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Auf Kosten des Klimas

Die EU-Kommission erklärt Atomkraft für nachhaltig – ein Irrweg

Von Angela Wolff

Atomkraft ist aufgrund ihrer begrenzten Kapazitäten rein rechnerisch nicht in der Lage, den Klimawandel aufzuhalten. Foto: Unsplash/Johannes Plenio

Spät am Silvesterabend zündete die EU-Kommission einen ganz besonderen Böller: Atomkraft und fossiles Erdgas werden im Entwurf zur EU-Taxonomie als nachhaltiges Investment eingestuft. Dass dieses Vorhaben, das sich lange abgezeichnet hatte, noch gestoppt wird, ist unwahrscheinlich: Es bräuchte mindestens 20 EU-Staaten, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten, oder mindestens 353 Abgeordnete im EU-Parlament. Das ist kaum in Sicht. Die Veröffentlichung des Entwurfs rief massive Kritik nicht nur von NGOs und Umweltgruppen hervor. Wissenschaftler*innen, die die EU-Kommission beraten, zeigten sich enttäuscht. Gas und Kernenergie als grün zu bezeichnen, sei so, »als würde man Pommes frites als Salat bezeichnen«. Von Greenwashing sprach selbst Wirtschafts- und Umweltminister Robert Habeck von den Grünen. Er vergaß allerdings zu erwähnen, dass der Widerstand gegen die Taxonomie aus dem letzten Entwurf zum Koalitionsvertrag gestrichen worden war.

Die Absicht der EU hat die Diskussion über eine Frage zugespitzt, die bereits seit Längerem vor allem in den Medien im Gange war: Ist nicht angesichts des Kampfes gegen den Klimawandel Atomenergie für eine zukünftige sichere Energieversorgung unverzichtbar? Schließlich stoßen Atomkraftwerke im Betrieb kaum Treibhausgase aus, so das Argument der internationalen Atomlobby und ihrer Unterstützer*innen in Redaktionen und Politik.

Aber: Die Frage, wie eine klimagerechte, nachhaltige und zukunftsfähige Energiestrategie aussehen sollte, lässt sich nicht allein anhand des CO2-Kriteriums beantworten. Ebenso wenig bedeutet der Umstand, dass die nukleare Stromerzeugung deutlich weniger Treibhausgase verursacht als fossile Brennstoffe, dass Atomkraft klimafreundlich ist. Denn in der Gesamtbetrachtung spielt auch die Konkurrenzsituation zu den erneuerbaren Energien eine entscheidende Rolle.

Auslaufmodell AKW

Eine Gesellschaft, die sich für die Nutzung der Atomkraft entscheidet, nimmt wissentlich auch alle Begleiterscheinungen dieses Energielieferanten in Kauf: Das Risiko schwerer Unfälle bis hin zur Atomkatastrophe, die mögliche militärische Nutzung der Technologie, nukleare Verseuchung und nicht zuletzt die Produktion von Atommüll, der über Jahrtausende hinweg eine Bedrohung für Mensch und Umwelt darstellt. Das Atomrisiko bleibt nicht bei der Generation, die den Strom genutzt hat, sondern geht unweigerlich auf nachkommende Generationen über. So stellt selbst das Atommüll-Bundesamt in einer Fachstellungnahme für das Bundesumweltministerium fest, dass »das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle bereits durch frühere Generationen auf heute verschoben wurde und zwangsläufig vielen weiteren Generationen erhalten bleiben wird.« 

Betrachtet man die Frage nach dem vermeintlich positiven Klimaeffekt von Atomenergie auf einer rein praktischen Ebene, wird schnell deutlich, dass die Diskussion um den angeblichen nuklearen »Klimaretter« eine Schein-Debatte ist. Fakt ist: Atomkraft ist aufgrund ihrer begrenzten Kapazitäten rein rechnerisch nicht in der Lage, den Klimawandel aufzuhalten. Für den Energiesektor ist sie nicht mehr als eine Nischentechnologie. Ein Blick auf den globalen Energiemix bestätigt das: Die derzeit in 33 Ländern betriebenen 442 Atomreaktoren decken lediglich etwa zwei Prozent des weltweiten Bruttoendenergieverbrauchs. Auch im Strommix spielt Atomkraft mit einem Anteil von zehn Prozent keine große Rolle. 

Atomkraft ist umgerechnet auf die Kilowattstunde die teuerste Art der Energieerzeugung.

Ihr Effekt auf die Klimabilanz ist nicht nur unerheblich, sondern obendrein auch nicht ausbaufähig. Um mit Atomenergie einen nennenswerten Beitrag zur Senkung der Treibhausgas-Emissionen zu erzielen, müsste die Atomindustrie die globale Reaktorflotte innerhalb weniger Jahre um mehrere Tausend Kraftwerke aufstocken. Von einem Branchenwachstum kann aber überhaupt keine Rede sein; vielmehr schrumpft der Atomsektor zusehends. In den kommenden zwei Jahrzehnten müsste die Industrie etwa 300 neue AKW in Betrieb nehmen, um allein die bestehenden Kapazitäten zu erhalten. Selbst das ist aus Zeit- und Kostengründen unrealistisch. Aktuell sind weltweit lediglich 52 neue Reaktoren in Bau – bei einigen Anlagen ist aufgrund von technischen Problemen zudem unklar, wann und ob sie jemals in Betrieb genommen werden können.

Zeitliche Verzögerungen und Kostenexplosionen sind bei der Errichtung und Inbetriebnahme eines AKW die Regel. Dass ein Kraftwerk in wenigen Jahren hochgezogen wird, kommt nur in Ländern vor, in denen die Sicherheitsbestimmungen lascher sind als etwa innerhalb der EU. Im internationalen Durchschnitt dauert der Anlagenbau zehn Jahre. Dabei ist die Planungs- und Genehmigungsphase allerdings noch nicht berücksichtigt. Zwischen Projektstart und Inbetriebnahme eines Reaktors liegen in demokratischen Ländern etwa 20 Jahre. Nicht nur die Bauzeiten sind für ein Investment unattraktiv, sondern auch der Preis. Ein AKW kostet im Schnitt zehn Milliarden Euro. Atomkraft ist umgerechnet auf die Kilowattstunde die teuerste Art der Energieerzeugung und nur mit staatlichen Subventionen realisierbar. Die weltweit größte Ratingagentur Standard & Poor’s warnt sogar ausdrücklich vor Investitionen in den Ausbau von Atomenergie. Als Hauptgrund nennt sie fehlende Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere im Vergleich zu regenerativen Energien. Kurz: Atomkraft ist ein Auslaufmodell. Und selbst wenn die Atomindustrie plötzlich in der Lage wäre, mit einem Schlag Tausende AKW-Projekte aus dem Boden zu stampfen: Für den Klimaschutz käme die vermeintliche Hilfe zu spät.

Kernenergie als Konkurrenz zur erneuerbaren Energie

Im Energiesektor ist der Ausbau von erneuerbaren Energien zusammen mit Energieeinsparungen, Effizienzmaßnahmen und dem Einsatz von Speichertechnologien der einzige Weg, Treibhausgas-Emissionen schnell und dauerhaft zu senken. Solar- und Windparkprojekte sind innerhalb von zwei bis fünf Jahren zu einem Bruchteil der Kosten realisierbar, die der Bau eines AKW beanspruchen würde. Erneuerbare Energien haben zudem eine deutlich bessere Klimabilanz als Atomkraft und gefährden mit ihrem Betrieb nicht Leben und Zukunft von Millionen Menschen.

Eine Kombination aus erneuerbaren Energien und Atomkraft ist keine Option. Atomkraft steht ebenso wie die Kohleverstromung für ein zentralistisches, träges, ineffizientes Versorgungssystem, das auf dem Prinzip der Grundlastsicherung basiert. Erneuerbare dagegen weisen den Weg in eine dezentral ausgerichtete Energieversorgung und eine effizienzorientierte, flexible Steuerung der Netze. Diese beiden Systeme sind nicht kompatibel, sie stehen in Konkurrenz zueinander. Atomkraftwerke powern auch dann durch, wenn der Bedarf eigentlich mit Ökostrom gedeckt werden könnte. Die Reaktoren können nicht flexibel genug herauf- und heruntergefahren werden, um ihre Stromproduktion an die wetter- und tageszeitbedingten Schwankungen bei den erneuerbaren Energien anzupassen.

Stattdessen erfolgt die Anpassung meist umgekehrt: Wind- und Solarstrom müssen weichen, wenn eine Netzüberlastung droht. Windräder stehen dann bei Sturm still, während Atommeiler weiterlaufen. Das Netzmanagement ist auf die fossil-atomare Grundlast-Ideologie ausgerichtet, nicht auf Flexibilität. Atomkraftwerke ergänzen die erneuerbaren Energien nicht, sondern sie verstopfen die Leitungen und blockieren die volle Nutzung der Wind- und Solarenergie. Das zeigt etwa auch die Situation im Norden Deutschlands, wo Atomstrom die Netze für Windkraft verstopft und ihren Ausbau seit Jahren blockiert.

Auch auf EU-Ebene besteht ein harter Konkurrenzkampf zwischen Atomkraft und erneuerbaren Energien. Das liegt vor allem an atomfreundlichen Staaten wie Frankreich, das massiv dafür streitet, dass die subventionsabhängige Nuklearbranche aus den Fördertöpfen bedient wird. Außerdem bedarf Frankreich einer Nuklearindustrie zur Erhaltung seines Kernwaffenarsenals. Nach dem Brexit ist Frankreich die einzige Atommacht der EU, an deren Drohpotenzial auch Deutschland zur Abstützung seiner Stellung in der Welt interessiert ist. Aber jeder Euro, der in die nukleare Hochsicherheitstechnologie fließt und am Ende noch Frankreichs Sprengköpfe finanziert, fehlt beim Umbau des Energiesektors und somit im Kampf gegen die Klimakrise. Tatsächlich fließen über Brüssel jede Menge Gelder in Atomkraft. So hat die EU in den vergangenen sechs Jahren 5,3 Milliarden Euro allein in die Atomforschung gesteckt, während sie Forschungsprojekte für Energiewende, Speichertechnologien, Netze, Energieeinsparungen und Energieeffizienz mit insgesamt nur 5,9 Milliarden Euro gefördert hat. Jetzt, nachdem die EU-Taxonomie tatsächlich Atomenergie als grün klassifiziert hat, dürfte der Geldhahn für den Atomsektor gegen alle Vernunft noch weiter geöffnet werden – auf Kosten des Klimas.

Angela Wolff

arbeitete bis vor Kurzem für die NGO »ausgestrahlt. Gemeinsam gegen Atomenergie«.