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|ak 703 | Geschichte

Brot und Nelken

Mit der Revolution in Portugal 1974 brach eine Welle von Fabrikbesetzungen und Landaneignungen aus

Von Johannes Tesfai

Ein Panzer aus Pappe davor und darauf rote Fahnen, um ihn herum viele Menschen
Am Jahrestag fuhren in den 1980er Jahren auch mal Papp-Panzer durch die Straßen Lissabons. Foto: Henrique José Teixeira Matos/ Wikimedia, CC BY-SA 3.0 Deed

Jemand ruft an, um zu erzählen, dass sein Auto beschlagnahmt wurde – als Barrikade.« So fasst ein Zeitzeuge die Stimmung am Morgen des 25. April 1974 zusammen, ein Moment zwischen Angst und Neugier. In der Nacht zuvor waren über zwei Radiosender ein Liebeslied (es hatte im besagten Jahr den letzten Platz beim Eurovision Song Contest belegt) und ein verbotenes Widerstandslied abgespielt worden. Sie waren die Signale an oppositionelle Einheiten der Armee, sich bereitzumachen (Lied 1) und auszurücken (Lied 2), um die fast 50-jährige Diktatur des sogenannten Estado Novo in Portugal zu stürzen.

Der Offizier Otelo Saraiva de Carvalho, kurz Otelo, hatte den Plan für den Putsch erarbeitet, er war ein ausgewiesener Linker. Mit 250 Soldaten umstellte er in den frühen Morgenstunden das Regierungsviertel von Lissabon. Wenig später wurde die Zentrale der berüchtigten Geheimpolizei PIDE gestürmt. Der Tag ging als Nelkenrevolution in die Geschichte ein, weil einige Soldaten Nelken in ihre Gewehrläufe steckten. Die Putschisten setzten eine provisorische Regierung und General Spínola als Chef der Junta ein, er hatte unter der Diktatur Karriere gemacht. Mit der Bewegung der Streitkräfte (MFA) hatte sich eine Gruppe von Offizieren zusammengeschlossen, die mehr oder weniger die Macht während der Revolution hielten. Sie setzte das sogenannte COPCON ein. Eine militärische Eingreiftruppe, die als schwer bewaffnete Ordnungsmacht fungierte und gleichzeitig den Anspruch hatte, den politischen Prozess zu begleiten. Ihr Kommandeur wurde Otelo.

Insbesondere die Hauptstadt Lissabon entpuppte sich schnell als revolutionäres Pulverfass.

António de Oliveira Salazar, der das Land fast die gesamte Diktatur hindurch beherrscht hatte, hatte durch seine Politik Portugal in eine tiefe Krise gestürzt. Die Wirtschaft des Landes war aufs Engste mit den Kolonien Angola, Mosambik und dem heutigen Guinea-Bissau verknüpft. Vor allem angolanisches Erdöl und Bodenschätze sorgten im portugiesischen Bürgertum für satte Gewinne. Gleichzeitig blieb die Bevölkerung in Portugal in bitterer Armut zurück.

Hausgemachte Krise

Ab 1961 führten in den Kolonien unterschiedliche Guerillabewegungen einen langwierigen Unabhängigkeitskrieg gegen die Diktatur. Die Brutalisierung des Krieges aufseiten der Portugiesen sorgte dafür, dass kaum noch Männer aus der Oberschicht eine militärische Karriere als Offiziere anstrebten. Sie wurden durch Bewerber aus der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschicht ersetzt. Deren Motivation, sich im Militär zu beweisen, war jedoch begrenzt. Die unter der Diktatur in den Untergrund gezwungene Kommunistische Partei Portugals (PCP) versuchte recht erfolgreich, Widerstandszellen in der Armee zu schaffen. Die Bildungsexpansion zum Ende der Diktatur sorgte dafür, dass proletarische Studierende einige Semester im Ausland studieren konnten. Einige von ihnen erlebten 1968 den Pariser Mai, auch sie mussten aber anschließend in der Armee dienen. Die Diktatur hatte sich mit ihrer aggressiven Kolonialpolitik ihr eigenes Grab geschaufelt. Ein Putsch von links war auch deshalb möglich, weil große Teile des Militärs den verlustreichen Kolonialkrieg beenden wollten.

Aber der Putsch war nur der Anfang eines 18-monatigen revolutionären Experiments. Im westlichen Ausland wuchs die Sorge, war Portugal doch Gründungsmitglied der Nato und ein wichtiger Truppenstützpunkt der Militärallianz. Das politische Leben des Landes hingegen erwachte aus seinem diktatorischen Tiefschlaf. Unzählige Parteien gründeten sich kurz nach dem 25. April. Viele Studierende, die schon im Geheimen linke Ideen diskutiert hatten, fanden sich zu trotzkistischen, maoistischen oder sonst wie linken bis linksradikalen Gruppen zusammen. Der Chef der sozialdemokratischen Partei (PS), Mário Soares, kehrte aus dem Exil zurück, ebenso der Vorsitzende der PCP, Álvaro Cunhal.

Für die westdeutsche Linke war die Nelkenrevolution ein politisches Reiseziel.

Schnell prallten unterschiedliche Interessen  aufeinander. Das COPCON sah sich, vor allem durch seine linke Führungsriege, auf der Seite der Arbeiter*innen. Insbesondere die Hauptstadt Lissabon entpuppte sich schnell als revolutionäres Pulverfass. Schon im Sommer kam es zu vielen Streiks, etwa bei der der Fluggesellschaft TAP. Während die PCP die Gründung eines Einheitsverbandes der Gewerkschaften vorantrieb, versuchten in vielen Firmen, etwa in der Lissaboner Werft Lisnave oder beim US-Uhrenhersteller Timex, Arbeiter*innen, eigene autonome Organisationsformen zu etablieren. Sie gründeten Arbeiter*innenkomitees, die auf ihrer Eigenständigkeit bestanden. Phil Mailer hat mit seinem Buch »Portugal. Die unmögliche Revolution?« dieser autonomen Arbeiter*innenbewegung ein Denkmal gesetzt. Es ist nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Streiks und Besetzungen

Es ging den streikenden Arbeiter*innen nicht nur um Lohnerhöhungen, sondern um Basisdemokratie. Oft war das Mittel der Wahl, Betriebe zu besetzen. Im Mai 1974 besetzten die Arbeiter*innen des Lissaboner Elektrounternehmens Efacec-Inel auf Initiative ihres Arbeiter*innenkomitees den Betrieb. Fast 1.000 Arbeiter*innen nahmen an den Diskussionen über die Zukunft der Gesellschaft teil und organisierten ein Kulturprogramm. Die radikalen Forderungen wurden noch verstärkt, weil nicht wenige Manager oder Fabrikeigentümer nach dem 25. April 1974 ins faschistische Spanien flohen und viele Betriebe in Selbstverwaltung weitergeführt wurden. Bis Anfang August 1975 waren es ungefähr 380. Betriebs-, aber auch Hausbesetzungen wurde in Lissabon im Laufe des Jahres 1974 zur gängigen Praxis. Nicht zuletzt, weil viele Großstädte von ärmlichen Barackensiedlungen umgeben waren.

In der Bewegung der Streitkräfte gab es unterschiedliche Fraktionen. Neben den Offizieren, die der PCP nahe standen, auch Sozialdemokraten oder Militärs, die die alte Ordnung wiederherstellen wollten. Das COPCON verstand sich als Schutzmacht für linke Kämpfe, es war nicht nur eine Einheit, die die Ordnung aufrecht erhielt. Im Januar 1975 wollte die Partei CDS – sie war das Sammelbecken alter Diktatur-Treuer – einen Kongress in Porto abhalten. Hier zeigte sich, wie uneins die bewaffneten Teile des Staates waren. Maoistische und linkssozialistische Gruppen hatten zu einer Gegendemonstration aufgerufen. Als sie die Veranstaltungshalle erreichten, fingen sie an, sie zu belagern. Erste Autos der Parteimitglieder wurden in Brand gesetzt. Die Nationalgarde, schon während der Diktatur eine gefürchtete Militärpolizei, griff ein und verschoss Tränengas. Als sie beginnen wollte, die linken Demonstrierenden zu räumen, traf das COPCON ein. Die Einheit verjagte die Nationalgarde mit Warnschüssen, die Delegierten der CDS verließen fluchtartig den Ort.

Doch auch die Macht der linken Militärs war nicht gesichert. Am 11. März bombardierte eine Fallschirmjägereinheit die Kaserne der Kompanie RAL-1 bei Lissabon. Sie war dafür bekannt, dass in ihr viele linke Soldaten dienten. Im portugiesischen Fernsehen konnte man mitverfolgen, wie die Kommandeure der beiden Truppen eine hitzige Diskussion führten. Wie sich einige Stunden später herausstellte, sollte die Aktion der Beginn eines Gegenputsches rechter Militärs sein. Er scheiterte, die Fallschirmjäger liefen über. Spínola musste abtreten. Das Land zeigte sich auf der Regierungsebene als äußerst instabil. Bis zum Ende des Jahres 1975 gab es sechs provisorische Regierungen.

Auf dem Land war eine eigene Bewegung entstanden. Mit der Revolution kehrten viele Landarbeiter*innen dorthin zurück.

Der gescheiterte rechte Putsch bewirkte eine Stärkung der Linken in der Militärregierung. Sie führte daraufhin einen Preisstopp ein und leitete eine Landreform ein. Doch das Land blieb politisch gespalten. Während der Norden immer noch von der katholischen Kirche und den Großgrundbesitzern dominiert wurde, zwei wichtige Stützen der Salazar-Diktatur, war der Raum Lissabon und seine Nachbarregion Alentejo von der PCP und anderen linken Kräften dominiert.

Und nicht nur Fabriken und Häuser wurden besetzt. Auf dem Land war eine eigene Bewegung entstanden. Mit der Revolution kehrten viele Landarbeiter*innen dorthin zurück. »Sie hatten die Hoffnung, mit der Agrarreform zu Hause bei der Familie ein Auskommen zu haben«, wie Annette Spiering im Gespräch mit ak erzählt. Da viele Großgrundbesitzer, ähnlich wie die Fabrikanten, 1974 nach Spanien geflohen waren, entstanden aus den Besetzungen oft Kooperativen, in denen sich die Landarbeiter*innen zusammenschlossen. Sie trugen kämpferische Namen wie »Leuchtender Stern« oder »Fahrt zur Hölle«. Im Laufe des Jahres gründeten sich über 550 solcher Kooperativen.

Erfolgreiche Restauration

Für die westdeutsche Linke war die Nelkenrevolution ein politisches Reiseziel. Der Kommunistische Bund (KB) aus Hamburg brachte im Sommer 1975 große Mengen seiner Zeitung Arbeiterkampf (aus der später ak hervorging) nach Portugal, um sie in den unruhigen Straßen Lissabons zu verteilen. Hilfreich beim Transport der Blätter war eine KB-Zelle in der Lufthansa.

Ende 1975 wollten Teile der Militärregierung, die vor allem zur PS und den konservativen Offizieren gehörten, den Klassenkämpfen endlich ein Ende bereiten, große Teile der linken Militärs wurden entlassen. Zuvor war das Bündnis zwischen den Arbeiter*innen und den Linken in der Armee brüchig geworden.  Im Februar 1976 wurde eine verfassungsgebende Versammlung einberufen: Portugal wurde ein bürgerlicher Staat.

Doch auch danach zogen die Umbrüche in Portugal deutsche Linke an. Spiering, damals Lehrerin in Hamburg, besuchte 1978 die Kooperative »Soldado Luís« im Alentejo. 1979 entschied sie sich, dort länger zu leben und zu arbeiten. Die Leitung des Kollektivbetriebs hatte ein Mitglied der ehemaligen linken Untergrundgruppe LUAR übernommen. Sie war weniger orthodox als die PCP. Spiering bekam mit, wie schwer es der Kooperative fiel, sich mit den Gegebenheiten einer Marktwirtschaft zu arrangieren. 1983 kam der Leiter zu dem Schluss, dass es nicht mehr möglich sei, die Kooperative wirtschaftlich zu führen. »Seine Lösung war, sie dem Großgrundbesitzer zurückzugeben, der während der Revolution nach Spanien geflohen war. Der übernahm mit dem Land auch die Schulden.« So berichtet es Spiering im Gespräch mit ak. Die Restauration der alten Besitzverhältnisse war Anfang der 1980er in vollem Gange.

Der politische Wind hatte sich auch international gedreht. Mit dem Beitritt Portugals in die Europäische Gemeinschaft sollten diese Formen kollektiven Wirtschaftens endgültig verschwinden. Dass sie nicht gehalten werden konnten, lag aber auch an den Konfliktlinien der Nelkenrevolution, insbesondere der fragilen Mischform von Putsch und Revolution. Ein Landarbeiter fasste es im Gespräch mit Spiering einmal so zusammen: »Wir haben uns diesen Boden nicht erkämpft, sondern das Militär hat uns dazu verholfen. Jetzt haben wir nicht die Kraft, ihn selbst zu halten.«

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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