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Eine echte Alternative

Es gibt sie, die Möglichkeit einer friedlichen Ko-Existenz zwischen Jüdinnen, Juden und Palästinenser*innen

Von Mati Shemo`elof

Der Hermannplatz in Berlin Neukölln von oben, mit Marktständen, Menschen, an einem grauen Tag
»In den Straßen des Kibbuz Berlin kann man die verschiedenen Gesichter derseben scheiternden Revolution sehen.« Schreibt Mati Shemo'elof in seinem Gedicht »5«. Hermannplatz in Berlin-Neukölln im Oktober 2023. Foto: ak

Ich arbeite als Stadtführer in Berlin und kläre über die antisemitische Vergangenheit, die Juden vom Mittelalter bis zur Neuzeit erlebt haben, auf. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober bin ich damit konfrontiert, über den Antisemitismus zu sprechen, den ich derzeit in Berlin erlebe.

In der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober gab es in Berlin eine Serie von gewalttätigen Vorfällen im Zusammenhang mit dem Krieg, den Israel gegen die Hamas im Gazastreifen führt. Unbekannte warfen Molotowcocktails auf das Gebäude einer jüdischen Gemeinde (hebr. Adat Israel) in Berlin, zu der eine Synagoge, ein Kindergarten und ein Gemeindezentrum gehören. Bei dem Angriff wurde niemand verletzt, und es entstand kein Sachschaden. Die Molotowcocktails verfehlten ihr Ziel und landeten auf dem Gehweg vor dem Gemeindegebäude. Zur gleichen Zeit nahm die Polizei einen Mann fest, der antisemitische Parolen vor der Synagoge der Gemeinde rief. Am selben Mittwochmorgen wurde eine weitere Person festgenommen, die ein Tuch mit der palästinensischen Flagge trug, die Barrieren überquerte und sich dem Gemeindegebäude näherte.

In den letzten Tagen wurden Davidstern-Graffiti an Gebäuden entdeckt, in denen Juden leben. Die Identität der Täter und ihre Absichten sind noch nicht bekannt, aber die Schmierereien haben große Angst in der jüdischen Gemeinschaft ausgelöst.

Steinmeier versprach ein Gefühl der Sicherheit, aber Jüdinnen und Juden in Berlin haben Angst.

Laut Medienberichten klopften in der hessischen Stadt Gießen zwei Männer an die Wohnungstür eines 34-jährigen Israelis, der eine israelische Flagge an seinem Balkon befestigt hatte, und forderten aggressiv, dass er sie entferne. Als er sich weigerte, entstand ein Streit mit antisemitischen Beschimpfungen. Während des Streits drang einer der Männer in die Wohnung ein, riss die Flagge vom Balkon, schlug dem Israeli beim Hinauslaufen ins Gesicht und schleuderte ihn gegen den Türrahmen. Der Israeli erlitt Prellungen. Laut Berichten in der Zeitung Die Zeit sucht die Polizei nach Zeug*innen.

Am Samstag, dem 14. Oktober, versammelten sich Jüdinnen und Juden an der Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg und zeigten Bilder von mehr als 200 Geiseln, während der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach: »Juden in Deutschland sollten nie wieder um ihr Leben fürchten müssen. Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ist Teil des Selbstverständnisses unserer Demokratie. Die Sicherheit der Juden ist in die Grundlage unserer Demokratie geschrieben. Und nur, wenn unsere jüdischen Mitbürger in Frieden und Sicherheit leben, kann es unser ganzes Land auch.« Steinmeier versprach also ein Gefühl der Sicherheit, aber Jüdinnen und Juden in Berlin haben Angst.

Deutschland verliert die Demokratie

Der Krieg hat den Status quo der deutschen Demokratie verändert. In pauschalen Entscheidungen wurde in einigen Städten wie Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin palästinensischen Gruppen das Demonstrieren gegen den Krieg in Gaza verboten. Die Prämisse der Entscheidung ist, dass alle Demonstrationen gegen den Krieg eine Identifizierung mit der Hamas und, damit einhergehend, ein antisemitisches Statement gegen jüdisches Leben in Israel seien:

»In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versammlungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten. Diese Repressionen bestrafen auch Demonstrationen wie ›Jugend gegen Rassismus‹ und ›Jüdische Ber­li­ne­r*in­nen gegen Gewalt in Nahost‹. In einem besonders absurden Fall wurde eine jüdische Israelin festgenommen, weil sie ein Schild in der Hand hielt, auf dem sie den Krieg, den ihr Land führt, anprangerte.

Die Polizei hat keine glaubwürdige Verteidigung für diese Entscheidungen geliefert. Praktisch alle Absagen, einschließlich derjenigen, die von jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen verbieten, wurden von der Polizei zum Teil mit der ›unmittelbaren Gefahr‹ von ›volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen‹ begründet. Diese Behauptungen dienen unserer Meinung nach dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken.« (Offener Brief von über 100 Juden und Jüdinnen)

Dies führte zu Ärger, Frustration und Wut unter der palästinensischen Bevölkerung in Deutschland. Sie sahen ihr demokratisches Recht, sich zu versammeln und auf friedliche Weise gegen das Unrecht zu protestieren, das gegen ihr Volk begangen wird, massiv eingeschränkt

Der scheinbare Wunsch der Deutschen, jüdisches Leben zu schützen, wurde zu einer Belastung, welche die Möglichkeit der Solidarität zwischen jüdischen Menschen und Palästinenser*innen erschwert, während eben diese gleichzeitig unangemeldet demonstrieren und gegen die Besatzung und Fortsetzung der Belagerung protestieren.

Die Hoffnung zu bewahren, ist ein politisches Werkzeug für die Zukunft Israels und Palästinas

Ich gehöre zu einer großen Gruppe von jüdischen Israelis, die aus Abscheu vor der anhaltenden Besatzungspolitik des Staates Israel und der unmenschlichen Blockade des Gazastreifens nach Berlin gekommen sind. Wir verließen unser Land vor etwa zehn Jahren nach Berlin. Hier nutzten wir die seltene Möglichkeit der Begegnung mit der arabischen Diaspora und den Palästinenser*innen, die aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland gekommen waren.

In den Straßen des Kibbuz Berlin

kann man die verschiedenen Gesichter derselben

scheiternden Revolution sehen

die kleinen Schatten, die auf die Straße geworfen werden

wie Friedhöfe, auf denen das Unkraut wuchert, während die

Stadt und ihre Flüchtlinge

Exilanten und Migranten nicht mehr auseinanderzuhalten sind

und trotzdem erkennt der Turm auf dem Alexanderplatz die

Narben

auf der Hand

wo etwas abbrach

das sich nicht fortschreibt.

»5« Gedicht aus Mati Shemo`elof´s Gedichtband »Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe: Gedichte«, Übersetzung:  Gundula Schiffer, Parsitenpresse, 2023

Die schrecklichen Massaker, die an der israelischen Grenze zu Gaza am 7. Oktober geschehen sind, müssen verurteilt werden. Keine palästinensische Befreiungsorganisation darf sich hinter diese Taten stellen. Die scheußlichen Verbrechen, die im Namen der palästinensischen Sache verübt wurden, darunter die Entführung Hunderter Israelis, unter ihnen Familien und Alte, hat die Möglichkeit einer langfristigen politischen Lösung oder eines Friedensabkommens mit der Hamas zerstört. Auch israelische und jüdische Communities außerhalb Israels sind von dem Trauma, das Israel zugefügt wurde, getroffen.

Wir müssen uns daran erinnern: Hamas will die Möglichkeit einer friedlichen Ko-Existenz zwischen Juden, Jüdinnen und Palästinenser*innen zerstören. Mit der Brutalität des Massakers hat die Hamas versucht, die Vorstellung von einem friedlichen Zusammenleben zu zerstören.

Wieso Israel die Hamas unterstützte

Der Intercept deckte auf, das Israel die Herrschaft der Hamas über den Gazastreifen förderte: »Brigadegeneral Yitzhak Segev, der in den frühen 1980er Jahren israelischer Militärgouverneur in Gaza war, erzählte einem Reporter der New York Times, dass er geholfen habe, die palästinensische islamistische Bewegung als ›Gegengewicht‹ zu den Säkularisten und Linken der Palästinensischen Befreiungsorganisation und der Fatah-Partei unter der Führung von Jassir Arafat zu finanzieren (der selbst die Hamas als ›eine Kreatur Israels‹ bezeichnete).«

Israel unterstützte die Fortsetzung der Hamas-Herrschaft und ignorierte völlig die Stärkung der palästinensischen Autonomiebehörde und ihres Führers Abu Mazen (Mahmud Abbas) oder anderer gewaltfreier Führer.

Dies steht im Zusammenhang mit der scharfen Beobachtung von Dr. Almog Behar auf der Website Haokets:

»Es war Bezalel Smotrich (ein rechtsextremer Politiker, derzeitiger israelischer Finanzminister, Anm. M. Shemo´elof.), der im Oktober 2015 sagte, dass für ihn ›die palästinensische Autonomiebehörde eine Last und die Hamas ein Gewinn‹ sei. Damit drückte er Netanjahus eigene Wahrnehmung aus, die uns zu diesem Moment geführt hat. Die Hamas war eine strategische Wahl von Netanjahu, weil er eine Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung anstrebte und jeden Anspruch auf Friedensverhandlungen mit der palästinensischen Autonomiebehörde verhindern wollte. Bis zum vergangenen Samstag war Netanjahu sicher, dass seine Strategie erfolgreich war und dass sie über Generationen hinweg stabil sein würde, plus oder minus kleiner Kriege alle anderthalb oder zwei Jahre, mit Dutzenden oder mehreren hundert israelischen Toten. Das war seine Vorstellung. Aber am Samstag davor kam die Katastrophe, und Netanjahus Konzept brach zusammen. Netanjahu hat dieses Konzept nicht erfunden, und schon Ende der 1980er Jahre sah Israel die Förderung der Hamas als Gegengewicht zur Fatah-Bewegung, Ariel Sharons Rückzug machte diese Situation möglich. Aber Netanjahu war der Urheber dieser Politik und verhalf ihr zu einem Höhepunkt, und das ist, was er 2019 sagte: ›Wer die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln will, sollte die Stärkung der Hamas und den Transfer von Geld an die Hamas unterstützen… Das ist Teil unserer Strategie, um zwischen den Palästinensern in Gaza und den Palästinensern in Judäa und Samaria zu unterscheiden.‹«

Das Leben in der Diaspora

Das Leben in der Diaspora ermöglicht es uns, eine gemeinsame Front von Juden und Jüdinnen, Palästinenser*innen und arabischen Menschen zu bilden und eine einheitliche Front gegen die Regime zu schaffen, die uns unterdrücken. Das ist einer der Gründe, warum ich nach Berlin ausgewandert bin.

Ich erinnere mich, dass ich 2012 nach Berlin eingeladen wurde und eine gemeinsame Demonstration von Iraner*innen und Israelis gegen den drohenden Krieg Israels mit dem Iran sah (der damalige Präsident Ahmadinedschad drohte, Israel zu zerstören, und Netanjahu nutzte dies, um sein korruptes und kriminelles Regime zu stärken). Ich traute meinen Augen nicht. Wir gingen zusammen durch die Straßen von Neukölln mit iranischer und israelischer Musik. Als iranischer Jude habe ich etwas gesehen, das ich mir nicht vorstellen konnte. Denn bis heute kann ich nicht in den Iran reisen, weil Israel und der Iran verfeindete Länder sind.

Wir gingen zusammen durch die Straßen von Neukölln mit iranischer und israelischer Musik. Als iranischer Jude habe ich etwas gesehen, das ich mir nicht vorstellen konnte.

Das ist das Geschenk, das uns die Diaspora gemacht hat. Ich habe dieses Geschenk genutzt, mit der Literaturgruppe, die ich zusammen mit meiner Kollegin Hila Amit gegründet habe: »Anu: Juden und Araber schreiben in Berlin«. Nach einer Reihe von Treffen und Symposien konnten wir zusammen mit Alaa Obeid ein binationales Festival rund um die Idee der »Nahost-Union« ins Leben rufen, die nach dem Frieden zwischen Israel und Palästina entstehen wird. Genau wie die Europäische Union, die nach zwei Weltkriegen, Hunderten von Jahren des Kolonialismus und einem Holocaust entstanden ist.

Ich möchte mit einer wichtigen Botschaft des palästinensisch-israelischen ehemaligen Parlamentsmitglieds der Meretz-Partei عيسوي فريج Esawi Freige schließen: »Es ist unsere Pflicht, dem Messer der Hamas-Mörder die Stirn zu bieten und eine echte Alternative zu präsentieren: den Dialog, die Anerkennung des Schmerzes, das Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit (zwischen Juden und Palästinensern; mein Kommentar M.S).«

Mati Shemo`elof

ist ein arabisch-jüdischer Autor aus Haifa in Israel. Er lebt seit einigen Jahren in Berlin.

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