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|ak 663 | Geschichte

Die letzte Unruhe

Abschied vom einmaligen David Graeber, den es in dieser Zeit tausendfach bräuchte

Von Alina Lyapina

Nahbar und mitreißend: Viele hingen David Graeber an den Lippen. Foto: Guido van Nispen /Flickr, CC BY 2.0

Es ist ein seltsames Gefühl, über den Tod von David Graeber zu schreiben. David hätte es wahrscheinlich auch falsch gefunden. Er selbst mochte keine hochtrabenden Beschreibungen über seine Person. Und so werden die zahlreichen Nachrufe auf ihn wohl vielmehr der eigenen Verarbeitung dieses Verlusts dienen, als der Würdigung seines Lebens. Mit David Graeber haben wir einen Freund, einen Lehrer, einen Denker, einen Genossen verloren. Selten bin ich so distanzlos von einem Tod ergriffen worden. So früh, so unerwartet und: Es fühlt sich so nah an.

Die Distanzlosigkeit zu seinem Tod, liegt an der Nahbarkeit Davids im Leben. Viele erinnern sich dieser Tage an ihre persönlichen Begegnungen mit David – ich natürlich auch. Auf einer Konferenz in Hamburg 2016 sprach er über die Zukunft des Projektes Rojava. David war als Unterstützer der kurdischen Bewegung bekannt und sah in Rojava anarchistische Ideen realisiert. In seiner Auseinandersetzung mit den Schriften Abdullah Öcalans und durch seine Beiträge auf der Konferenz verstand ich: Hier sitzt jemand, der es auf eine außergewöhnliche Weise vermag den politischen Aktivismus mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu versöhnen. Ein aktivistischer Wissenschaftler – ein wissenschaftlicher Aktivist.

In einem Gespräch mit ihm bei einer Zigarettenpause bekam ich das Gefühl, wir würden uns schon lange kennen. Beim Lesen der zahlreichen ähnlichen Begegnungen und Eindrücke, die momentan von vielen Menschen auf Social Media geteilt werden, muss ich lächeln, denn ich weiß genau, was sie meinen. David Graeber war ohne Zweifel eine der wichtigsten und einflussreichsten politischen Figuren für gegenwärtige Linke. Als Akademiker war er nicht nur für seine anthropologische Werttheorie bekannt, sondern auch dafür, wie klar, nachvollziehbar und einfach er sie für uns alle dargestellt hat. Dabei hat David es immer geschafft, die intellektuelle Distanz zu überwinden. Man hing ihm an den Lippen; wollte unbedingt seine Studentin sein. Ich aber saß tief gebeugt über Fachliteratur meines Politikstudiums deren Quintessenz sich in »TINA – There is no alternative« zusammenfassen ließe. Sein 2011 herausgebrachtes Buch »Schulden: die ersten 5000 Jahre« aber zeigte auf: There is an alternative. (Und beinahe hätte ich das Politikstudium hingeschmissen und ein Anthropologiestudium begonnen.)

Scharfsinnig begründete er, warum das Schuldensystem letztlich auf dem Prinzip der »Schöpfung aus Nichts« aufgebaut ist. Er enttarnte die pseudowissenschaftlichen akademischen Wirtschaftslehren als Esoterik, den Kapitalismus als Religion ohne Moral. Seine Schriften ließen mich nie defätistisch zurück – im Gegenteil: David hat mich als Aktivistin und Politikwissenschaftlerin sowie Tausende seiner Student*innen und Mitstreiter*innen darin bestärkt, dass es sich lohnt zu kämpfen.

Er schrieb: »Um uns zu befreien, müssen wir uns selbst wieder als historische Figuren begreifen, als Menschen, die das Geschehen in der Welt beeinflussen. Und selbst wenn wir erst am Anfang einer sehr ausgedehnten historischen Wende stehen: Wir sind es, die bestimmen, wie es ausgeht.«

Gegen die Ohnmacht

Als politischer Aktivist spielte David Graeber eine zentrale Rolle in der Gründung der Occupy-Bewegung, die eine ganze Reihe von linken emanzipatorischen Projekten ins Leben gerufen hat und somit richtungsweisend für eine ganze Generation von politischen Aktivist*innen nach 2008 weltweit wirkte. Die »Occupy Wall Street« hat uns alle wachgerüttelt und damals der radikalen Linken geholfen, das Gefühl der politischen Ohnmacht hinter sich zu lassen und die Ärmel hochzukrempeln. Das fehlt uns jetzt wieder, und David ist nicht mehr da, um uns in den Hintern zu treten.

Wann immer mir die politische Vorstellungskraft gefehlt hat, habe ich mich an Davids Twitter gewandt. Ich war nicht immer mit ihm einer Meinung. Gleichwohl habe ich sehr oft nach Antworten in seinen Büchern, Interviews und Tweets gesucht und sie gefunden. Ich glaube es immer noch nicht, dass er keine Bücher mehr schreiben oder keine witzigen Interviews mehr geben wird.

Vor allem war sein unerschütterlicher Glaube an ein besseres politisches System eine ständige Inspirationsquelle. Dass wir über bestimmte Verhältnisse hinausdenken können, weil wir alle Individuen mit einer politischen Vorstellungskraft und einem starken Willen sind. Das hat er nicht nur wissenschaftlich belegt, sondern auch einfach selbst vorgelebt. Er hat uns allen vorgelebt, wie man ohne Angst radikal lebt, denkt und handelt. Er hat mir beigebracht, dass es nicht ein Doktortitel ist, der einen ausmacht, sondern seine politische Arbeit: sein Aktivismus in New York hat ihn seine Wohnung und Karriere an der Yale University gekostet, doch kein einziges Mal hat er den Eindruck erweckt, dass er es bereuen würde. Davids Entschlossenheit, sein Leben, sein Schreiben haben in mir so etwas wie ein gedankliches Sicherheitsnetz aufgespannt, in das ich schon manchmal gefallen bin – nie tief. Als mir vor zwei Jahren die Mittel fehlten, um ein PhD-Angebot an der SOAS in London wahrzunehmen, wusste ich, dass ich trotzdem auf einem anderen Weg einen Unterschied machen kann. Ich habe dann die Seebrücke mitgegründet. Sein persönliches Beispiel sowie seine Ideen und seine Lehre sind heute für die radikale Linke aktueller und notwendiger denn je, umso trauriger ist es, sich von ihm für immer verabschieden zu müssen.

Rest in power of the 99%, David Graeber.

Alina Lyapina

lebt in Berlin. Sie ist Seebrücke-Aktivistin und arbeitet im Bereich kommunale Migrationspolitik in Europa.