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Schön traurig

Musa Okwongas »Es ging immer nur um Liebe« ist ein Buch über Berlin, den Brexit und große Gefühle

Von Jacinta Nandi

Der Erzähler wollte dem Rassismus in Großbritannien entfliehen, aber die deutsche Tristesse ist oft auch nicht besser. Foto: Matthias Berg / Flickr

Irgendwie finde ich es doch schade, dass die deutsche Übersetzung die Du’s und Dir’s und Dich’s nicht großgeschrieben hat – denn aus irgendeinem Grund, den ich nicht erklären kann, finde ich, dass diese sprachliche Entscheidung ein bisschen mehr von der Intimität des Originaltextes vermittelt hätte, der sich fast wie ein Brief liest. Aber das ist kleinherzig von mir, denn abgesehen von dieser kleinen Sache, ist Marie Isabel Matthews-Schlinzigs deutsche Version von Musa Okwongas autobiografischer Novelle nahezu perfekt.

Eine Novelle, die sich wie ein Brief liest, der an die Leser*innen adressiert ist, aber eigentlich an den Autor selbst. Der Ich-Erzähler (vielleicht besser genannt Dich-Erzähler) in Okwongas traurigem, berührendem und sehr hoffnungsvollem Buch ist ein namenloser Protagonist, der viele biografische Details mit dem Autor teilt: Er ist ein schwarzer Brite, aus der oberen Mittelschicht (oder vielleicht Oberschicht? Ich bin zu Arbeiterklasse, um es richtig zu erkennen!), der den UKIP-Vibes der Insel entfliehen möchte. Er verliebt sich in Berlin, die hedonistische deutsche Hauptstadt, und versucht, sich nebenbei zu verlieben. Die Einsamkeit der Partner*innensuche in dieser kalten Stadt wird deprimierend und beinahe lustig dargestellt. Gleichzeitig schlägt er sich als freiberuflicher Autor durch und vermeidet es, seine Kontoauszüge zu oft anzuschauen (besser ist es in diesem Beruf, ehrlich gesagt). Er hat seinem Land den Rücken gekehrt, weil er sich immer öfter durch die Anti-Immigrations-Rhetorik der Politiker*innen, der Behörden, isoliert fühlte. Aber jetzt muss er sich dem Rassismus seiner neuen Heimat stellen. Ein Land, in dem er nicht nur »Ausländer« ist, sondern ein Land, in dem, wenn wir ehrlich sind, Schwarze (und Nicht-Weiße im Allgemeinen) nie wirklich dazu gehören sollen.

Im Hintergrund immer: sein 40. Geburtstag, der bald kommt. Deprimierend genug, könnte man meinen, nur bei dem Dich-Erzähler ist es das Alter, in dem sein Vater in einer Revolution in Uganda starb.

Großstadt

Die Stadt Berlin, diese einsame Stadt voller wilder Versprechen und wilder Nächte, eine Stadt, die auch ohne Pandemie so eine tiefe, öde Isolation bedeuten kann, beschreibt er mit dem Blick eines Neuangekommenen: manchmal so naiv und optimistisch, dass es fast (aber nie wirklich?) sentimental wird. Trotz den Freundschaften und Bekanntschaften, die er in der Hipster-Hauptstadt findet, ist er oft allein, isoliert, umgeben von einer Stadt, einem Land, einer Welt, die immer gefährlicher wird – auch, oder vielleicht besonders, für Menschen, die wie er aussehen. Denn die Rechten gewinnen gerade.

Die Expat-Romane, die über Deutschland geschrieben werden, müssen in Berlin spielen. Gesetz, sorry. Das war bei Christopher Isherwood so, und es ist bei Lauren Oyler und Musa Okwonga so. Es wird niemals ein Roman von einem englischsprachigen Frischling kommen, der in Bielefeld spielt. Denn in diesem Buch, wie in allen Büchern über Berlin, ist die Stadt unglaublich wichtig, und der Versuch, sie zu verstehen, genauso wichtig wie der Versuch, hier anzukommen. In Okwongas Buch ist Berlin die wichtigste Nebenfigur überhaupt. (Die zweitwichtigste Nebenfigur ist sein Therapeut, der sehr selbstzufrieden ist!) Die Stadt wird in einer Prosa beschrieben, die melancholisch ist und immer fast aber doch nie sentimental wird.

Die Einsamkeit der Partner*innensuche in dieser kalten Stadt wird deprimierend und beinahe lustig dargestellt.

»Berlin ist keine Blase. Viele werden es so nennen, sogar jene, die es besser wissen sollten. Es ist keine Blase. Eine Blase ist eine sorgfältig abgeschlossene Welt, deren Bewohner*innen nicht bemerken, was außerhalb von ihr passiert. Berlin ist etwas anderes. Es ist ein Zufluchtsort, eine Enklave, ein sicherer Hafen.«

Immer noch Deutschland

Es kann manchmal frustrierend sein, für die »Ausländer*innen«, die hier länger sind, wie glücklich sich die Brexit-Expats, Brexiles nannten wir sie, zuerst gefühlt haben. Ich kann mir nur vorstellen, dass es für die echten Berliner*innen noch frustrierender ist. Aus Wut über den Brexit haben viele Neuangekommene einen sehr sturen Blick auf ihre Wahlheimat. Eine zufriedene Dankbarkeit über pünktliche Züge, billige Kitas oder »funktionierende« Krankenhäuser kann dazu führen, dass man einfach ignoriert, dass Deutschland ein konservatives, neoliberales Land ist, in dem die Obdachlosen nicht krankenversichert sind, die deutsche Bahn sehr teuer, aber doch subventioniert ist, und dass in Berlin verheiratete Ärzt*innen und Anwält*innen genau so viel Kitakosten zahlen wie alleinerziehende Kik-Mitarbeiter*innen.

Das Buch erzählt auch die andere Seite des Ankommens in Berlin, als der Erzähler merkt, dass die Straßen Berlins nicht mit Ketamin dekoriert sind. So entspinnt sich ein Vorfall mit zwei Frauen im Buch, die ihm auf der Straße unhöflich, aggressiv begegnen. Er fragt sie, was ihr Problem sei, sie fragen ihn zurück, ob er Deutsch könne, und er fragt, ob die eine Rassistin sei. Mit Berliner-Trotz antwortet sie stolz: »Ja«, sie sei Rassistin. »Na, und?« Niemand kann in Berlin ankommen, ohne zu erkennen, dass es zu Deutschland gehört, und niemand kann in Deutschland leben, ohne zu erkennen, dass es ein zutiefst rassistisches Land ist. Ich bin so dunkel wie Meghan Markle, und es gibt Rassist*innen, sogar Nazis, die das nicht erkennen. Das passiert dem Erzähler dieser Geschichte nicht. Ich kann unsichtbar werden, wenn ich meine Kapuze hochziehe und schnell durch Marzahn laufe – er nie.

Aber wem erzähle ich das? Wem muss ich das erzählen? Okwonga weiß das eigentlich auch, er wusste das schon immer, sein Protagonist auch. Man redet gerne über No-Go-Areas für Weiße in Berlin-Neukölln, aber für Fernsehserien müssen diese Orte erfunden werden, denn es gibt sie nicht wirklich. Niemand muss die Gebiete, die man mit Schwarzer Haut in Ostdeutschland meiden sollte, erfinden, man sagt stattdessen: »Dresden Neustadt ist ganz nett!« Wir wissen, dass es in diesem Land Orte gibt, in denen dunkle Haut haben, in Gefahr zu sein bedeutet, auf eine gewisse Art und Weise akzeptieren wir das alle.

Tragödie Brexit

Dieses Buch, in dem es um Berlin geht, um Trauer und Liebe, um die Trauer nach der Trennung, um die unterdrückte Trauer, die man sein Leben lang ignoriert, aber auch um gescheitertes Dating, um Heimat, Wahlheimat und Nicht-Heimat, ist auch ganz einfach ein Brexit-Buch, was vielleicht billig klingt. Aber die Wahrheit ist, dass Großbritannien, und wenn ich Großbritannien sage, meine ich eigentlich nur London, der einzige Ort in Europa gewesen ist, wo die Kinder der Migrant*innen mehr oder weniger akzeptiert worden sind. Deswegen war der Brexit so eine Tragödie. Versteht mich nicht falsch. Ich will damit nicht behaupten, dass es vor dem Brexit keinen Rassismus gab oder dass People of Colour wie Weiße behandelt worden sind. Aber wir wurden fast wie Brit*innen behandelt – fast – in einer Art und Weise, die die Kinder türkischer und arabischer, aber auch schwarzer Migrant*innen in Deutschland sich nicht vorstellen können. Mein Sohn, white-passing, wie die Amis sagen, ist erst 18. Sein Klassenlehrer hat ihm mal gesagt, er solle zu Hause Deutsch sprechen. Manchmal, wenn ich mit deutschtürkischen Freund*innen über meine eigene Schulzeit rede, ist es so, als ob wir nicht kommunizieren können. So klar war es schon in den 1980er und 90er Jahren, dass die Kinder indischer und Schwarzer Migrant*innen nach Großbritannien gehörten.

Der Brexit hat uns wieder zu »Ausländern« gemacht, eine Sache, die Okwonga ganz klar beschreibt. In dieser Post-Brexit-Welt sieht er seine Haut anders, sieht er sich selbst anders. Vor 15 Jahren war er bloß Brite. Seit dem Brexit ist er sich seiner Hautfarbe bewusster, und es ist eine Tragödie für ganz Europa (egal wie scheiße die EU ist).

Dieses Buch zu lesen, habe ich geliebt, denn es ist voller eleganter Prosa, verletzlicher Gedanken und roher Emotionen. »Es ging immer nur um Liebe« ist ein poetisches Buch, Fiktion gemischt mit Autobiografie und fast ein Briefroman. Ein Brief an sich selbst, aber auch ein Brief an Großbritannien, an Europa. An die Welt. Und wenn ihr das Taschenbuch lest, werdet ihr mindestens ein Taschentuch brauchen!

Musa Okwonga: Es ging immer nur um Liebe. mairisch, Hamburg 2022. 152 Seiten, 20 EUR.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).

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