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Kolonie der NATO-Staaten (Teil 2)

Afghanistan – Perspektiven für ein zerstörtes Land

Von Matin Baraki

Die Möglichkeit, dass es, wie bereits in den Jahren von 1992 bis 1995, zu einem Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Warlords kommen könnte, ist nicht ausgeschlossen. Damals sind allein im Jahr 1992 in Kabul über 50.000 Menschen getötet worden.

Die Folge eines solchen Bürgerkriegs wäre eine Spaltung des Landes. Die islamisch geprägten paschtunischen Widerstandsbewegungen würden Gebiete in Süd- und Ostafghanistan entlang der pakistanischen Grenze besetzen. Der Norden und der Westen des Landes würden von den tadjikischen und usbekischen, Mittelafghanistan von den Hasarah-Warlords kontrolliert werden. Damit wäre Afghanistan de facto geteilt, aber ein Ende der innerafghanischen Konflikte würde das nicht bedeuten. Eine Rückkehr der Taliban an die Macht in Kabul scheint jedoch ausgeschlossen. Zum einen hat die NATO genügend afghanische Sicherheitskräfte ausgebildet und ausgerüstet. Darüber hinaus werden noch Tausende inländische und 150.000 ausländische Söldner_innen im Einsatz sein. Hinzu kommen mehrere tausend Soldat_innen aus anderen NATO-Ländern unter der neuen Bezeichnung »Resolute Support« (RS).

Es ist nicht ausgeschlossen – so sehen es auch diverse Verträge und Erklärungen der NATO-Länder mit der Kabuler Administration vor – , dass im »Notfall« eine Rückkehr der NATO-Truppen in beliebiger Stärke möglich sein wird. Insgesamt bleiben 16.000 ausländische Soldat_innen, darunter 13.000 des »Resolute Supports« am Hindukusch. Derzeit wird offiziell behauptet, dass zwischen 12.900 und 13.100 Soldat_innen (die größten Kontingente stellen die USA mit 6.800, dass Nicht-NATO-Mitglied Georgien mit 870, Deutschland mit 980, Italien mit 830, Rumänien mit 650, die Türkei mit 500 und Großbritannien mit 470 Soldaten) am Hindukusch im Einsatz seien.

Obwohl die US-Führung es beharrlich leugnet: Die Special Forces haben einen Kampfauftrag. Vor allem sollen sie in jenen Gebieten, über die Kabul keine Kontrolle mehr hat, das Entstehen einer eigenen Verwaltung der Aufständischen verhindern.

Verschwiegen werden dabei jedoch die 3.000 Angehörigen der »Special Forces« der USA. Dieser Teil der US-Interventionstruppen untersteht weder dem Kommando von »Resolute Support«, noch hat er ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Darüber hinaus sind diese Verbände nicht an die Verträge zwischen den USA und der Kabuler Administration gebunden und müssen sich auch nicht an die für die übrigen US-Streitkräfte in Afghanistan vorgesehenen Einsatzregeln halten. Obwohl es die US-Führung beharrlich leugnet: Die »Special Forces« haben einen definitiven Kampfauftrag. Ihre Hauptaufgabe ist es, in jenen Gebieten, über die Kabul keine Kontrolle mehr hat, das Entstehen einer eigenen Verwaltung der Aufständischen zu verhindern. Seit der Einnahme von Kunduz durch den afghanischen Widerstand haben die USA und andere NATO-Länder ihre langfristige Militärpräsenz am Hindukusch über 2016 hinaus beschlossen. Die Bundeswehr werde »auf unbestimmte Zeit in Afghanistan« bleiben, hatte Ursula von der Leyen im Dezember 2015 in Masare Sharif konkretisiert.

Oder anders ausgedrückt: Sie ist gekommen um zu bleiben. »Die Unterstützung eines stabilen Afghanistan liegt in unserem eigenen Sicherheitsinteresse«, betonte der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 1. Dezember 2015. Dass so ein »stabiles Afghanistan« überhaupt möglich ist, muss nach 17 Jahren NATO-Krieg bezweifelt werden. Realistischerweise wird Afghanistan im günstigsten Fall »irakisiert«, im ungünstigsten Fall wird es zu einem zweiten Somalia gemacht werden.

Die aktuelle afghanische Regierung trägt ihren Teil zur Fortsetzung der nachhaltigen Zerstörung des Landes bei. Auf massiven Druck durch westliche Politiker_innen, besonders aus den USA, hatten sich »die beiden wichtigsten Räuberhäuptlinge«, so die Mitteldeutsche Zeitung, Ashraf Ghani Ahmadzai und Abdullah Abdullah am 21. September auf die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« geeinigt. Abdullah wurde zum »Chief Executive Officer« ernannt und Ahmadzai am 29. September 2014 in das Amt des Präsidenten eingeführt. Einen Chief Executive Officer gibt es als Amt in Afghanistan nicht, es steht damit im Widerspruch zur Verfassung des Landes. »Ohne fortwährenden Druck aus Washington würde Ashraf Ghani Ahmadzai wohl an diesem Montag nicht als afghanischer Präsident vereidigt werden«, hieß es in der FAZ.

Ein Präsident, aber keine funktionsfähige Regierung

Schon am 30. September 2014 hatten Ahmadzais Sicherheitsberater, Mohammad Hanif Atmar, und der US-Botschafter in Kabul, James Cunningham, das Sicherheitsabkommen zwischen den beiden Ländern unterzeichnet. Einen weiteren Vertrag mit der NATO unterzeichnete Atmar unmittelbar danach. Damit wurde Afghanistan vertraglich zu einem Militärprotektorat der Vereinigten Staaten und der NATO degradiert. Man kann bei alldem von keiner funktionsfähigen Regierung sprechen. Es gibt am Hindukusch lediglich eine nominelle Administration, die als »Regierung der Nationalen Einheit« bezeichnet, aber von kaum jemandem ernst genommen wird. In den sozialen Netzen machen sich die Afghan_innen lustig über die Kabuler Regierung. »Der Kampf um die Demokratie ist in Afghanistan gescheitert, gesiegt haben die Taliban«, schrieb die Zeitung »Mlada Fronta Dnes« aus Prag.

Das mit dem afghanischen Warlordvirus infizierte politische System wird auf absehbare Zeit fragil sein. Das Land wird darüber hinaus politisch, ökonomisch und militärisch völlig vom Westen, vor allem von den USA abhängig bleiben.

Der gesamte Norden Afghanistans, der immer zur »sicheren Zone« erklärt worden war, ist zum Schlachtfeld degradiert geworden. Die Stadt Kunduz, in der vor dem Abzug der Kampftruppen 1.400 Bundeswehrsoldat_innen im Einsatz waren, so Wolfgang Bauer in der Zeit, »galt einst als Symbol für den Wiederaufbau Afghanistans. Jetzt steht Kunduz für seinen erneuten Niedergang«. Die blitzartige Einnahme dieser nordafghanischen Provinzhauptstadt im ehemals deutschen Besatzungssektor am 28. September 2015 durch den islamisch geprägten Widerstand ist eine dreifache Niederlage für die Administration in Kabul und für die NATO-Besatzung: politisch, moralisch und militärisch.

Politisch, weil die militärische Besatzung in der afghanischen Bevölkerung verachtet werden, aber die Taliban relativ wohlwollend, beziehungsweise als kleineres Übel betrachtet werden. Moralisch, weil die afghanische Administration »als Pudel der USA« gilt und die NATO-Soldaten als Mörder von Tausenden afghanischer Zivilisten gelten. Militärisch, weil die NATO es in 17 Jahren Krieg mit zum Teil 150.000 Soldaten nicht geschafft hat, das Land zu stabilisieren. Das Auswärtige Amt konstatiert in einem vertraulichen Bericht »große Sicherheitsprobleme und Menschenrechtsverletzungen« am Hindukusch. Dazu gehören die Bombardierung des Krankenhauses der Ärzte ohne Grenzen »Médecins Sans Frontiéres« (MSF) im Oktober2015 in Kunduz durch die US-militärische Besatzung. Dazu gehört die Erstürmung des Flughafen Kunduz durch Talibankämpfer,dazu gehören die in den vergangenen Monaten in immer dichteren Abständen erfolgten Anschläge und Bombenattentate, zum Teil sind es mehrere am Tag. Laut UN-Angaben sind im Jahr 2016 mindestens 11.418 Menschen in diesen Kämpfen umgekommen, die Zahlen steigen.

Die Taliban gewinnen dabei an Land, dafür spricht auch die nur knapp abgewendete Übernahme der südafghanischen Provinz Helmand Ende 2015. Helmand ist eine der größten Provinzen des Landes. Der Vormarsch der Taliban wird dort seitens der Bevölkerung nicht selten mit Wohlwollen aufgenommen. Die Menschen sind zermürbt von den jahrelangen Kämpfen und verärgert über das brutale Vorgehen der afghanischen Armee. Bei den Angriffen des Militärs werden Wohnhäuser und Bauernhöfe zerstört, Entschädigung gibt es keine.

Kurz vor dem Zusammenbruch

Zur Zeit ist die afghanische Armee, so wie in Helmand, in der Übermacht, aber die Zahlen der Toten und Verletzten durch Gefechte mit Taliban-Kämpfern sind enorm hoch. In den Kämpfen dort sind laut Medienberichten auch US-amerikanische und britische Spezialkräfte im Einsatz. Die Provinz Helmand ist vor allem das Zentrum der Opiumproduktion und das Herz des Drogenhandels. Wer sie kontrolliert, hat Zugang zur Einnahme von Milliarden von Dollar. Deswegen ist die Provinz von größtem finanziellem Interesse für die Warlords und Drogenbarone, die hohen Funktionsträger des Staates, die den Drogenhandel am Hindukusch dominieren. In einem Bericht der Bundeswehr wird den Taliban eine »zunehmend erfolgreiche Kampfführung« bescheinigt. Sie können ihre Aktionen »effektiver koordinieren« und in größeren Gruppen auftreten. Gleichzeitig wird von einem drohenden Zusammenbruch der afghanischen Sicherheitskräfte, die u.a. auch von der Bundeswehr aufgebaut worden waren, gewarnt.

Nach nachhaltigen Lösungen zum Frieden wird dennoch nicht gesucht. Diese könnten zum Beispielen in folgenden Vorschlägen bestehen:

In der Region um Afghanistan sollte auf eine mittelsüdasiatische Union hingearbeitet werden. Neben Afghanistan sollten ihr die vier mittelasiatischen Länder Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan, sowie Iran, Pakistan und Indien angehören, denn alle diese Länder haben viele Gemeinsamkeiten, wie Sprachen, Religionen und Geschichte. Als vertrauensbildende Maßnahme sollte Afghanistan als erstes Land nach etwa fünf Jahren seine nationale Armee auflösen. Eine mittelsüdasiatische Union könnte zu einer endgültigen Lösung des Kaschmirkonfliktes zwischen Indien und Pakistan und des Konfliktes um die Durandlinie zwischen Afghanistan und Pakistan beitragen.

Dann wäre es an der Zeit, die Atomwaffenarsenale Indiens und Pakistans abzuschaffen. Dadurch könnte eine der konfliktreichsten Regionen des asiatischen Kontinents zu einer Zone des Friedens, der Stabilität und der Prosperität werden.

Matin Baraki

lehrte Internationale Politik an den Universitäten Marburg, Gießen, Kassel und Münster sowie an der FHS-Fulda. Er ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg.

Dieser Beitrag ist eine redaktionelle Fassung eines Vortrags aus dem Jahr 2016. Der erste Teil erschien in ak 624.

Anmerkung:

1) Thomas Ruttig: Die Reichtümer Afghanistans, in: Le Monde diplomatique, Oktober 2014.