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Wessen Jugend wird erzählt?

Warum es auch im Genre der Ostromane diversere Perspektiven und Autor*innen braucht

Von Nane Pleger

Romane und Geschichten noch und nöcher. Aber wo sind jene über Figuren, die ihre Jugend nicht als junger, brutaler Mann in den Jahren vor und nach der Wende in Ostdeutschland verbracht haben? Foto: Gulfer Ergin/Unsplash

Romane erzählen Leser*innen nicht nur Geschichten, sondern häufig auch von »der Geschichte«, also von der Vergangenheit. An solchen historischen Romanen besteht ein stetiges großes Interesse, wenn man sich den Literaturmarkt der vergangenen Jahre anschaut. Wenn man noch genauer hinschaut, bemerkt man, dass Anfang dieses Jahres einige eher autofiktionale Romane erschienen sind, deren Handlung in der DDR oder im Raum der ehemaligen DDR angesiedelt ist. Der Begriff der Autofiktion meint hier, dass Autor*innen deutlich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, diese mit literarischen Mitteln aber auch verändern. 

Seit dem Mauerfall gab es dabei schon vereinzelt literarische Texte, die von einer Jugend in der DDR oder Ostdeutschland erzählten. Das aber jetzt im Frühjahr 2022 gleich drei, in den Feuilletons viel besprochene, Romane erschienen sind, die von einem Aufwachsen rund um die Wendezeit berichten, ist trotzdem auffällig. Dass solche Geschichten gerade einen guten Absatzmarkt finden, ist sicherlich Teil des Prozesses der Verschiebung des Diskurses rund um die innerdeutsche Teilung, wie sie 30 Jahre nach dem Mauerfall 2019 von der Onlineredaktion kritisch-lesen.de festgestellt wurde: »War die Auseinandersetzung bisher geprägt von einem Bild von außen, ist jetzt mehr Raum für die Brüche, die Widersprüche, den Alltag der real existierenden DDR.« 

Erzählungen in Filmen und eben in literarischen Texten sind ein wesentlicher Teil dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Erinnerungskultur. An ihnen wird deutlich, was die Menschen bewegt, worüber sie sprechen wollen, was sie erfahren wollen. Die Art und Weise, wie über die DDR und Ostdeutschland in Literatur erzählt wird, sagt viel aus. Genauso viel Aussagekraft haben zudem der Absatzmarkt und die medialen, öffentlichen Literaturbesprechungen, indem sie zeigen, wessen Texte für Leser*innen und Kritiker*innen relevant zu sein scheinen. Und deswegen lohnt es sich, einen noch genaueren Blick auf die jüngst erschienen Bücher wie auch ihre Rezeption zu werfen.

In der Vergangenheit konnte man bereits das wiederkehrende Phänomen beobachten, dass Bücher, die von Jugend erzählen, zu der Erzählung einer Generation erkoren worden – hier sei an die nahezu Vergötterung von Wolfgang Herrendorfs »Tschick« erinnert, der als der Roman schlechthin für die Jugend der »Postpostmoderne« gehandelt wird. Dass es aber diese eine universale Erfahrung einer Lebensphase gar nicht geben kann, da unsere Gesellschaft dafür zu stark von sozialer Ungleichheit geprägt ist, wird dabei meist außer Acht gelassen. 

Seit Jahren muss die genderkritische Literaturwissenschaft schon dafür kämpfen, dass bei einer Textuntersuchung das Gender der Figuren beachtet wird. Denn je nachdem, ob eine Figur als weiblich oder männlich inszeniert wird, hat sie einen ganz anderen Handlungsspielraum. Die erzählte Geschichte wird maßgeblich von Gendernormen beeinflusst, indem diese für die Handlungen, Aussagen und Beziehungen der Figur relevant sind. Eine Geschichte, die von einem männlichen Protagonisten erzählt, müsste grundsätzlich verändert werden, wenn sein Gender verändert werden würde. Oder anders gesagt: männliche Protagonisten werden in ganz speziellen Handlungsmustern »auserzählt«.

Frühjahr der Ostmänner

Dieser Einfluss bei Literaturbesprechungen wird meist nicht bedacht. Und ebenso oft wird übersehen, dass alle nicht-männlichen Leser*innen die Texte ganz anders lesen und sich vielleicht nicht mit den Protagonisten identifizieren können, da sie niemals den Handlungsspielraum der männlichen Figuren hätten. Diese Konstruktion von männlichen Geschichten zur Universalität hat also fatale Folgen. Und deswegen ist es auch kritisch zu bewerten, wenn beispielsweise in der taz jüngst das »Frühjahr der Ostbücher« ausgerufen wurde, in dem endlich von der Jugend in Ostdeutschland ehrlich berichtet wird. 

Diese drei »Ostbücher« haben eben nicht nur gemeinsam, dass ihre Handlung durch die spezifischen Bedingungen des Settings Ostdeutschlands in den Jahren nach der Wende gerahmt ist. Sondern auch, dass sie alle von männlichen Autoren geschrieben worden sind und mit ihren Protagonisten einen Fokus auf männliche Jugend legen: »Nullerjahre« von Hendrik Bolz, »Wir waren wie Brüder« von Daniel Schulz und »Aus unseren Feuern« von Domenico Müllensiefen. Diese Texte können also nicht sinnbildlich für die Jugend nach der Wende stehen. 

Wir sollten anfangen, besonders nach Geschichten von Menschen zu suchen, die unter Machtstrukturen, wie denen des Patriarchats, leiden.

Auch wenn die DDR wesentlich weiter als die BRD in Sachen Gleichstellung war – zum Beispiel wurde die Frau aus der Vormundschaft ihres Ehemannes in der DDR 31 Jahre, bevor es in der BRD geschah, rechtlich befreit – kann bei Weitem trotzdem nicht von einer gleichberechtigten Ausgangslage gesprochen werden. Frauen hatten mit anderen Herausforderungen als Männer zu kämpfen und waren auch in dem real-sozialistischen Staat mit Diskriminierung und Unterdrückung konfrontiert. Diese besondere gesellschaftliche Position muss sich dementsprechend unweigerlich in die Erzählung von einer weiblichen Jugend in dieser Zeitspanne einschreiben. Zumal weibliche Figuren in den drei genannten Romanen höchstens als Randfiguren auftauchen und im Zentrum dafür eine oftmals archaisch inszenierte Männlichkeit steht. 

Es ist die Aufgabe der Rezipient*innen und der Kritiker*innen, das zu reflektieren und den erzählten Geschichten in den Texten nicht Universalität zuzusprechen. Ansonsten tappen sie in die Falle der patriarchalen Geschichtsschreibung, vor der bereits 1986 die Historikerin Gerda Lerner warnte: »Was Frauen getan und erlebt haben, blieb unerwähnt, galt als unwesentlich und wurde in der Interpretation der Historiker übergangen. Die Geschichtswissenschaft hat bis in die jüngste Zeit Frauen nur als Randfiguren behandelt und ihnen weder im Prozess der Entstehung der Zivilisation noch in Bezug auf die Errungenschaften, die als historisch signifikant definiert worden sind, eine Bedeutung zugeschrieben.« 

Nach anderen Geschichte suchen

Die Kritiker*innen sollten also aufmerksam sein und nicht eine lückenhafte Darstellung der Vergangenheit unterstützen. Das bedeutet nicht, dass die drei hier erwähnten Texte nicht gelesen werden sollen. Aber es bedeutet, dass die Lektüreliste auch um Texte mit weiblichen Protagonist*innen erweitert werden muss, wenn man sich mittels Literatur mit dem Ende der DDR und einer Jugend in dieser Zeit und in der danach auseinandersetzen will. Wenn man die Gewalt bedenkt, die treibendes Element in den Texten von Bolz, Schulz und Müllensiefen ist, dann ist davon auszugehen, dass gerade (junge) Frauen aus dieser Zeit schmerzhafte Geschichten zu erzählen haben, sind sie doch im Patriarchat erstes Opfer der Gewalt, besonders der sexuellen, von Männern. Auch müssten die Geschichten von nicht cis-männlichen oder homosexuellen Figuren einen anderen Verlauf nehmen. Gerade mit diesen leidvollen Geschichten sollten wir uns öffentlich auseinandersetzen, denn »um Ungerechtigkeit in der Zukunft beheben zu können, müssen wir die Verletzungen in der Vergangenheit benennen und anerkennen«, wie die Schriftstellerin Laurie Penny schreibt.

Deswegen sollten wir anfangen, besonders nach den Geschichten von Menschen zu suchen, die unter zentralen Machtstrukturen, wie denen des Patriarchats, leiden. Man wird auch fündig, wenn man nach diverseren Pendants zu Scholz, Müllensiefen und Bolz sucht. Denn die drei Autoren sind keineswegs die »erste(n) Menschen, die es schaffen, die richtigen Worte zu finden, um erlebtes Leid oder krasse Erlebnisse zu beschreiben« (ak 680). Schon vor elf Jahren veröffentliche Andrea Hanna Hüniger ihren Debütroman, dessen Handlungsraum ein Weimarer Plattenbauviertel in der Zeit der Jahrtausendwende war. Auch Manja Pränkels wählte mit »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« 2017 die gerade verschwundene DDR für ihre Erzählung von Jugend als literarischen Schauplatz. Diese Texte scheinen nur schneller aus dem kollektiven Gedächtnis zu schwinden. Sie werden erst gar nicht so eingehend besprochen, dass sie sich überhaupt darin einen Platz schaffen könnten.

Dies ist auch nicht verwunderlich: Der Literaturmarkt ist von männlicher und auch weißer Dominanz geprägt. Der Kanon ist immer noch eine lange Liste mit Texten von weißen männlichen Autoren mit weißen männlichen Figuren, die den Schüler*innen in Deutschland vorgesetzt werden und die an den städtischen Theatern gespielt werden. Ein weiteres Phänomen ist das schnelle Vergessen von Texten von Autor*innen, selbst wenn sie mit Preisen ausgezeichnet worden sind. Dieses Nichtsehen beziehungsweise Vergessen scheint aber nur logisch, wenn man weltweit beobachtet, wie verzweifelt versucht wird, an patriarchalen Strukturen festzuhalten. 

Um mit den Worten des Autoren Max Czollek zu sprechen, möchte ich deswegen all die Menschen, die nicht männlich, weiß oder heterosexuell sind, ansprechen und sie aufrufen: Desintegriert euch aus dem androzentrischen Weltbild, erzählt uns eure Geschichten! Wir brauchen für eine gerechte, diverse Gesellschaft im Hier und Jetzt auch die Erzählung von Figuren, die ihre Jugend nicht als junger, brutaler Mann in den Jahren vor und nach der Wende in Ostdeutschland verbracht haben. Gleichzeitig möchte ich auch alle anderen ansprechen: Desintegriert auch euch ihr aus dem androzentrischen Weltbild und fangt an, Geschichte(n) mit diverseren Figuren zu fordern.

Nane Pleger

ist Autorin und schreibt für ak meist über Bücher, deren Geschichten sie als Verhandlungsort von gesellschaftlichen Narrativen sieht.