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|ak 688 | Geschichte

»Holodomor«-Resolution: eine Gewissensberuhigung

Der Bundestag stuft die Hungersnot der 1930er Jahre in der Ukraine als Genozid ein – das ist leichter zu haben als materielle Anerkennungen für deutschen Besatzungsterror

Von Johannes Spohr

Man sieht eine Bronzestatue eines sehr dünnen Mädchens.
Denkmal in Kiew. Foto: J. Lascar/Flickr, CC BY 2.0

Aus einer kürzlich von der Mehrheit des Bundestags angenommenen Resolution geht hervor, dass der »Holodomor«, die menschengemachte Hungersnot in den 1930er Jahren in der Ukraine mit etwa 3,5 Millionen Toten, als Genozid gewertet wird. Die dafür grundlegende Petition aus der ukrainischen Zivilgesellschaft war zuvor mehrfach im Bundestag abgelehnt worden, zuletzt 2019.

Dass mit der jetzigen Anerkennung die Gegenwart politisch kommentiert wird, macht der Zeitpunkt deutlich – seit Februar dieses Jahres führt Russland in der Ukraine einen Krieg, der mittlerweile immer häufiger als genozidal eingeordnet wird. Der Standard titelte passend: »Deutscher Bundestag setzt Zeichen gegen Putin«.

Stimmen aus der Geschichtswissenschaft sind bei der Einordnung als Genozid häufig zögerlicher – das liegt in der Regel nicht etwa an einer damit intendierten Relativierung des Verbrechens, sondern im besten Falle an positiven Eigenschaften der Disziplin. Historiker*innen verkomplizieren Diskurse meist, statt sie – wie hier gefordert – auf einen eindeutigen Nenner zu bringen.

Viele Argumente wurden, ein positiver Effekt, rund um die Bundestagsentscheidung ausgetauscht: Dass die Hungersnot auch im Nordkaukasus, in Kasachstan und weiteren Teilen der Sowjetunion verheerend war; dass die sicherlich nicht völlig unwillkommene klangliche Nähe von Holodomor zu Holocaust problematisch ist und auch die Opferzahlen strittig sind; dass sowohl Soziozid als auch Genozid Konzepte sind, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden können; dass Menschen der Auffassung sind, sich aufgrund des kürzlich ergänzten Absatz 5 im Volksverhetzungparagraf 130 StGB, der das Leugnen von Genozid unter Strafe stellt, nun nicht mehr frei zur ukrainischen Hungersnot äußern zu können. Einig ist man sich weitestgehend über den Zusammenhang zwischen der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1929 und den Millionen Toten.

Ein Grundproblem der UN-Völkermorddefinition von 1948 steckt in der dafür notwendigen Intentionalität, die oft schwer nachzuweisen und von nicht unmittelbar intendierten Folgen abzugrenzen ist. Antiukrainische Haltungen und Taten des Stalin’schen Regimes sind zwar durchaus belegt, aber es gibt keine zentrale Direktive, die eine Vernichtungsabsicht gegenüber Ukrainer*innen als Gruppe dokumentiert. Allerdings ging das Regime im Zusammenhang mit der Hungersnot sowohl gegen die renitente bäuerliche Bevölkerung wie auch systematisch gegen politische (oftmals kommunistische) Repräsentanten aus der Ukraine vor. Auch die ukrainische Sprache und Kultur waren seit Einschränkung der Korenizacija (»Einwurzelung«) und der damit verbundenen Russifizierung Angriffen ausgesetzt. »Der Angriff auf die ukrainische Bauernschaft ging mit dem Angriff auf die ukrainische Kultur einher«, schreibt der Historiker Serhii Plokhy in seinem 2022 endlich auf Deutsch erschienenen Buch »Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine«.

Raphael Lemkin, Schöpfer und Verfechter des Genozid-Modells, nannte die ukrainische Hungersnot 1951 »das klassische Beispiel eines sowjetischen Genozids«. Er versuchte vor dem Hintergrund der bis dato ungekannten Gewalt und Vernichtung durch die Nationalsozialist*innen, neue Definitionen zu etablieren – und damit eine angemessene strafrechtliche Ahndung zu erreichen. Er ging in seinen Worten zur Hungersnot über die UN-Konvention hinaus und nahm darin auch stalinistische Verbrechen auf – aus taktischen und realpolitischen Erwägungen. Lemkin jedoch waren die Diskurse aus unserer Gegenwart unbekannt, aus denen heraus heutige Entscheidungen getroffen werden.

Die Motivationen für die Annahme der Resolution unterscheiden sich womöglich gar nicht so sehr von dem »Aber Bandera«-Geraune.

Es ist nicht bekannt, dass die Parlamentarier*innen vorbereitend für ihre nun gefällte Entscheidung wissenschaftliche Expertise zu Rate gezogen haben. (Für eine glaubhafte Anerkennung des historischen Gegenstands hätte etwa die Lektüre der Abschnitte zur menschengemachten Hungersnot aus dem genannten Buch Serhii Plokhys hilfreich sein können.) Die Anerkennung als Genozid basiert also nicht auf Fachkenntnis und ist gleichzeitig eine verspätete Antwort auf das lange Desinteresse gegenüber der Geschichte des stalinistischen Terrors (abseits antikommunistischen Raunens), der nicht zuletzt für vielfältige Handlungsweisen in der Zeit der NS-Besatzung der Ukraine bedeutend war. Das nutzten auch die Besatzer aus: So wurde etwa die dort zuvor tabuisierte Hungersnot nach dem Einmarsch zu einem zentralen Thema deutscher Propaganda in der besetzten Sowjetunion.

Für eine Verankerung im öffentlichen Bewusstsein der deutschen Gesellschaft wird die parlamentarische Anerkennung kaum sorgen. Auf der internationalen Bühne wird es der Ukraine einige symbolische Vorteile verschaffen, sich auf die Anerkennung von mittlerweile 17 Ländern beziehen zu können. Für viele Mitglieder des Bundestags dürfte die Zustimmung zum Antrag eine Gewissensberuhigung sein. Im Gegensatz zur Lieferung brauchbarer Waffen an die Ukraine kostet diese Ersatzhandlung sie nichts und fällt leichter als jedwede mühselige Debatte um Entschädigungen und Reparationen im Zusammenhang mit dem deutschen Besatzungsterror während des Zweiten Weltkrieges. Hunger und Verhungernlassen waren von Beginn an Elemente der NS-Kriegsplanungen zum Osten Europas und wurden vielfach grausame Realität – Mangelversorgung und Hungererfahrungen wurden zur millionenfachen Erfahrung in den Besatzungsgesellschaften.

In den Jahren 1946 und 1947 forderte eine Hungersnot in der Sowjetunion zwischen ein und zwei Millionen Todesopfer, darunter ein hoher Anteil an Kindern; besonders betroffen war davon unter anderen die Bevölkerung in der Ukrainischen SSR, die bereits bis zu acht Millionen Tote infolge des Zweiten Weltkrieges zu beklagen hatte. Zu den auch hier durchaus komplexen Ursachen des tödlichen Hungers gehörten die ungeheuren Zerstörungen, die die deutschen Besatzer mit ihrem Kalkül der »verbrannten Erde« in allen gesellschaftlichen Bereichen hinterlassen hatten – inklusive dem Erschießen von Vieh und dem Abholzen von Obstbäumen vor dem Rückzug. »Die Ortschaft wurde zu einem Ödland von Ruinen, ermordeten Menschen und Tieren«, heißt es in einem Bericht. über den zentralukrainischen Ort Malyj Brataliw (Oblast Schytomyr). Weder symbolisch noch materiell wurden diese Zusammenhänge bis heute umfassend anerkannt.

Die Motivationen für die Annahme der Resolution unterscheiden sich womöglich gar nicht so sehr von dem »Aber Bandera«-Geraune – Verbrechen anderer sind meist einfacher anzuerkennen als ein Blick in den eigenen Nachlass. Hartnäckig auf sie zu verweisen steht nicht zu Unrecht unter dem Verdacht von Schuldabwehr. Diese Einsichten zu den Dynamiken deutscher Erinnerungspolitik können jedoch kein Grund dafür sein, sich aus einer Mischung aus Moskauzentrik und Selbstbezogenheit heraus nicht mit der Hungersnot in der Ukraine beschäftigen zu wollen. »Wir brauchen das nicht«, sagte etwa der Historiker Jörg Baberowski dem Deutschlandfunk dazu.

Ebensowenig sollte man sich dazu hinreißen lassen, historische Einordnungen wie erinnerungspolitische Diskurse vom Gegenstand zu entkoppeln – eng an den Quellen diskutiert es sich immer noch am besten. Möglichkeiten, gelebte Solidarität gegen die russische Invasion zu zeigen, gibt es viele.

Johannes Spohr

ist Historiker und betreibt den Recherchedienst present past zum Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft (present-past.net). Er promovierte zur Ukraine in der Zeit des Rückzugs der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, sein Buch »Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende« erschien im Metropol-Verlag.