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Mehr Legende als Wirklichkeit

Der faschistische »Marsch auf Rom« jährt sich im Oktober zum 100. Mal

Von Jens Renner

Faschist*innen im Staub auf einem Trampelpfad in Richtung Hauptstadt, Oktober 1922. Foto: Illustrazione Italiana/Wikimedia Commons. Gemeinfrei.

Zur Vorgeschichte der Ereignisse im Oktober 1922 gehört der Aufschwung der italienischen Arbeiterbewegung im »biennio rosso«, den »zwei roten Jahren« 1919/20. Durch Streiks konnte in der Industrie der Acht-Stunden-Tag durchgesetzt werden, auch Lohnerhöhungen wurden erkämpft, und die Gewerkschaften hatten mehr Mitglieder als je zuvor. Das Beispiel der Oktoberrevolution faszinierte nicht nur das städtische Proletariat, sondern auch die Landarbeiter*innen, die mit Revolten und Landbesetzungen für ihre Rechte kämpften. »Fare come in Russia« (»es wie in Russland machen«) wurde zum geflügelten Wort.

Das Kriegsende hatte aber nicht nur die Arbeiter*innen in Bewegung gesetzt, sondern auch viele Unteroffiziere und Offiziere, die nun nicht mehr gebraucht wurden. Ihnen bot sich seit 1919 ein neuer organisatorischer Bezugspunkt: Am 23. März gründeten sich in der Mailänder Industrie- und Handelskammer die Fasci italiani di combattimento (italienische Kampfbünde). Einen ersten Beweis ihrer Nützlichkeit für die Herrschenden lieferten sie im November 1920 in Bologna, einer Hochburg der Sozialist*innen. Durch Schüsse in die Menge, die dem neu gewählten Bürgermeister zujubelte, töteten die Faschist*innen neun Menschen und verletzten mehr als 100. Zusammen mit der staatlichen Militärpolizei beschossen sie das Rathaus, bis der Widerstand der Sozialist*innen zusammenbrach. Nach getaner Arbeit, für die sie von den Großgrundbesitzern der Provinz bezahlt wurden, trugen sie den Terror aufs Land. Die bewaffnete Staatsmacht sah tatenlos zu.

Wichtiger als die Geldspenden war die Kapitulation des politischen Liberalismus: Die bürgerlichen Regierungen ließen die Faschist*innen gewähren.

Schon im Juli 1921 konnte Mussolini triumphieren: »Es gibt keine ernsthafte bolschewistische Gefahr mehr in Italien. Der Bolschewismus ist so gut wie ausgerottet!« Im November 1921 konstituierte sich die faschistische Bewegung als Partito Nazionale Fascista (PNF). Das Jahr 1922 stand im Zeichen militärischer Aktionen der Faschist*innen; im Mai/Juni besetzten sie jeweils für mehrere Tage Ferrara und Bologna. Ein von den sozialistischen Gewerkschaften ausgerufener Generalstreik brach Anfang August zusammen, auch weil die Faschist*innen die Arbeit der öffentlichen Institutionen aufrechthielten.

Ein leichter Sieg

Am 20. September 1922 hielt Mussolini auf einer Massenkundgebung seine berühmte »Rede von Udine«, die vorweggenommene Regierungserklärung des Faschismus. Sie kombiniert widersprüchliche Elemente: das Bekenntnis zur Gewalt und zu Disziplin und Gehorsam; eine Absage an die Demokratie und die Ankündigung, die Massen zur Unterstützung italienischer Machtpolitik zu mobilisieren. Italiens Größe – statt einer »Politik der Entsagung und der Feigheit« – war das Hauptziel. Die Feinde des Faschismus müssten »eine Zeitlang in einer geistigen und politischen Quarantäne gehalten werden«. Bleiben solle die Monarchie, »damit das Volk nicht das Gefühl habe, als ob alles zusammenfiele«.

Finanzielle Zuwendungen erhielten die Faschist*innen vor allem von den Großagrariern, während sich die Industriellen bis Ende 1921 mit Spenden zurückhielten. Wichtiger als die Geldspenden war die Kapitulation des politischen Liberalismus: Die bürgerlichen Regierungen ließen die Faschist*innen gewähren. Angesichts der Schwäche des liberalen Premiers Luigi Facta suchten sie im Oktober 1922 die Entscheidung. Von ihrem am 24. Oktober begonnenen Parteitag in Neapel brachen sie zum »Marsch auf Rom« auf; in drei Marschsäulen sollten sich die faschistischen Massen auf Rom zubewegen. Zusammenstöße mit der Armee sollten dabei »unter allen Umständen« vermieden werden. Mussolini wartete derweil in Mailand, um sich notfalls in die Schweiz absetzen zu können. Die Nachrichten von den faschistischen Aufmärschen führten im politischen Rom zu hektischen Aktivitäten. Das Angebot, in eine von dem Konservativen Antonio Salandra geführte Koalitionsregierung einzusteigen, lehnte Mussolini ab.

Die Entscheidung führte schließlich König Vittorio Emanuele III. herbei. Am 28. Oktober weigerte er sich, die von der Regierung verfasste Proklamation über den Ausnahmezustand zu unterschreiben: So konnte die Armee nicht gegen die schwachen faschistischen Kampfgruppen eingesetzt werden. Insgesamt waren nur 14.000 Faschist*innen an drei Orten (Civitavecchia, Monterotondo und Tivoli) aufmarschiert. Sie waren schlecht ausgerüstet und hatten große Probleme mit der Beschaffung von Quartieren und Verpflegung. Der britische Historiker Ivone Kirkpatrick schreibt in seiner Mussolini-Biografie: »Weder zwischen den drei Kampfgruppen, noch zwischen ihnen und dem Hauptquartier in Perugia bestand Verbindung. Mit Geschützen und Panzern ausgerüstete Truppenverbände hätten leichtes Spiel gehabt, sie einzeln anzugreifen und aufzureiben.« Für die schlecht organisierte Truppe war es ein Glück, dass sie, statt den »Marsch auf Rom« wirklich durchzuführen, in sicherer Entfernung von der Hauptstadt den Gang der Dinge abwarten konnte.

Am 29. Oktober erklärte sich der König bereit, Mussolini zum Regierungschef zu machen. Gegen Mittag hielt Mussolini ein entsprechendes Telegramm in Händen; am nächsten Morgen traf er im Schlafwagen in Rom ein und wurde offiziell mit der Regierungsbildung beauftragt. Der König war sich der Tragweite des Ereignisses bewusst. Über den neuen Ministerpräsidenten sagte er: »Der Mann weiß, was er will, und wird nicht so bald wieder zurücktreten.« Mussolini regierte Italien bis zum 25. Juli 1943, als er durch eine Palastrevolte gestürzt wurde. Er wurde inhaftiert, später von den deutschen Besatzungstruppen befreit. Am 28. April 1945 wurde er in Dongo am Comer See von Partisanen hingerichtet.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.