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Tanzende Widersprüche

Streiks, horrende Lebenshaltungskosten und politische Instabilität: Großbritannien kommt nicht zur Ruhe

Von Christian Bunke

Zweite gewerkschaftlich organisierte Großdemonstration gegen die Sparpolitik der britischen Regierung, im April 2022 in London.
»Friert die Preise ein, nicht die Armen«: Proteste gegen die Austeritätspolitik der britischen Regierung, damals noch unter Boris Johnson, im April 2022 in London. Foto: Alisdare Hickson/Flickr, CC BY-SA 2.0

Theresa May, Boris Johnson, Elizabeth Truss: Das sind die drei letzten britischen Premierminister*innen, keine*r von ihnen hat eine reguläre Amtszeit überstanden. Jetzt ist Rishi Sunak an der Reihe. Mit Ende dieses Jahres werden wir wissen, ob er länger als die 40-tägige Amtszeit von Truss durchhält. Boris Johnson war Ende 2019 der bislang letzte Premierminister, der über die Durchführung von Parlamentswahlen an sein Amt gelangt ist. Seine beiden Nachfolger*innen profitierten jeweils von Palastrevolten innerhalb der Konservativen Partei Großbritanniens.

Die britischen Gewerkschaften stellen nun die Forderung nach Neuwahlen auf. Flankiert wird das von außerparlamentarischen, am linken Flügel der sozialdemokratischen Labour-Partei orientierten Bündnisstrukturen wie dem People’s Assembly, das für den 5. November zu einer Demonstration nach London mobilisiert hat. Der zentrale Slogan: »Neuwahlen jetzt.« Die reguläre Legislaturperiode würde auf der Insel eigentlich noch bis 2024 andauern. Damit begründen die regierenden Tories auch ihre Ablehnung von Neuwahlen. Eventuelle parlamentarische Misstrauensanträge glauben sie aufgrund ihrer Unterhausmehrheit überstehen zu können.

Tatsächlich war es Boris Johnson, der den Tories ihre seit Jahrzehnten größte parlamentarische Mehrheit von über 90 Abgeordneten im Unterhaus beschert hatte. Dies war ihm mit einem nationalkonservativen Angebot gelungen, das sowohl klassische »England-Nationalist*innen« der oberen Mittelschicht als auch proletarische Schichten auf der Suche nach einem Ausweg aus der neoliberalen Sackgasse hinter den Tories vereinigen konnte. Geschickt verband Johnson Elemente einer staatsinterventionistischen Re-Industrialisierungsstrategie mit teils offen rechtsextremer Rhetorik. Neue Schnellzugverbindungen sollten etwa zwischen London und Manchester gebaut, aus Frankreich kommende Flüchtlingsboote gleichzeitig durch die britische Royal Navy abgedrängt werden.

Was Don’t Pay mit Liz Truss’ Rücktritt zu tun hat

Eine kurze Zeit lang sah es so aus, als könne diese Mischung funktionieren. Doch dann kamen Covid und weit über 100.000 Pandemie-Tote. Der Staat gab Milliardenbeträge aus, um die Wirtschaft zu retten, und mobilisierte die Polizei, um Lockdowns durchzusetzen, während Johnson mit seinen Mitarbeiter*innen in der Nr. 10 Downing Street illegale Gartenpartys feierte. Dafür wurde er letztendlich zu einer Geldstrafe verurteilt, ein in der britischen Politik bis dahin einmaliger Vorgang. Das war in den Augen der Öffentlichkeit nicht akzeptabel, Johnson musste abtreten.

Seine kurzzeitige Nachfolgerin Truss erbte von ihm eine vielschichtige Situation an der sie letztendlich scheiterte. Einen wichtigen Beitrag zu ihrem Sturz leistete die UK-Kampagne Don’t Pay. Don’t Pay ist eine von vielen Reaktionen der Bevölkerung auf die Teuerungskrise und hat vor allem die großen privatisierten Energieversorgungsunternehmen im Visier. Ziel war es, bis zum 1. Oktober eine Million Menschen zusammenzubringen, die ab diesem Stichtag ihre Daueraufträge an die Strom- und Gasversorger einstellen wollten.

Zwar konnte diese Zielvorgabe bis zum Stichtag nicht erreicht werden, unter den Energie-Riesen herrschte dennoch große Nervosität. Am 11. Oktober veröffentlichte die Medienplattform Open Democracy einen an das Energieministerium gerichteten Brief des Energiekonzerns E.ON, in welchem Don’t Pay als »existenzielle Bedrohung« für E.ON und andere Konzerne bezeichnet wurde. Im Fall einer tatsächlich anlaufenden Nichtbezahlungskampagne rechnete der Konzern mit monatlichen Verlusten von 45 Millionen Pfund.

In Folge dieses Briefes verkündete Premierministerin Truss eine auf zwei Jahre angelegte »Preisgarantie« für Strom und Gas. Diese war vor allem ein staatliches Versprechen an die Konzerne, ab einer bestimmten Höhe die bei den Privathaushalten anfallenden Kosten für deren Energieversorgung auffangen und zahlen zu wollen. So sollten den Konzernen die Einnahmen und somit auch die Gewinne garantiert und gleichzeitig eine disruptive Revolte von unten abgewendet werden. Für die Durchführung dieses Plans hatte der unter Truss nur kurz amtierende Finanzminister Kwasi Kwarteng zusätzliche Ausgaben in Höhe von 150 Milliarden Pfund veranschlagt. Nun hatte Truss aber eigentlich weitreichende Steuererleichterungen für Unternehmen und Vermögende angekündigt, die aber jetzt in Anbetracht der kurzfristig eingeplanten Neuausgabennicht mehr machbar erschienen. Großbritannien starrte in tiefschwarzes Finanzloch, »die Märkte« richteten sich gegen Truss. Wirtschaftsverbände wie die Confederation of British Industry (CBI) riefen nach »Stabilität« und »Ordnung«.

Unterangebot an Arbeitskräften trifft auf Niedriglöhne

Aus der Sicht von CBI und Konsorten vertreten derzeit zwei Männer diese Werte. Der amtierende Premierminister Rishi Sunak und der sozialdemokratische Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei. Beide stehen für ein beinahe identisches Programm. Sie wollen Staatsausgaben drosseln, außerparlamentarischen Protest kriminalisieren und gewerkschaftliche Aktivitäten erschweren, wenn nicht gar gesetzlich verunmöglichen. Starmer hat seine Partei in den Augen bürgerlicher Kreise längst als »Regierung im Wartestand« positioniert. Die sozialdemokratische Linke hat er dezimiert und marginalisiert. Starmers Vorgänger Jeremy Corbyn ist auf unbestimmte Zeit aus der Parlamentsfraktion ausgeschlossen. Die Parteispenden der Großkonzerne sprudeln wieder in Labours Parteikasse.

Ganz anders das Bild bei den Tories. Das Großkapital wendet sich zunehmend von den Konservativen ab. Der jüngste Parteitag der Tories bot ein Bild des Jammers, auf den Fluren herrschte kein Gedränge. Junge Karrierist*innen zieht es nach vielen Jahren wieder zur Sozialdemokratie. Genau wie Starmer träumen sie von einer Neuauflage der Ära New Labour unter Tony Blair.

Diese Träume werden platzen, wenn sie überhaupt je in greifbare Nähe rücken. Denn Blair konnte sein neoliberales Programm mittels des Rückenwinds aus einem rund zehnjährigen Wirtschaftsaufschwung umsetzen. Dieser Aufschwung kam ab Mitte der 2000er Jahre zunehmend ins Stottern und kam mit dem Beginn der globalen Finanzkrise 2008 endgültig zum Erliegen. Blair konnte eine günstige Weltkonjunktur nutzen, um im eigenen Land eine durch staatliche Transferleistungen gestützte Niedriglohnpolitik durchzusetzen.

Nach 2008 blieben die Niedriglöhne, die von vielen Lohnabhängigen zur Aufstockung ihrer Gehälter benötigten Transferleistungen wurden aber als Teil der nun dominanten Austeritätspolitik radikal abgebaut. Spätestens ab 2010 schoss die Zahl der in Großbritannien als »food banks« bezeichneten Tafeln dramatisch in die Höhe. Hier begann die Lebenshaltungskostenkrise, die durch die spekulativ angeheizte Inflation zusätzlich an Fahrt aufgenommen hat.

Ende Oktober begannen Urabstimmungen für Streiks im Gesundheitswesen, im Bildungssektor und in anderen Teilen des öffentlichen Dienstes.

Parallel dazu machte sich in den vergangenen Jahren ein demografischer Langzeittrend zunehmend bemerkbar: Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Rente, geburtenschwache Jahrgänge treten in den Arbeitsmarkt ein. Eine Kombination aus Brexit und der Covid-Pandemie sorgte zusätzlich ab 2020 für ein schlagartiges Ausbleiben osteuropäischer Arbeitskräfte. Dies sorgt nun für eine in der jüngeren Geschichte Großbritanniens einzigartige Lage: Ein Unterangebot an Arbeitskräften trifft auf durch Niedriglöhne, Austerität und Teuerungen dreifach getroffene Belegschaften sowohl im öffentlichen Dienst als auch im privaten Sektor. Lohnabhängige reagieren darauf sowohl individuell als auch kollektiv. Manche wandern in besser bezahlte Jobs ab, andere treten zunehmend in den Streik, um nicht nur bessere Löhne zu fordern, sondern auch, um Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen abzuwehren. Das ist derzeit insbesondere bei der privatisierten Royal Mail und den britischen Eisenbahnen beobachtbar, aber auch in der Logistikbranche. Ende Oktober begannen Urabstimmungen für Streiks im Gesundheitswesen, im Bildungssektor und in anderen Teilen des öffentlichen Dienstes.

Vor allem unter jüngeren Frauen, FLINTA-Personen sowie People of Colour trifft dies auf eine wachsende Staatsablehnung, die durch periodisch wiederkehrende sexistische und rassistische Polizeiskandale begünstigt wird. Sowohl Labour als auch die Tories versuchen dem mit einer Stärkung »klassisch« bürgerlicher Familienwerte, dem Anrufen der Nation und einer patriotischen Überhöhung des Militärs sowie verstärkten Repressionen gegen Geflüchtete zu begegnen. So soll jener Teil der Bevölkerung ideologisch bei der Stange gehalten werden, der einst Boris Johnson zu seinem Wahlsieg verhalf. Hier beißt sich aber die Katze in den Schwanz, da sich gerade auch dieser Bevölkerungsteil mehrheitlich eine Abkehr von der Sparpolitik der vergangenen Jahre wünscht, die aber durch Sunak und Starmer weiter forciert werden soll.

Ein Signal in diese Richtung ist, dass die Laufzeit der von Truss eingeführten »Preisgarantie« auf Strom und Gas inzwischen von zwei Jahren auf sechs Monate verkürzt wurde. Don’t Pay hat bereits reagiert und den 1. Dezember als neuen Stichtag für den Beginn massenhafter Zahlungsverweigerung ausgegeben.

Christian Bunke

schreibt als freier Journalist über die britische Gewerkschaftsbewegung, Brexit und die zunehmenden Verfallserscheinungen des Vereinigten Königreichs.