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Sieben Telefone gleichzeitig

Griechenland verunmöglicht den Zugang zu fairen Asylverfahren – und weitet illegale Pushbacks auf das Inland aus

Von Lucy Nowak und Michael Schwarz

Millionenstadt Thessaloniki von oben
Auch in der Millionenstadt Thessaloniki müssen Migrant*innen ohne sicheren Aufenthaltsstatus mittlerweile fürchten, von der Polizei aufgegriffen und in die Türkei verschleppt zu werden. Seit der Corona-Ausgangssperre haben sich die Kontrollen verschärft. Foto: Andrzej Wójtowicz / Flickr, CC BY-ND 2.0

Ein Jahr ist es nun her, dass sich die Grenzregion zwischen Griechenland und der Türkei in ein kriegsähnliches Gebiet verwandelte. Der türkische Präsident Erdoğan hatte damals aus strategischen Gründen die Grenze geöffnet. Der griechische Staat wiederum setzte alles daran, Migrant*innen (1) am Betreten europäischen Bodens zu hindern. Militär, Polizei und Paramilitär drängten sie mit Schlägen, Tränengas und scharfen Schüssen zurück – drei Menschen starben. Kurz danach kam Corona, und die griechische Asylpolitik änderte sich dramatisch. Der Staat geht heute, ein Jahr später, noch härter gegen Migrant*innen vor. Auch weit hinter der Grenze sind Asylsuchende nun nicht mehr vor gewaltsamen Rückführungen sicher.

Die Landgrenze am Evros-Fluss ist seit Jahren ein wichtiger Übergang, über den viele Migrant*innen von der Türkei aus Griechenland erreichen. Nach der schrittweisen Schließung und Militarisierung der Grenze ist dieser Weg mittlerweile für viele versperrt. Daher führt die präferierte Fluchtroute über das Mittelmeer, mit den griechischen Ägäis-Inseln als Ziel. Da die Regierung die Ankommenden dort festhält, entwickelten sich die unmenschlichen Zustände in Lagern wie Moria auf der Insel Lesvos.

Leitungen belegt

Das EU-Türkei-Abkommen von 2016 sollte unter anderem Abschiebungen in großem Umfang direkt von den Inseln in die Türkei ermöglichen. Aufgrund rechtlicher Hindernisse und der Langsamkeit der Asylverfahren gelangen solche »Abschiebungen im Schnellverfahren« aber nur bei Wenigen. Mehrere Zehntausend schafften es weiter auf das Festland. Und auch die Migration über den Evros hält bis heute trotz aller Hindernisse an. Im Jahr 2020 zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 5.982 Ankünfte über die Landgrenze – die Dunkelziffer ist vermutlich höher.

Die Millionenstadt Thessaloniki ist für die meisten das nächste Reiseziel – auch für Menschen, die von den Inseln kommen. Dort angekommen, versuchten früher viele absichtlich von der Polizei aufgegriffen zu werden. Denn diese sollte eigentlich, laut griechischem Asylgesetz, im Inland angetroffene Migrant*innen registrieren und ihnen eine Aufenthaltsbescheinigung über 30 Tage ausstellen. In dieser Zeit soll dann ein Asylantrag gestellt werden. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist das nur via Skype-Anruf beim griechischen »Asylum Service« möglich. Die Polizei in Thessaloniki vergibt nur noch selten und willkürlich Bescheinigungen. Die 30-Tage-Frist ist zudem viel zu kurz: Die Leitungen zum Asylum Service sind ständig belegt.

»Ich versuche, schon seit April durchzukommen. Teilweise mit der Hilfe von Freunden mit sieben Telefonen gleichzeitig«, berichtet uns Rachid (2), der es vor elf Monaten über die Grenze schaffte. So wie er sind tausende Personen in und um Thessaloniki ohne offiziellen Status und Papiere. Viele von ihnen hatten noch keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Seit der Asylrechtsverschärfung vom Mai 2020 hat ein solcher Antrag in den allermeisten Fällen ohnehin keine Aussicht auf Erfolg.

Die gesammelte Unterbringung in Camps vereinfacht sogenannte Pushbacks.

Wer nicht selbstorganisiert eine Unterkunft in der Stadt findet, ist gezwungen, in Zelten im Camp Diavata zu leben, in dem die meisten unregistrierten Menschen Zuflucht finden. Die gesammelte Unterbringung in Camps erfüllt eine besondere Funktion: Sie vereinfacht sogenannte Pushbacks, die Migrant*innen seit etwa einem Jahr zunehmend auch aus dem Inland zu fürchten haben. Der Begriff beschreibt das gewaltsame Zurückdrängen der Menschen nach ihrem Grenzübertritt.

Illegale Pushbacks im Inland

Mit solchen de facto-Abschiebungen ohne Asylverfahren wird gegen das Verbot von Kollektivausweisungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Die Verantwortlichen kümmert das wenig: Als die Welt nur noch über das Corona-Virus sprach, erreichte diese Praxis eine neue Dimension. Wohl auch, weil der EU-Türkei-Deal nicht die erhofften Abschiebezahlen brachte.

Am Evros-Fluss wurden in der Vergangenheit vor allem Menschen zurückgedrängt, die gerade erst die Grenze überquert hatten. Auch auf dem offenen Meer finden Pushbacks statt. Die Verstrickungen der EU-Grenzschutzbehörde Frontex in diese brutale Praxis sorgte immer wieder für negative Berichterstattung. Nun werden aber auch zunehmend Migrant*innen aus den Camps im Inland oder von den Straßen der Städte in die Türkei zurückgebracht. Häufig wird ihnen versprochen, dass sie auf einer Polizeistation neue Papiere erhalten würden. Betroffene beschrieben der NGO »Border Violence Monitoring Network« (BVMN), dass sie stattdessen an maskierte Bewaffnete ohne Polizei-Embleme übergeben wurden. Nach stunden- oder tagelangem Gewahrsam an verschiedenen Orten brachten diese sie dann in kleinen Booten über die Grenze.

Dies belegt auch der Bericht einer kurdisch-irakischen Familie aus dem September 2020, die vergeblich versuchte sich in Thessaloniki zu registrieren. Sie gaben an, von Polizei und schwarz gekleideten Männern aus dem Camp verschleppt, und dann ohne ihre persönlichen Habseligkeiten in der Türkei ausgesetzt worden zu sein. BVMN veröffentlichte Zeugenberichte, die solche Pushbacks zudem als einen gewalttätigen Akt beschreiben: Schläge, Elektroschocks, gebrochene Arme.

Auch die Stadt hat sich durch die polizeilichen Kontrollen der Corona-Ausgangssperre für illegalisierte Menschen in ein Minenfeld verwandelt.

Im Diavata-Camp kommt es regelmäßig zu Razzien, bei denen Migrant*innen in Bussen zurück an die Grenze gebracht werden – unabhängig davon, ob sie gültige Papiere haben oder nicht. Diese kollektiven illegalen Abschiebungen direkt aus den Lagern sind ein neuerer Pushback-Trend. Aber auch die Stadt hat sich durch die polizeilichen Kontrollen der Corona-Ausgangssperre für illegalisierte Menschen in ein Minenfeld verwandelt. Jeder falsche Schritt kann die Verschleppung in die Türkei bedeuten.

Die gut geplanten Pushbacks legen eine Zusammenarbeit von Polizeien in ganz Nord-Griechenland nahe. Zeugenaussagen bestätigen außerdem, dass auch Frontex-Beamt*innen, insbesondere deutschsprachige, in die Aktionen am Fluss Evros verwickelt sind. Grundsätzlich sind solche Praktiken kaum ohne Wissen oder mindestens das aktive Wegsehen der EU-Behörden vorstellbar. Ende Januar setzte das Europaparlament nun eine Prüfgruppe ein, um die Vorwürfe gegen Frontex bezüglich der Pushbacks in der Ägäis zu untersuchen. Der EU-Behörde wird vorgeworfen, in das systematische Zurückdrängen oder Aussetzen von Migrant*innen auf dem offenen Meer verwickelt zu sein.

Solidarität bleibt notwendig

Für uns als deutschsprachige Linke stellt sich bei alledem die Frage nach möglichen Handlungsstrategien. Direkt gegen die weit entfernten Zustände vorzugehen scheint schwierig. Vor Ort gibt es kleine NGOs wie das »Mobile Info Team« oder selbstorganisierte Gruppen wie »Stop War on Migrants« in Thessaloniki, die mit großem Einsatz und oft unterfinanziert versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Deutschsprachige Gruppen sollten hier aktiv Kooperationen suchen, Besuche organisieren und mit Ressourcen unterstützen.

Rassismus und Ausbeutung prägen indes nicht bloß den griechischen Staat, sondern die gesamte EU und unser aller Leben. Deutschland ist mitverantwortlich für viele der genannten Missstände, und wir sollten Behörden hier zur Rechenschaft ziehen. Statt Menschen nach ihren Migrationsgründen einzuteilen, sollten wir deshalb versuchen, diese globalen Herrschaftsverhältnisse praktisch zu verändern. Das heißt zuallererst, dass das Töten an den Grenzen nicht zur akzeptierten Normalität werden darf. Denn dann endet auch der Widerstand gegen diese Verhältnisse. Deshalb sollten wir versuchen, die Aufmerksamkeit wieder stärker auf die Ereignisse an den EU-Außengrenzen zu lenken und das Bild zu ändern, dass von den Menschen dort gezeichnet wird – statt um »Eindringlinge« und »Fluchtwellen« muss es um »Menschenrechte« und »Solidarität« gehen. Dadurch wird es erst möglich, Widerstand und schließlich jene Gegenmacht aufzubauen, die diese Verhältnisse ändern könnte.

Lucy Nowak

ist in Thessaloniki Teil der Gruppe Stop War on Migrants.

Michael Schwarz

ist in der rheinischen Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.

Anmerkungen:

1) Der Begriff »Migrantin« statt »Geflüchteter« wird verwendet, um die Unterteilung nach Migrationsgrund zu vermeiden.

2) Name von den Autor*innen geändert.