»Fleischverzicht garantiert kein gerechtes Agrarsystem«
Der Wissenschaftsjournalist und Buchautor Matthias Martin Becker über landwirtschaftliche Produktion in der »Heißzeit«
Interview: Eva Gelinsky

Immer deutlicher zeigt sich, dass die kapitalistisch organisierte Landwirtschaft ihre eigenen Produktionsgrundlagen untergräbt. Die sich beschleunigende Erderhitzung macht einen ökosozialistischen Umbau der Landwirtschaft daher umso dringlicher. In welche Richtung könnte es gehen? Becker skizziert in seinem neuen Buch »Bodenlos. Wer wird die Welt ernähren?« verschiedene Entwicklungspfade.
In der Landwirtschaft gehe es nicht darum, Nahrungsmittel zu produzieren, sondern um Profite. Das Essen sei lediglich Beiwerk, schreibt der US-amerikanische Biologe Richard Levins. Wie würdest du den Zweck der landwirtschaftlichen Produktion im Kapitalismus bestimmen?
Matthias Martin Becker: Um es ganz allgemein auszudrücken: Der Zweck der Nahrungsproduktion im Kapitalismus ist die Reproduktion des Proletariats. Dies im doppelten Sinne, die Arbeitenden müssen ernährt, aber auch im Zustand der Eigentumslosigkeit und damit der Lohnabhängigkeit gehalten werden. Die Landwirtschaft muss gleichzeitig arbeitsfähig und arbeitswillig halten. Ich betone das, weil diese doppelte Funktion wichtige Folgen für die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die konkreten Formen der Agrarproduktion hat. Durchaus mögliche und sehr sinnvolle Subsistenz-Anbausysteme beispielsweise sind unter kapitalistischen Verhältnissen von vornherein ausgeschlossen. Weil Nahrung, im Guten wie im Schlechten und vermittelt über die Arbeitskosten, eine zentrale Rolle für die Verwertung insgesamt und auch in der Staatenkonkurrenz spielt, war die Landwirtschaft immer auch Gegenstand herrschaftlicher und staatlicher Kontrolle. Ihre Intensivierung und Rationalisierung zielt auf höhere Profite der Erzeuger und Vermarkter, wie Richard Levins richtig herausstellt, aber, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf die Verbilligung der Arbeitskraft. Kurz, die Profitmaximierung des Lebensmittelkapitals kann der Profitmaximierung insgesamt in die Quere kommen. Dass die Erntemengen seit dem 19. Jahrhundert immer weiter wuchsen, überdeckte diesen Widerspruch. Die einsetzende Klima- und Agrarkrise setzt nun das System einer fortwährenden Rationalisierung unter Druck.

Matthias Martin Becker
ist Übersetzer und freier Wissenschaftsjournalist, u.a. für Deutschlandfunk, SWR und WDR. Zuletzt hat er das Buch »Bodenlos. Wer wird die Welt ernähren? Umbrüche in Agrobusiness und Tierindustrie« (Papy Rossa, 295 Seiten, 19,90 EUR) veröffentlicht.
Du beschreibst, wie das Kapital die mit der »Autonomie der Natur« und der »Autonomie der Arbeit« verbundenen Verwertungshindernisse in der Landwirtschaft zu beseitigen versucht. Wie verändert sich dieser Zugriff durch die ökologische Krise?
Der Anbau wird aufwändiger, die Ernten unsicherer, weil beispielsweise Bestäuber fehlen, Niederschläge ausbleiben und Boden degradiert. Ausfallende Ökosystemleistungen müssen mit technischen Anlagen ersetzt werden. Als roter Faden in meinem Buch dient der Anbau unter »kontrollierten Umweltbedingungen«, englisch Controlled Environment Agriculture. Er treibt die Isolation von Pflanzen und Tieren auf die Spitze, was sich an den allgegenwärtigen »Biosicherheit-Maßnahmen« ablesen lässt. Die Unternehmen züchten beispielsweise Tomaten in geschlossenen Containern. Im Innern werden Temperatur, Kohlenstoffgehalt der Luft, die Zufuhr von Wasser und Nährstoffen genau geregelt, um ein optimales Wachstum zu erreichen. Diese Tendenzen haben mich fasziniert, weil sie so widersprüchlich sind, ein Sinnbild für die Landwirtschaft in der Klimakrise: Die Erzeuger perfektionieren in Innenräumen die Kontrolle des Organischen, während sie ihnen im Freiland zunehmend entgleitet.
Der Zweck der Nahrungsproduktion im Kapitalismus ist die Reproduktion des Proletariats.
Vor allem in der intensiven Tierhaltung – und der dazugehörigen Züchtung – ist die Industrialisierung der Produktion weit fortgeschritten. Der Ausrichtung auf intensive Tierhaltung, die mit hohen Treibhausgasemissionen verbunden ist, entspricht auch die Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen. Für die Lebensmittelproduktion werden in Deutschland nur noch 24 Prozent der Flächen genutzt. 60 Prozent dienen dagegen der Produktion von Futtermitteln. Wie ist deine Position zur Viehhaltung?
An der Abwicklung der Tierindustrie führt kein Weg vorbei, unter anderem wegen der monokulturellen Kraftfutterproduktion, der unwürdigen Behandlung der Tiere und übrigens auch den mit ihr verbundenen Zoonosen. Aber eine fleischlose Ernährung garantiert kein gerechteres oder ökologisch nachhaltiges Agrarsystem! Schon weil das Agrarkapital die durch Effizienzgewinne freiwerdenden Ressourcen und Flächen abermals ausreizen wird. Wir sollten weniger über vermeintlich ethischen Konsum sprechen und mehr über die konkrete Produktion und Verteilung. Im Feldbau sind eine viel größere Diversität der Kulturen und kleinere Schläge, mehr mehrjährige Kulturen und überhaupt komplexere Anbausysteme notwendig. All das ist durch geringere Tierzahlen nicht gesichert.
Du versuchst, Agrartechniken aus ihrem kapitalistischen Umfeld quasi herauszulösen: »Der Gebrauchswert neuer Nutzpflanzen und Anbaumethoden gehe über die Profitinteressen hinaus, die ihre Entwicklung antreiben«.
Genau! Spätestens in der endlich erreichten Ökodiktatur des Proletariats werden die Menschen entscheiden müssen, welche Landwirtschaft sie betreiben. Es wäre gut, wenn Ökosozialist*innen schon vorher ein differenziertes Verhältnis zu den verschiedenen Anbaumethoden entwickeln. Ich zeige Möglichkeiten auf, beschreibe zum Beispiel Szenarien, um den Widerspruch von Stadt und Land zu überwinden oder wenigstens zu mildern, denn das ist ein ökologisches Kernproblem. Auch Methoden aus der synthetischen Biologie und großindustrielle Stoffkreisläufe können zu diesem Zweck sinnvoll sein.
Als Beispiel für das widersprüchliche Verhältnis von Tauschwert und Gebrauchswert führst du die Hybriden an. Bei der Entwicklung der Hybridzüchtung ging es primär darum, aus Saatgut eine Ware, ein Geschäft zu machen. Sind wissenschaftlich-technische Entwicklungspfade im Kapitalismus denn nicht immer vom Ziel kapitalistischen Produzierens – Mehrwert – bestimmt?
Dass die kapitalistische Produktion und Wissenschaft der Akkumulation des Kapitals dient, ist ebenso richtig wie banal. Zur Beurteilung einer bestimmten Technik trägt diese Feststellung kaum etwas bei. Muss der Ökosozialismus auf Antibiotika, Traktoren oder Digitaltechnik verzichten, weil aus ihnen Profit geschlagen wird? Sicher nicht. Die landwirtschaftlichen Produktivkräfte sind sozusagen in eine Sackgasse geraten: Hohe Erträge können mit wenig Arbeit, aber nur mit massivem Raubbau erreicht werden. Dazu trägt der Anbau von Hybriden gegenwärtig bei, aber das müsste eben nicht so sein. Diese Pflanzen haben Vor- und Nachteile.
Mir klingt das zu sehr nach »Technologieoffenheit«, diesen Eindruck hatte ich auch bei der Lektüre deines Buches. Meiner Meinung nach müsste die Bewegung hin zu einer ökosozialistischen Landwirtschaft nicht nur das Eigentum an den Produktivkräften verändern, sondern diese selbst.
Genau um diese Veränderungen – ihre Hindernisse, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten – dreht sich das Buch.
Aber kommen wir zu meiner nächsten Frage. Du weist darauf hin, dass das Wissen über die lokalen Verhältnisse und die Erfahrungen der Erzeuger*innen in der Heißzeit eher noch wichtiger werden. Aber lernen Bäuer*innen in landwirtschaftlichen Schulen heute nicht vor allem, wie sie im harten Konkurrenzkampf des »Wachsen oder Weichen« bestehen können?
Das Erfahrungswissen der Erzeuger*innen ist nicht weniger widersprüchlich als das theoretische, agrarwissenschaftliche. Zum Teil verstehen sie die ökologischen Folgen ihrer Arbeit sehr genau. Zum Teil sind ihre Kenntnisse und Fertigkeiten für eine bessere Agrarproduktion nicht zu gebrauchen, beispielsweise weil ihr Verständnis von Bodenfruchtbarkeit von der heutigen Düngepraxis bestimmt wird. Die Landarbeit muss eine neue Praxis entwickeln, in enger Abstimmung mit einer reformierten Agrarwissenschaft. Auf die Frage, wie die Weltbevölkerung in der Heißzeit ernährt werden kann, gibt es leider keine einfache Antwort, keine Patentrezepte oder Allheilmittel – und eben auch keine »natürliche Landwirtschaft« vor dem kapitalistischen Sündenfall, zu der wir zurückkehren könnten, wie die Agrarromantik suggeriert.
Die verschiedenen »Auswege« oder Utopien für eine »widerstandsfähige und produktive Landwirtschaft in der Heißzeit«, die du am Ende des Buches skizzierst, zeigen, dass es vielfältige Lösungsansätze gäbe. Im Kapitalismus sind diese aber kaum umsetzbar; gleichzeitig beschleunigt sich die Erderhitzung. Wie gehen wir mit diesem Dilemma um?
Eine bessere Agrarproduktion trifft auf den heftigen Widerstand des Kapitals, der Grundbesitzer und auch der Agrarunternehmen in Familienbesitz. Angesichts der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse bleibt wenig mehr, als uns mit politischer Organisation und Theoriearbeit auf die kommenden Krisen und Kämpfe vorzubereiten, fürchte ich. Sie werden unweigerlich kommen.
Wer wären die Träger*innen des notwendigen Umbaus in der Landwirtschaft? Die Bauernproteste im vergangenen Jahr haben gezeigt, dass viele Bäuer*innen in Europa den Status quo der intensiven Produktion verteidigen. Siehst du dennoch irgendwo progressive Ansätze oder Bewegungen?
Einige kleinere Landarbeiter-Gewerkschaften, Produktionsgenossenschaften und Bauernverbände wären zu einer nicht-kapitalistischen Nahrungsproduktion bereit. Die ökosozialistische Bewegung kann sie unterstützen, indem sie für Vergesellschaftung kämpft: Sozialisierung des Bodens, der Betriebsmittel- und verarbeitenden Industrien und – entscheidend, aber oft vergessen – für gemeinwohlorientierte Strukturen für die Vermarktung, am Handelskapital vorbei. So ließe sich die reaktionäre, anti-ökologische Einheitsfront aufbrechen, die von den großen Bauernverbänden organisiert wird.