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|ak 720 | Alltag |Reihe: Motherhoods

Hungern in Deutschland

Von Jacinta Nandi

Man sieht eine Aldi Filiale.
Gehen die Leute, die denken, dass niemand In Deutschland hungrig ist wegen Armut, nie Einkaufen? Foto: Geoprofi Lars / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Niemand in Deutschland muss hungern, nur weil er arm ist!« Ich war ganz neu in Deutschland, als ich diesen Satz zum ersten Mal hörte. Damals war ich 20 Jahre alt, wirkte aber jünger. Ich gab einem Obdachlosen in der U-Bahn Geld, und eine eigentlich nette Oma, die mich wahrscheinlich für eine naive Teenagerin hielt, klärte mich auf.

Ich kam im Jahr 2000 in Deutschland an, da gab es Sozialhilfe und kein Hartz-IV, und D-Mark, keine Euros, und ich glaube, dass es damals menschlicher war als jetzt, und dass man zurechtkommen konnte, wenn man im System drin war. Man musste aber auch damals schon nur drei Minuten am Bahnhof Zoo in Berlin verbringen, um zu verstehen, dass es ganz viele Menschen gab, die durch das System durchfielen, die aus dem Sozialnetz geflogen waren. Dass es Menschen gab, die verzweifelt waren, und manche hungrig.

2004 bekam ich mein erstes Kind in Deutschland, und eine Weile lang bekam ich Sozialhilfe, danach 2005 ALG-II, umgangssprachlich Hartz-IV genannt. Als Sozialhilfeempfängerin und später Hartz-IV-Empfängerin fand ich es psychisch sehr belastend, von Transferleistungen abhängig zu sein, und die Bürokratie war für mich nicht leicht zu bewältigen. (Die Formulare für alle Ämter in Deutschland sind schwer genug auszufüllen, aber ich finde, beim Finanzamt und beim Bürgergeld sind sie so schwer, dass es eigentlich lächerlich ist.) Es gab Wochen, in denen wir auf den Bescheid gewartet haben, in denen ich meinen Sohn extra spät aus der Kita abgeholt habe, um ihm weniger Essen geben zu müssen, in denen ich nur Joghurt zum Abendbrot aß und mir einredete, dass ich Diät machen würde. Aber an den Tagen, an denen das Geld wie geplant auf dem Konto war, war es machbar, dass es zum Essen reichte. 

Meiner Meinung nach hat man immer schon ein bisschen übertrieben, wenn es um die Großzügigkeit des Systems ging, und gerne über die Tatsache hinweggesehen, dass viele Menschen gar keine Hilfe bekommen, aus verschiedenen Gründen. Man hat am Bahnhof Zoo nicht richtig hingeschaut oder die Großzügigkeit des Systems total überschätzt. 

Das war damals.

Wer jetzt, 2025, noch diesen Satz sagt – »Niemand in Deutschland muss hungern, nur weil er arm ist!« – ist einfach nur böse und dumm und dumm und böse. Ich höre ihn von Politiker*innen, aber ich höre ihn auch von anderen Eltern auf dem Spielplatz, und ich stehe dann da wie unter Schock, mit offenem Mund. 

Wer jetzt, 2025, noch diesen Satz sagt – »Niemand in Deutschland muss hungern, nur weil er arm ist!« – ist einfach nur böse und dumm und dumm und böse.

Es gibt diesen Clip in sozialen Medien, in dem Mariah Carey nicht weiß, dass man in den Staaten die Stromrechnung zahlen muss. GEHEN DIE LEUTE, DIE DENKEN, DASS NIEMAND IN DEUTSCHLAND HUNGRIG IST WEGEN ARMUT, NIE EINKAUFEN? Gucken sie nie die Preise an, wenn sie Sachen in den Einkaufswagen legen? Oder sind sie wie Aladdin im Disney-Film und schicken die Bediensteten ihrer Dienstleute für sie in den Supermarkt?

Als alleinerziehende Freiberuflerin verdiene ich jeden Monat anders, manche Monate viel mehr als das Existenzminimum, manche Monate nur ein bisschen mehr. Es gab auch Monate 2022 und 2023, in denen ich krankheitsbedingt dasselbe wie eine Hartz-IV-Empfängerin verdiente. Und ich stehe im Aldi und ich fühle mich nicht reich, ich stehe im Aldi und ich rechne nach, ich stehe im Aldi und mache mir Sorgen. Wie kann man im Jahr 2025 darüber fantasieren, dass es Bürgergeldempfänger*innen noch gut geht, wo wir alle merken, dass das Geld kaum mehr reicht? Sind die Menschen dumm oder böse? Sind sie schlecht in Mathe oder haben sie keine Empathie? Wenn schon Menschen, die viel mehr als das Existenzminimum verdienen, Angst vor dem Kauf des Adventskalenders haben, dann gibt es natürlich Menschen in Deutschland, die gerade jetzt, während ihr diese Zeile lest, hungern. Wer Augen im Kopf hat und basic maths skills, muss doch wissen, dass das Existenzminimum nicht mehr reicht, um eine Familie satt zu kriegen? Es war schon 2020 schwer – 2025 ist es unmöglich. Wenn es Hartz-IV-Alleinerziehende gibt, die am Ende des Monats nicht klauen gehen, dann ja, dann haben sie abends Hunger. Und nicht nur Alleinerziehende: auch Paare, Aufstockerfamilien, auch die, die knapp zu viel verdienen, um aufzustocken, auch Singles. Das ist eine rein rechnerische Tatsache.

Manchmal denke ich, ich müsste nur sechs Stunden alleine mit Friedrich Merz gefesselt an einem Bürostuhl in einem Zimmer ohne Fenster kriegen, damit ich ihm die Realität klar machen könnte. Wie sollen sich normale Familien Weihnachten leisten? Die Geschenke für die Kinder, dann für die Erzieher*innen und Lehrer*innen, die Geschenke für die Verwandtschaft und dann das Festessen selbst? Ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, die normalsten, alltäglichsten Weihnachtsaktivitäten? Ich denke, ich bräuchte sechs Stunden mit Merz alleine, und ich würde ihm nur Aktivitäten und Lebensmittel vorlesen und das, was sie kosten, und danach gäbs 1000 Euro Weihnachtsgeld für jedes Kind in Deutschland, und ich gehe mit ihm auf den Markt am Alex und gebe ihm einen Eierlikör aus. Aber vielleicht bin ich wirklich ein bisschen naiv.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Kürzlich erschien ihr Roman »Single Mom Supper Club« bei Rowohlt.

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