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|ak 696 | Geschichte

Unsagbares Leid zur Sprache bringen

Der Roman »Die Möglichkeit von Glück« liefert eine weibliche Perspektive auf die Baseballschlägerjahre der 1990er

Von Nane Pleger

Porträt der Schriftstellerin Anne Rabe in einem Café.
Die Dramatikerin und Essayistin Anne Rabe hat mit »Die Möglichkeit von Glück« ihr Prosadebüt vorgelegt. Foto: Annette Hauschild/Klett-Cotta

Im Frühjahr des vergangenen Jahres sind Bücher von jungen Männern erschienen, die sich mit der gewalttätigen Zeit nach der Wende auseinandersetzen. Die Titel von Hendrik Bolz, Daniel Schulz oder Domenico Müllensiefen wurden viel diskutiert, vom »Frühjahr der Ostmänner« war die Rede. Und in der Tat: Es waren wichtige Bücher, brachten sie doch eine Gewalt in den öffentlichen Diskurs, über die lange geschwiegen worden war. Aber die Texte hatten auch Leerstellen: Perspektiven jenseits weißer Heteronormativität und männlicher Dominanz kamen nicht vor (siehe mein Artikel »Wessen Jugend wird erzählt?« in ak 683). Es gilt also, den Blick auf die jüngere deutsche Vergangenheit zu erweitern.

Das Märchen von den »blühenden Landschaften« lag wie ein Deckmantel auf den Deutschland nach 1989, das in Wirklichkeit voller Gewalt war. Durch dieLiteratur konnte das nur ansatzweise gelüftet werden. Zu sehr wurden männliche Geschichten erzählt – zumindest bekamen diese medial unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit. In meinem Artikel formulierte ich das dringende Bedürfnis nach Büchern – und die Diskussion über diese, die mit ihren Geschichten einen Zugang zu den leidvollen Erfahrungen schaffen können, die gerade viele marginalisierte Menschen nach ‘89 im Osten wie im Westen Deutschlands machen mussten.

Die alte Heimat war für viele Frauen nicht mehr lebenswert.

Das Buch »Die Möglichkeit von Glück« von Anne Rabe ist so ein Buch. Der Roman reflektiert die Gewalt, die nach der sogenannten Wende den Alltag vieler Menschen prägte. Opfer dieser Gewalt waren in erster Linie Menschen, die aufgrund der patriarchalen und rassistischen Strukturen, die sowohl die soziale Ordnung der DDR als auch der »wiedervereinigten« BRD formten, ohnehin schon benachteiligt oder diskriminiert wurden.

Neben der Atmosphäre auf den Straßen des ehemaligen Ostens, die aufgeladen war mit rassistischem Hass und rechter Gewalt, konnte auch die familiäre und private Umgebung zur Bedrohung werden. So weist die Autorin Anne Rabe in einem Gespräch mit mir auf die zu dieser Zeit überfüllten Frauenhäuser hin. Sie wurden in den 1990er Jahren überhaupt erst errichtet und waren Zufluchtsort für mehr Frauen, als es Kapazitäten gab. Statistiken zeigen heute, dass gerade Frauen in den ehemaligen Westen zogen und ihre Heimat Ost-Deutschland aufgaben. Es scheint, als sei die alte Heimat für viele weibliche Menschen nicht mehr lebenswert, nicht mehr sicher gewesen.

Erwachsene als Bedrohung

Der Roman der 1986 in Wismar geborenen Autorin Rabe berichtet von der Ich-Erzählerin Stine, die nach der Wende in Ost-Deutschland aufgewachsen ist und nun als Mutter in Berlin lebt. Sie versucht, sich an ihre Kindheit in einem kleinen Ort an der ostdeutschen Ostseeküste zu erinnern. Die Erinnerungen, die in ihr bruchstückhaft, durcheinander, verworren hochkommen, sind vor allem von einem geprägt: Gewalt. Sie erinnert sich an Aggressivität, Ausgrenzung, Herabwürdigung, körperliche Übergriffe, sexuellen Missbrauch, die sie zu Hause von ihren Eltern, im Umgang mit Mitschüler*innen und in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen erlebte. Außerdem erinnert sie sich an ein Schweigen: Die Verletzungen und die Ängste, die sie als Kind hatte und die auch ihr soziales Umfeld erfahren hatte, wurden nie benannt und durften auch nicht angesprochen werden.

Mit ihrem Studium entflieht Stine schließlich einer Kindheit und Jugend, die von Erwachsenen geprägt war, die ihr keinen emotionalen Halt, keine Zuneigung geben konnten, sondern eine Bedrohung für sie darstellten. Der Roman fragt nach den Gründen für diesen gewalttätigen Umgang miteinander und bricht damit ein Schweigen, das gerade der Generation der Vor- und Nachwendezeit aus Ostdeutschland bekannt ist. Es ist ein Stillschweigen über die Wirrungen nach der sogenannten Wiedervereinigung, über die Ziellosigkeit und Überforderung der Erwachsenen im neuen System und über die autoritären Strukturen der Pädagogik, in der die Menschen in der DDR aufwuchsen. Es ist eine gesellschaftliche Wortlosigkeit, die sich in Bolz´ Text in der Zeichnung einer erwachsenenlosen Welt in seinem Roman »Nullerjahre« zeigt.

Die Stärke von Rabes Roman liegt darin, dass er über die Beschreibung der gewalttätigen 90er- und Nullerjahre hinausgeht und nach Gründen für die Aggressivität sucht. Die Gründe, die der Roman liefert, sind vielschichtig und geben keine finalen Antworten. Der Text bricht mit dem Narrativ, die Gewalt, der Hass und die Aggression, die sich in rassistischen, rechtsextremen und misogynen Übergriffen zeigten, seien aus dem Westen in den Osten importiert. Er fragt nach den Machtverhältnissen vor und nach der Wende – zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Parteitreuen und Parteikritisierenden, zwischen Frauen und Männern.

Kein Frühjahr der Ostfrauen

Es ist also ein Buch, das der vorherrschenden männlichen Perspektive auf diese historische Epoche eine weibliche entgegensetzt. Dennoch konnte das »Frühjahr der Ostfrauen« 2023 nicht ausgerufen werden. Vielmehr hat sich der Diskurs in diesem Jahr dahingehend verschoben, dass wieder einmal der Fokus auf das Erleben der Vergangenheit von weißen, cis-Männern gelegt wird. Bestes Beispiel: »Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung« von dem Literaturprofessor Dirk Oschmann. Dieses Buch stärkt die Dominanz der männlichen Perspektive auf die Vergangenheit. So inszeniert es die ost-deutschen Männer aus den Jahrgängen zwischen 1945 und 1975 als die am meisten benachteiligte Gruppe seit der Eingliederung der DDR in die BRD. Damit ignoriert das Buch die Realität, die nicht-männliche, weiße Menschen nach 1989 erleben mussten.

Umso mehr erscheint es wichtig, aktiv das Zuhören der unerzählten Geschichten der Vergangenheit einzufordern. »Die Möglichkeit von Glück« von Anne Rabe kann dafür einen Anfang setzen, bringt es das eigentlich unsagbare Leid zur Sprache, das Stine – stellvertretend für viele Mädchen und junge Frauen – nach der Wende erlebte. Doch vertuscht die ungleiche Verteilung von Privilegien weiterhin Erlebnisse von mehrfach diskriminierten Menschen, sodass diese nicht in der kollektiven und kulturellen Erinnerung gesehen werden. Rabe wies im Gespräch auch auf die Lebensrealität von Kindern mit Behinderung hin. Sie seien in der DDR vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen worden und oft in Heimen untergebracht gewesen, in denen sie kaum Förderung bekamen, weil sie kein Recht auf Bildung hatten.

Es fehlen also weiterhin viele Geschichten, um die vollständige Geschichte zu verstehen. Geschichten, die aber gebraucht werden, um gegen die Ungerechtigkeiten heute ankämpfen zu können.

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 382 Seiten, 24 Euro.

Nane Pleger

ist Autorin und schreibt für ak meist über Bücher, deren Geschichten sie als Verhandlungsort von gesellschaftlichen Narrativen sieht.