»Hast du sie gesehen?«
Der Kurzfilm »Als ob die Erde sie verschluckt hätte« von Natalia León setzt ein Zeichen für die Sichtbarmachung von Betroffenen patriarchaler Gewalt
Von Hêlîn Dirik

Was macht die Allgegenwärtigkeit von Sexismus und Femizid mit einer Gesellschaft? Was macht das Miterleben von Gewalt mit einem Kind, mit einem Mädchen? In »Als ob die Erde sie verschluckt hätte«, einem animierten Kurzfilm von Natalia León, kehrt die Hauptfigur Olivia als junge Frau nach einem Auslandsaufenthalt in ihre Heimatstadt in Mexiko zurück. Die Vermisstenanzeigen auf den Straßen lassen Erinnerungen an Erlebnisse in ihrer Kindheit wach werden – und an die nette Verkäuferin in ihrer Lieblingseisdiele nebenan, die eines Tages plötzlich verschwindet. Das Einzige, was Olivia von ihr übrig bleibt, ist ein Vermisstenposter mit einem Foto von ihr und der Überschrift »Hast du sie gesehen?« Als Kind weiß Olivia das Geschehene zwar noch nicht richtig einzuordnen, doch Gefühle von Angst und Unsicherheit tun sich dennoch auf, etwa als ihre Mutter sie unerwarteterweise von der Schule abholt und sie nicht wie gewohnt allein nach Hause geht. Oder in ihren Träumen, wo sie zwischen unzähligen Vermisstenanzeigen plötzlich in einem der Poster ihr eigenes Gesicht sieht. Und sie beginnt zu spüren, dass über das Geschehene nicht gesprochen wird, nicht gesprochen werden darf, dass sie ihre Sorgen und Gedanken für sich behalten muss: Könnte ich die Nächste sein?
Das Erlebte lässt Olivia auch im Erwachsenenalter nicht los. Anders als die farbenfrohen Kindheitserinnerungen sind die Szenen ihrer Rückkehr schwarz-weiß. Die erwachsene Olivia wirkt resigniert und spricht kaum. Und an den Mauern der Stadt hängen jetzt noch mehr Vermisstenanzeigen, an denen Menschen wortlos und unbeteiligt vorbeilaufen. Der Kurzfilm stellt eindrücklich dar, wie Alltagssexismus und das Schweigen darum patriarchale Gewalt mittragen und begünstigen. Die Arbeit an dem Film war für Regisseurin und Animatorin Natalia León auch eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Kindheit in Mexiko. Erst im Ausland sei sie sich der brutalen Realität von patriarchaler Gewalt in Mexiko und deren Normalisierung mehr bewusst geworden, wie sie in einem Interview gegenüber Animation Magazine erklärt: »Die Zahlen sind zu einer erschreckenden Normalität geworden. Als Gesellschaft sind wir abgestumpft gegenüber der Gewalt, die durch Schweigen und abgewandte Blicke genährt wird.« Feministische Aktivist*innen in Mexiko kämpfen täglich dafür, das Schweigen und die Unsichtbarmachung zu brechen, den unbekannten Frauen hinter den Zahlen Gesichter und Namen zu geben und an die Opfer zu erinnern. Dabei verweisen sie auf die Mitschuld staatlicher Behörden und organisieren sich gleichzeitig, um die alltäglichen sexistischen Verhältnisse in Mexiko herauszufordern.
Jede Woche werden dort dutzende Frauen getötet. 2024 wurden laut Zahlen der mexikanischen Behörde für öffentliche Sicherheit 2.598 Frauen ermordet, davon wurden offiziell nur 797 Fälle als Femizide verzeichnet. Die Dunkelziffern dürften zudem deutlich höher liegen. Hinzu kommen Tausende Vermisstenfälle und die Zahl der Frauen, die täglich Belästigung, Sexismus und Gewalt in der Familie, in Partnerschaften und in der Öffentlichkeit erfahren. Der Schmerz, die Geschichten und die Kämpfe der Betroffenen bleiben hinter den Zahlen und Berichten oft unsichtbar, und »diese Unsichtbarkeit ist in gewisser Weise der letzte Gewaltakt, der ihnen widerfährt«. Mit diesem Satz endet die Geschichte von Olivia und der Eisverkäuferin, die nie wieder gesehen wird – als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden.
Als ob die Erde sie verschluckt hätte. Frankreich 2025. 15 Minuten. Regie: Natalia León. Der Kurzfilm ist vom 1. Februar bis zum 1. April in der Arte Mediathek zu sehen.