analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 679 | Geschichte

Revoltierend, politisch und selbstverwaltet

David Graeber und David Wengrow erzählen eine andere Geschichte der Menschheit

Von Simon Sutterlütti

Den Widerstand gegen Herrschaft nachzeichnen – eines der großen Themen von David Graeber (hier 2015 in Amsterdam). Foto: Wikimedia/Guido van Nispen , CC BY 2.0

Wenige Wochen vor seinem überraschenden Tod, im September 2020 (siehe ak 663), hatte der Kulturanthropologe und Anarchist David Graeber die Arbeit an einem Manuskript beendet, an dem er zehn Jahre gemeinsam mit dem Archäologen David Wengrow gearbeitet hatte. Nun liegt das Buch »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit« auf Deutsch vor – und es beginnt mit einer großen These: Die Werte der US-amerikanischen und französischen Revolution kamen weniger aus einer westlich-demokratischen Tradition, sondern von (amerikanischen) indigenen Kritiker*innen. Auf diese trafen die armen Jesuiten, die den »Wilden« das heilige Wort bringen sollten, in ihnen aber redegewandte Gegenüber fanden, die kaum ein gutes Haar an dem ach so fortgeschrittenen Europa ließen. Diese kämpfen und streiten ständig, beneiden und verleumden einander, brüllen sich nieder und bringen schwache Argumente, sind weder großzügig noch freundlich und sind – das traf die Jesuiten besonders – arm: arm an Ruhe, Behaglichkeit, Zeit und Freiheit. Die indigene Freiheit bestand insbesondere in der Ablehnung jeder willkürlichen Autorität. Ja, es gab Häuptlinge, aber deren Macht »liegt in dessen Zungenspitze«. 

Reiseberichte mit dieser indigenen Kritik wurden europäische Bestseller, jeder Intellektuelle des 18. Jahrhunderts, der etwas auf sich hielt, musste sie kennen. Und die Kritik verlangte eine Antwort, die prompt kam. Jacques Turgot, Adam Smith und andere erklärten, indigene Freiheit und Gleichheit sei kein Zeichen von Überlegenheit, sondern von Unterlegenheit. Diese sei nur ohne Komplexität und bei geringer Arbeitsteilung zu haben, zu Fortschritt, Wohlstand und Zivilisation gehören nun mal Ungleichheit und Herrschaft. Den Deckel drauf setzte Jean-Jacques Rousseau: erst »edle Wilde«, dann Evolution, Privateigentum und Herrschaft. So schafft das Konzept Zivilisation eine mythische symbolische Schwelle, um indigenen Kritiker*innen nicht ernst nehmen zu müssen: Sie sind bloß naive, glückliche Kinder. 

Kommt mit der Landwirtschaft die Herrschaft?

Gegen diese Metageschichte treten Graeber und Wengrow an. Sie betonen, dass Menschen immer schon als politische Subjekte handeln, zwischen Produktionsweisen wählen, Klassen errichten und Herrschaft zerstören. So lehnten die First Nations in Kalifornien nicht nur die Landwirtschaft aus dem Süden ab, sondern auch die Sklaverei der Nordwestküste. An den Randregionen schufen sie extra Institutionen und Bräuche, die Krieg und Sklaverei wirksam verhinderten.

Im Krieg beispielsweise mussten die Sieger für jeden Tod zahlen, als hätten sie jemanden aus ihrem Clan ermordet. Zusätzlich variierten viele Gesellschaften saisonal zwischen Herrschaft und Freiheit. Die Inuit kannten einen Sommer der Väter und einen Winter des Teilens. Für die Autoren gibt es keinen Beginn der Ungleichheit, schon Jäger*innen und Sammler*innen errichteten und zerstörten immer wieder Herrschaft. Andere Anthropolog*innen kritisieren: Jäger*innen und Sammler*innen waren in aller Regel egalitär organisiert, nur an Orten, wo Menschen gebunden waren – wie die Bäuer*innen an Land oder an der Nordwestküste an Fischplätzen – entstand Herrschaft. 

Die Europäer*innen seien arm: arm an Ruhe, Behaglichkeit, Zeit und Freiheit.

Graeber und Wengrow veruneindeutlichen die Gleichheit der Jäger*innen und Sammler*innen, um Herrschaft und den Widerstand dagegen zur ständigen Geschichte der Menschheit zu machen, Jäger*innen und Sammler*innen zu entromantisieren und um gegen das oben genannte Metanarrativ anzukommen, das wir bei Steven Pinker, Jared Diamonds und Yuval Harari finden: Früher waren alle gleich, dann kommen Landwirtschaft, Herrschaft und Reichtum. 

Aber grundsätzlich haben Graeber und Wengrow Recht: Mit der Landwirtschaft kommt keineswegs die Herrschaft. Die beiden zeigen wie übrigens auch Kent Flannery und Joyce Marcus in ihrem Buch »The Creation of Inequality«: Zwischen Landwirtschaft und Klassenverhältnissen liegen hunderte, manchmal tausende Jahre, in denen sich Bäuer*innen egalitär organisierten. Manche versuchten, Herrschaft zu errichten und andere diese zu zerstörten. Langfristig aber machte die Landwirtschaft die Menschheit doch anfällig für Herrschaft, das müssen auch die Verfasser zugeben, die aber unermüdlich den ständigen Widerstand dagegen nachzeichnen. Ähnliches gilt sogar für Städte. 

Überraschend egalitäre Städte

Die ersten Städte im Mesopotamien der Uruk-Zeit und dem Indus-Tal sowie die ukrainischen Megastädte waren überraschend häufig egalitär organisiert und bündelten Macht und Reichtum nicht bei Eliten. Noch spannender: 2000 v. Chr. kommt es im chinesischen Taosi zu der ersten dokumentierten urbanen Revolution der Menschheit. In der 280 Hektar großen Stadt wird die Stadtmauer platt gemacht, der Friedhof der Elite umgegraben und im Palast gibt es eine Massenbestattung mit Folterspuren. Der ausgrabungsleitende Archäologe bezeichnet die folgende Periode zwar als »Zustand der Anarchie«, aber die Stadt wächst und besteht für 200-300 Jahre weiter. Anarchie tut wohl gut. Aber an einigen dieser »egalitären Städte« sollten wir Fragezeichen setzen. Sie waren vielleicht kollektiv geführt, aber dies galt für die mittelalterlichen Städte Europas mit ihrer Oligarchie und ihrem starken Klassengefälle auch. Vielleicht erlauben die Quellen hier schlicht keine genaueren Aussagen. 

Das Buch »Anfänge« diskutiert noch viele weitere spannende Themen zum Beispiel, dass die Macht vieler Herrscher*innen nur im Nahumfeld wirkte, schon im nächsten Dorf hielt man sich kaum noch an ihre Befehle, oder die Bedeutung von Freiheit und gegenseitiger Hilfe für egalitäre Organisation. Gelungen verbinden Graeber und Wengrow spannende und auch lustige Fallstudien mit großen Thesen. Wobei einige dieser Thesen etwas schwammig werden, beispielsweise bleibt unklar, was Selbstverwaltung, Gleichheit und Freiheit nun wirklich bedeuten.

Auch die Antwort auf ihre Hauptfrage bleiben sie schuldig. Diese lautet: Wenn wir Menschen über Zehntausende von Jahren immer wieder unsere politischen Verhältnisse ändern konnten, warum leben wir im Westen seit 2000 Jahren in Klassenverhältnissen? Und Care-Arbeit, Geschlechterverhältnisse und Fragen der feministischen Anthropologie und Ökonomiekritik streifen sie meist nur. Das ist besonders schade, gehen doch gerade Patriarchat und Herrschaft fast immer miteinander einher. Und doch, ein sehr spannendes Buch, mit etwas voluntaristischer Schlagseite, was die Frage der Revolution betrifft. Vieles, was sie sagen, ist für gebildete Anthropolog*innen keineswegs neu – sie referieren häufig bloß den Forschungsstand, für viele andere brechen sie fortdauernd koloniale Metaerzählungen auf und eröffnen den Blick auf eine revoltierende, politische und sich selbstverwaltende Menschheit. 

Simon Sutterlütti

ist aktiv beim Commons-Institut und bloggt auf keimform.de.

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett&Cotta, Stuttgart, 2022. 672 Seiten, 28 EUR.