analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 676 | Wirtschaft & Soziales |Reihe: FAQ. Noch Fragen?

Wird die EU-Taxonomie ein Super-Greenwash?

Von Timo Luthmann

Sie ist eine Art Kompass, die Investitionen in grüne und ökologische Projekte lenken soll: Die Taxonomie ist das zentrale Projekt der EU, um ein ökologischeres Finanzwesen zu schaffen, sie soll somit einen Beitrag zum Europäischen Green Deal leisten. Ein Kernstück der Taxonomie sind diverse Kriterien zur Bestimmung, ob eine Wirtschaftstätigkeit in Hinblick auf verschiedene Umweltziele als nachhaltig einzustufen ist. Eine wichtige Regel ist das »Do no significant harm«-Prinzip, wonach Investitionen der Umwelt dienlich sein müssen, aber dabei weder den Menschen noch anderen Umweltzielen schaden sollen.

Die rahmengebende EU-Verordnung ist bereits 2020 in Kraft getreten. Ab 2022 soll sie im Bereich Klimaschutz und Klimawandelanpassung angewendet werden. Aktuell geht es um die konkreten Details sowie die technische Umsetzung, was zu politischen Konflikten führt – vor allem mit Blick auf Erdgas und Atomkraft. Innerhalb der EU setzen sich Frankreich, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien dafür ein, dass Atomkraft als »grüne« Technologie anerkannt wird. Deutschland indes möchte zusammen mit anderen osteuropäischen Staaten Gas mit in die Taxonomie aufnehmen. Hinzu kommt, dass verschiedene fossile und nukleare Lobbygruppen wie FORATOM und Eurogas versuchen, Einfluss zu nehmen, um die Kriterien in ihrem Sinne zu verwässern.

Der zentrale Akteur in Europa beim Lobbying für Atomkraft ist jedoch Frankreich. Um die Laufzeitenverlängerung und eine postulierte Modernisierung des veralteten Kraftwerksparks des hoch verschuldeten Staatskonzerns EDF zu finanzieren, braucht Paris Zugang zu europäischen Geldmitteln.

Beim EU-Gipfel Ende Oktober gab Kanzlerin Angela Merkel den Widerstand Deutschlands gegen eine Taxonomie mit Atom und Gas auf.

Ende April 2021 hatte die EU-Kommission aufgrund der politischen Konflikte beschlossen, die Entscheidung zu fossilem Gas und Atomkraft aufzuschieben. Beim EU-Gipfel Ende Oktober gab dann die scheidende Kanzlerin Angela Merkel den Widerstand Deutschlands gegen eine Taxonomie mit Atom und Gas auf. In der Folge kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen schnellen Gesetzgebungsvorschlag für eine Taxonomie mit Atom und Gas an. Zu rechnen ist damit, dass dieser Vorschlag Ende November, Anfang Dezember von der Kommission veröffentlicht wird. Dass dieser im EU-Parlament oder vom EU-Rat noch abgelehnt wird, ist nahezu ausgeschlossen. Denn dazu bräuchte es eine qualifizierte Mehrheit von über 50 Prozent. Sehr unwahrscheinlich bei einem so umkämpften Thema. Politisch skandalös ist, wie die scheidende Bundesregierung und die EU-Kommission das politische Vakuum in Deutschland nutzen, um diese sehr wichtige – und falsche – energiepolitische Weichenstellung vorzunehmen.

Für die Klimagerechtigkeits- und die Anti-Atombewegung ist die EU-Taxonomie ein strategisch wichtiges Terrain. Sie ist eine extrem mächtige Verordnung, auf die sich später eine Vielzahl von anderen Verordnungen, Förderungen und Kreditprogrammen beziehen werden. In Zukunft werden sich nicht nur Banken, Versicherungen und andere Finanzmarktakteure bei ihren Investitionsentscheidungen nach diesem EU-Standard richten, sondern auch Kleinanleger*innen. Und nicht nur das: Auch Förder- und Steuergelder sowie europäische und nationale Beihilfen würden in Atom und Gas fließen, wenn diese Energiequellen das Nachhaltigkeitslabel bekommen.

Aus energiepolitischer Perspektive wäre dies ein Super-Greenwash, der zu fehlgeleiteten Investitionen in falsche Klimalösungen mit jahrzehntelangen Lock-In-Effekten führt. So könnten Investitionen in Gaskraftwerke fast das gleiche Nachhaltigkeitslabel bekommen wie solche für den Bau von Windrädern oder Solaranlagen. Dies wäre auch ein harter Schlag für die erneuerbaren Energien, in die weniger investiert werden würde. Aus umweltpolitischer Sicht wäre eine EU-Taxonomie mit Atomkraft ein folgenreicher Backlash auf europäischer Ebene. Wenn Atomkraft als »grüne« Technologie innerhalb der EU-Taxonomie gelistet wird, hätten die bislang privatwirtschaftlich kaum zu finanzierenden Atomprojekte deutlich bessere Realisierungschancen. Umgekehrt würde ein klarer Ausschluss aus der Taxonomie die Finanzierungsmöglichkeiten von solchen Projekten deutlich einschränken.

Mit der Aufnahme von Gas und Atom in die Taxonomie würde zudem ein zentrales Werkzeug des Europäischen Green Deals scheitern. Nur politischer Druck von sozialen Bewegungen und Zivilgesellschaft auf Olaf Scholz und die Grünen kann sie dazu bringen, eine klare öffentliche Ansage in Richtung EU-Kommission zu machen.

Timo Luthmann

arbeitet für .ausgestrahlt – gemeinsam gegen Atomenergie.