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Der nächste Anlauf

Seit dem Scheitern Corbyns leckt die britische Linke ihre Wunden – mit Your Party startet nun ein Versuch, es außerhalb der Sozialdemokratie neu zu probieren

Von Christian Bunke

Man sieht eine Person - Zarah Sultana - die eine Rede hält.
Ist neben Jeremy Corbyn die zweite treibende Kraft bei der Gründung einer neuen Linkspartei: Parlamentsabgeordnete Zarah Sultana. Foto: ReelNews / Wikimedia Commons, CC BY 3.0

Labour bereitet den Weg in den Faschismus« (»Labour Is Paving the Path to Fascism«). Das ist der dramatische Titel eines Artikels von Anfang September, in dem der ehemalige Labour-Parteichef Jeremy Corbyn scharf mit der sozialdemokratischen Regierungspolitik auf der Insel ins Gericht geht. Veröffentlicht wurde er auf der Homepage des Tribune Magazins, einer Zeitschrift, die traditionell den linksreformistischen Flügel der britischen Sozialdemokratie repräsentiert. 

In seinem Text wirft Corbyn der Regierung unter Premierminister Keir Starmer vor, die Faschisierung des Landes voranzutreiben. Corbyn macht dies an den Punkten einer gegen arme Menschen und Menschen mit Behinderungen gerichteten Sozialpolitik, organisierter Hetze gegen Geflüchtete, der Unterstützung des Genozids im Gazastreifen durch die britische Regierung sowie einer zunehmend transfeindlichen Regierungspolitik fest. All dies seien »Zeichen einer Partei, die aktiv den Rechtspopulismus umarmt, egal was die Konsequenzen dafür an der Wahlurne sind.« Der Faschismus, schreibt Corbyn, »kommt nicht über Nacht in Uniformen. Er kommt mit Politiker*innen im Anzug, einer Gesetzgebung nach der anderen.« Als Schlussfolgerung benennt Corbyn die Notwendigkeit zur Gründung einer neuen linken Partei, um sowohl den offenen Rechtsextremen als auch dem nach rechts gleitenden Kurs der Sozialdemokratie etwas entgegenzusetzen.

Nur wenige Wochen zuvor, am 17. August, hatte die linke Theoriezeitschrift New Left Review ein Interview mit der Abgeordneten zum britischen Unterhaus, Zarah Sultana, veröffentlicht. Darin beschreibt die 32 Jahre alte Politikerin ihren politischen Werdegang, von der ersten Politisierung durch die Bewegung gegen den von Tony Blair und George W. Bush geführten »Krieg gegen den Terror«, über den Kampf gegen die Erhöhung der Studiengebühren durch die konservative Regierung unter David Cameron, bis zu einem Besuch mit ihrem Vater im Gazastreifen, von dem die Unterdrückung der Palästinenser*innen einen bleibenden Eindruck hinterließ. 

Als die britische Regierung im Sommer fast zeitgleich die propalästinensische Aktionsgruppe Palestine Action verbieten ließ und außerdem wichtige Sozialhilfen für Menschen mit Behinderungen kürzte, kritisierte Sultana beides öffentlich scharf und hielt auch im Unterhaus Reden gegen die Regierungspolitik. Das brachte ihr die Suspendierung aus der Labour-Fraktion im Unterhaus ein. Eine Suspendierung, sagt sie im Interview, deren Ende von der Fraktionsführung nicht in Aussicht gestellt worden sei. Corbyns Einschätzungen über den von der britischen Regierung vollzogenen Rechtsruck teilt sie. Im Interview zitiert sie zustimmend den antirassistischen und antikolonialen Theoretiker Sivanandan: »Was Enoch Powell (ein inzwischen verstorbener rassistischer und pro-kolonialer Politiker der britischen Konservativen, Anm. d. Red.) heute sagt, sagt morgen die konservative Partei, und die Labour Partei gießt es einen Tag danach in Gesetze.« Labour liege heute »tot im Wasser«, und deshalb brauche es eine neue linke Partei, so Sultana. 

800.000 Interessierte

Es handelt sich dabei nicht um abstrakte Absichtserklärungen. Im Juli veröffentlichten Sultana und Corbyn eine gemeinsame Erklärung auf der Homepage yourparty.uk. Darin riefen sie zur Gründung einer Partei »mit Wurzeln in unseren Nachbarschaften, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf«. Laut Angaben der Initiator*innen und Medienberichten zufolge sollen bereits zwischen 700.000 und 800.000 Menschen ihr Interesse an der neuen Partei bekundet haben, indem sie auf der yourparty-Homepage ihre Kontaktdaten hinterlassen haben. Inzwischen gab es auch eine Reihe von gut besuchten Veranstaltungen in England, Wales und Schottland, bei denen Corbyn und Sultana als Redner*innen auftraten. Organisiert wurden und werden diese Veranstaltung von sehr verschiedenen Gruppen. Das Spektrum reicht von trotzkistischen Organisationen, lokalen Kleinparteien bis hin zu Strukturen aus der Friedensbewegung oder dem Nahbereich der Labour-Partei. Ein Gründungskongress ist bereits in Planung. Auf diesem sollen Struktur, Programm und die nächsten Schritte diskutiert werden. Sowohl Sultana als auch Corbyn betonen die Notwendigkeit einer demokratischen, und möglichst viele Menschen einbindenden Vorgangsweise. Entsprechend steht der Name der neuen Partei noch nicht fest. Sultana wünscht sich den Namen The Left – Die Linke. 

Ein wichtiges Indiz dafür, dass etwas auf der linken Flanke des Vereinigten Königreichs in Bewegung geraten ist, waren Ereignisse auf dem Anfang Juli abgehaltenen Gewerkschaftstag von Unite, Großbritanniens größter Gewerkschaft. Mit einer »überwältigenden Mehrheit«, so der Wortlaut in einer Pressemitteilung, hat die Gewerkschaft eine »Neubetrachtung« ihrer Unterstützung für Labour beschlossen. Gleichzeitig wurde die Unite-Mitgliedschaft einiger Labour-Politiker*innen ausgesetzt, darunter jene der stellvertretenden Premierministerin Angela Rayner und aller sozialdemokratischen Abgeordneten des Stadtrats in Birmingham. 

Hintergrund dieser Maßnahme ist ein sich inzwischen über Jahre hinziehender Arbeitskampf bei der Birminghamer Müllabfuhr. Um Einsparungen umzusetzen, möchte die Stadtverwaltung Lohnkürzungen und andere Verschlechterungen bei den Arbeitsverträgen der dort Beschäftigten durchdrücken. Dagegen setzen sich die Müllleute mit Streiks zur Wehr. Der Arbeitskampf wird in der gesamten britischen Gewerkschaftsbewegung mit großer Anteilnahme verfolgt und gilt ihr als wichtiges Signal dafür, wie Arbeiter*innenfreundlich die sozialdemokratische Regierung wirklich ist. Nämlich scheinbar gar nicht. 

Labour liege heute »tot im Wasser«, und deshalb brauche es eine neue linke Partei, so Zarah Sultana. 

Dabei wird der mögliche Bruch zwischen Unite und Labour von großen Teilen der Hauptamtlichen im britischen Gewerkschaftsbund als Bedrohung gesehen. Die Gewerkschaftsapparate fühlen sich überwiegend immer noch an Labour gebunden – und über die Partei mit dem britischen Staat verwoben. Als dessen integralen sozialpartnerschaftlichen Bestandteil sehen sich viele Gewerkschaftshauptamtliche nach wie vor, selbst wenn dieser Staat den Gewerkschaften über eine umfangreiche Anti-Gewerkschaftsgesetzgebung viele Steine in den Weg legt. 

Druck aus Gewerkschaften und Bewegungen

Am 4. September forderte der Vorstand des britischen Gewerkschaftsbundes TUC von der sozialdemokratischen Finanzministerin Rachel Reeves, bei der Verkündung des neuen Haushaltsentwurfs Ende November auf Kapitalertragssteuern oder andere Formen von Reichensteuern zu setzen. Hintergrund ist die desolate Lage der britischen Staatskasse, in der ein Loch in Höhe von bis zu 50 Milliarden Pfund klafft. Gleichzeitig sind die Leihzinsen so hoch wie seit 1998 nicht mehr, was es dem Staat erschwert, Geld auf dem privaten Markt zu leihen. 

In der Woche ab dem 8. September tagt der Kongress des britischen Gewerkschaftsbundes in Brighton, und der TUC-Vorstand scheint hier bemüht, Zugeständnisse von der Regierung zu bekommen, um der Mitgliedschaft das Fortbestehen der Allianz mit Labour zumindest ansatzweise verkaufen zu können. In den Gewerkschaften rumort es an verschiedenen Fronten, unter anderem haben verschiedene Gewerkschaften Anträge gegen die Aufrüstungspolitik der Regierung gestellt. Da hilft den Verteidiger*innen der Sozialdemokratie nicht, dass die Regierung im Frühling die Sozialversicherungsbeiträge für lohnabhängig Beschäftigte erhöht hatte, um Geld in die Staatskasse zu spülen und Unternehmen zu entlasten. 

Anfang September wurde außerdem publik, dass Premierminister Starmer eine Reihe von Expert*innen an seinen Amtssitz in der Nr. 10 Downing Street geholt hat, die dabei helfen sollen, der Wahlbevölkerung Sozialkürzungen bei Menschen mit Behinderungen oder bei Erwerbslosen schmackhaft zu machen. Als die Regierung dies zuletzt im vergangenen Frühling versuchte, scheiterte sie damit teilweise am Widerstand aus der Bevölkerung. Wenn ab dem 28. September der Labour-Parteitag in Liverpool stattfindet, mobilisiert unter anderem das Aktionsbündnis Disabled People against Cuts dorthin, um gegen die drohenden neuen Kürzungen zu protestieren. 

Jüngsten Medienauftritten nach zu urteilen, interessiert sich die Labour-Partei jedoch kaum für den wachsenden Druck aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. Ihren wichtigsten Wettbewerber sieht die Partei rechts in Form von Reform UK, dem derzeitigen rechtsextremen Vehikel des Ex-Bankers Nigel Farage. Laut Umfragen könnte Reform UK bei den kommenden Wahlen den ersten Platz belegen. Die noch nicht existierende neue linke Partei von Corbyn und Sultana liegt derzeit bei rund 15 Prozent. 

Die letzten Wochen wurden politisch von rechten Protesten vor allem in England, jedoch teilweise auch in Schottland und Wales dominiert. Am 13. September beteiligten sich 100.000 Menschen an einer Demonstration in London, zu der der rechtsextreme Tommy Robinson, Gründer der English Defence League, aufgerufen hatte. Immer wieder organisierten in den vergangenen Wochen aber auch kleinere Gruppen von Menschen Proteste vor Hotels, in denen Asylsuchende untergebracht sind. Außerdem werden vielerorts britische und englische Nationalfahnen an Straßenlaternen angebracht. Starmer reagierte mit einem Fernsehinterview, in dem er von seiner über dem Kamin hängenden Nationalfahne schwärmte. Medien, Staat und Politik driften nach rechts. Die neue linke Partei hat viel Arbeit vor sich. 

Christian Bunke

schreibt als freier Journalist über die britische Gewerkschaftsbewegung, Brexit und die zunehmenden Verfallserscheinungen des Vereinigten Königreichs.