ist, Krise genug: Das Land drohe »in die 2. Liga abzusteigen« (Fokus), schlimmer noch, Deutschland, einst die Wachstumslokomotive Europas, könne »den ganzen Kontinent in den Abgrund reißen« (Welt). Da kriecht er wieder, »der kranke Mann Europas« (Economist), den anderen EU-Staaten hinterher. Weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Die Energiekosten sind zu hoch, die Bevölkerung zu schlecht ausgebildet, die Bürokratie – ein Monster. Nur noch gut ein Drittel der 150 für eine Studie befragten produzierenden Unternehmen überlegen aktuell, in Deutschland zu investieren. Die anderen blicken sehnsüchtig Richtung USA, wo die Regierung mit hohen Subventionen lockt, oder nach Asien wo die Produktions- und Arbeitskosten unschlagbar günstig sind.

Was Deutschland da droht, liegt doch auf der Hand: Deindustrialisierung. Das klingt erschreckend, und für Menschen, deren Arbeitsplätze in Gefahr sind, weil Standorte geschlossen oder Stellen wegrationalisiert werden, ist es das auch. Für die deutsche Unternehmenswelt steckt aber auch viel Musik in dem »Fühlt-euch-nicht-zu-sicher-am-Standort-Deutschland«-Diskurs. Denn die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg einer ganzen Nation amortisiert sich oft genug in barem Geld.

Die Bereitschaft des Staates, die Attraktivität des Standorts Deutschland dadurch zu erhöhen, dass Genehmigungsverfahren schneller und billiger, Branchen indirekt gefördert oder Unternehmen direkt subventioniert werden, ist in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsen. In die Chip-Industrie fließen derzeit Milliarden – der im Juli beschlossene EU Chips Act macht´s möglich. Investitionsregeln wurden für die Mitgliedstaaten gelockert und bis zu 43 Milliarden Euro Subventionen in der EU erlaubt, um die europäische Chip-Industrie in die Weltliga zu boxen. Die Bundesregierung ist weit vorn beim »Anlocken« von Investitionen: Für den Ausbau seines Werks in Dresden erhält Infineon voraussichtlich eine Milliarde Euro Steuergelder, dem US-Konzern Intel wurde der Standort Magdeburg mit zehn Milliarden schmackhaft gemacht, und gerade hat der taiwanesische Chip-Riese TSMC bekanntgegeben, sich bei seiner Standortsuche für Dresden entschieden zu haben. Fünf Milliarden Euro ließ sich der Bund diese Ansiedlung kosten, was die FAZ mit der Suggestivfrage kommentierte, ob »in der Chip-Industrie eigentlich der Sozialismus … ausgebrochen« sei.

Von Sozialismus ist in der Branche leider wenig zu spüren, von Deindustrialisierung allerdings auch nicht. Vor allem im sogenannten »Silicon Saxony«, der Region Chemnitz-Freiberg-Dresden, gruppieren sich mittlerweile jede Menge mittelständischer Zulieferer und Dienstleister um die großen Player. Auch andere Branchen sind im Aufwärtstrend, zum Beispiel die deutsche Rüstungsindustrie, ebenfalls stark mittelständisch geprägt. Werkschließungen und Sparmaßnahmen in größerem Umfang gibt es dagegen in der Chemieindustrie, die lange von der günstigen Energie aus Russland profitiert hatte. Auch hier wird der Ruf nach staatlichen Hilfen laut, die Debatte um einen Industriestrompreis ist bereits in vollem Gange.

Anders als die Beschäftigten haben Unternehmen immer eine gute Exit-Option: Sie können einfach den Standort wechseln. Und das tun sie auch, seit Jahrzehnten, nicht nur große Player, auch der Mittelstand. In der Chemieindustrie denke jedes vierte Unternehmen darüber nach, ließ der Verband verlauten.

Gerade jetzt, wo ganze Branchen feststellen müssen, dass das alte Geschäftsmodell nicht mehr einwandfrei funktioniert, wo ein kostenintensiver Umbau der Wirtschaft ansteht, und wo obendrein die Streikmacht der Beschäftigten gestiegen ist, ist dieser »Fühlt-euch-nicht-zu-sicher-am-Standort-Deutschland«-Diskurs eine schöne Begleitmusik für die Wirtschaft. Zeit, die Platte zu wechseln.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.

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