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|ak 719 | Alltag |Reihe: Motherhoods

Bedürfnisorientierte Erziehung

Von Jacinta Nandi

Drei Kinder spielen rennen auf einer Drehscheibe. Das Bild ist im Dunkeln aufgenommen, die Kinder sind vom Blitz erleuchtet und haben offensichtlich Spaß
Haben vermutlich eine bedürfnisorientierte Erziehung genossen: drei Kinder auf einer Drehscheibe. Foto: summitcheese/Flickr, CC BY-SA 2.0

Ich erziehe nicht bedürfnisorientiert«, sagt mir eine weiße deutsche Mama-Freundin aus Prenzlauer Berg. »Nein?«, frage ich. Heimlich finde ich Gespräche über den Erziehungsstil anderer Menschen fast so langweilig, wie wenn mir jemand seine Träume beschreibt. Es ist nicht nur sinnlos, weil jede Familie anders ist und deswegen ihren eigenen Erziehungsstil braucht, sondern auch, weil man, genau wie beim Träume-Beschreiben, nie wirklich wissen kann, was andere Eltern meinen, wenn sie über ihre Erziehung sprechen. Manche sagen, dass sie nie bestrafen, dabei nennen sie ihre Strafen nur »Konsequenzen« und bestrafen voll viel; andere behaupten, dass sie sehr, sehr streng seien und sehr feste Abläufe hätten und hohe Erwartungen, aber eigentlich merken sie nur nicht, dass ihre Kinder so brav sind, dass sie sich quasi selbst erziehen. Sinnlose Gespräche, aber was soll’s.

»Ich erwarte viel von meinen Kindern, und wenn sie nicht mitmachen, gibt’s Konsequenzen«, sagt meine Freundin. »Und bei dir, Jacinta?« Ich gucke sie an. Bei mir, denke ich. Wie ist es bei mir so? 

Also, erstens: Ich habe schon lange das Gefühl, dass es leichter ist, bedürfnisorientiert zu erziehen, wenn man weiß ist – und nicht zur Arbeiter*innenklasse gehört. Eine weiße, gut gebildete Mutter, deren Kind Haribos und Eis zum Frühstück isst oder mit Zylinder und unterschiedlich farbigen Socken in die Kita kommt oder beim Morgenkreis eine Spielzeugwaffe dabeihat – sie gilt als antiautoritär. Die Erzieher*innen lästern vielleicht, sie verdrehen die Augen, finden sie absurd. Aber gefährlich ist sie nicht. Wenn dieselbe Situation mit einer nicht-weißen oder sozial prekären Mutter vorkommt, sieht das anders aus. Sie gilt nicht als exzentrisch, sondern als asozial. Nicht als locker, sondern als überfordert. Ihr Kind ist kein freies Kind, sondern ein Problemkind, das Hilfe von außen braucht. 

Deswegen habe ich immer schon gedacht: Weiße, gebildete Mütter sollten ein bisschen vorsichtiger sein, wenn sie nicht-weißen Müttern erklären, dass sie bedürfnisorientiert erziehen sollen. Denn die Wahrheit ist: Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet, dass die Bedürfnisse der Kinder Vorrang haben. Und wenn die Bedürfnisse der Kinder Vorrang haben, dann kann es passieren, dass sie anstrengend sind. Dass sie zum Beispiel laut werden in der Öffentlichkeit. Ein Kind, das im Supermarkt weint, ist in Berlin sozial weniger akzeptiert als ein pöbelnder Neo-Nazi im Zug. Laute anstrengende Kinder sind immer peinlich. Aber wenn die Eltern oder das Kind nicht weiß sind, ist Lautsein nicht nur peinlich: Es kann gefährlich werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine nicht-weiße Familie angeschrien wird, steigt drastisch, wenn die Kinder auffallen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine nicht-weiße Familie angeschrien wird, steigt drastisch, wenn die Kinder auffallen.

So habe ich immer über Bedürfnisorientierung gedacht. Obwohl ich wollte, dass ich meine Kinder bedürfnisorientiert erziehe, und obwohl ich mich eigentlich als fast-weiß und auch gebildet sehe, hatte ich trotzdem praktische, taktische Bedenken bei dem Thema, die zu einer gewissen Ambivalenz führten.

Seit klar ist, dass der Faschismus vor der Tür steht, habe ich ehrlich gesagt mehr Bedenken denn je.

Früher dachte ich: Es reicht, wenn die Kinder glücklich und gesund sind, man soll sie nicht fertig machen, wenn sie nicht gut in der Schule sind. Heute denke ich immer noch, dass unsere Kinder glücklich und gesund sein sollen, und dass nicht jedes Kind studieren kann, und dass es nichts bringt, sie fertig zu machen, wenn sie in der Schule strugglen. Aber ich denke auch: Selbst wenn sie drei IT-Abschlüsse von Top-Unis haben, können sie obdachlos werden.

Man merkt, wie sich die Welt verändert. Ärztinnen, Lehrer, Ergotherapeutinnen, andere Eltern – sie alle gewöhnen sich an den Faschismus. Die netten Jahre sind vorbei, oder? Jetzt sollen unsere Kinder zwanzig Minuten am Tag lesen, sie sollen gerade sitzen, den Stift richtig halten. Die Welt sieht unsere Kinder nicht mehr als Kinder, sondern als künftige Arbeiter*innen. Oder wahrscheinlich sogar als künftige Soldat*innen.

Alles ist teurer geworden, die Nächte dunkler, Deutschland brauner. In den USA marschieren ICE-Nazis durch die Städte und verschleppen Schwarze und Braune Menschen: Väter, Großväter, Teenagerinnen, junge Mütter.

Ich bleibe zuhause, denn manchmal kriege ich das Gefühl, dass wir es uns kaum leisten können, die Wohnung zu verlassen. Ich lasse mein Kind aussuchen, was es essen will – Donuts sind erlaubt. Wir schauen »Mean Girls: The Musical« im Bett, unter der Decke. Manchmal sage ich ihm sogar, dass er sich die Zähne nicht putzen muss, wenn er wirklich zu müde ist.

Aber das alles passiert privat. In der Öffentlichkeit stehe ich gerade. In der Öffentlichkeit muss er leise sein. In der Öffentlichkeit gehorchen wir – dem Faschismus, der bald kommt, oder, wenn wir ehrlich sind, längst schon da ist. Ich wünsche mir, dass wir aufhören, so zu tun, als passiere alles im luftleeren Raum. Trump ist wieder Präsident, die Wehrpflicht kehrt zurück, Merz baut den Sozialstaat ab. Und ihr – moderne Prenzlauer-Berg-Mamas – entscheidet angeblich »frei«, dass Bedürfnisorientierung nicht mehr zu euch passt? Ich würde mir wünschen, dass man die Wahrheit sagt: Bedürfnisorientierte Erziehung passt nicht mehr zum Faschismus, und ich gewöhne mich gerade dran. Ich würde mir wünschen, dass man ehrlicher wäre, wenn man seinen Erziehungsstil beschreibt – dann wären diese Gespräche auch nicht mehr so langweilig.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Kürzlich erschien ihr Roman »Single Mom Supper Club« bei Rowohlt.

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