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Autoritäre Ordnungsrufe

Gerhard Hanloser und sechs weitere Autor*innen liefern wertvolles Material für die Debatte um »linken Antisemitismus«

Von Jens Renner

Anarchist und Antisemit: Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), hier auf dem Gemälde von Gustave Courbet »Proudhon und seine Kinder« (1865). Foto: Wikimedia, gemeinfrei

In einem Essay für Die Zeit (9.4.1976) schrieb der Schriftsteller Gerhard Zwerenz (1925-2015) den Satz »Linker Antisemitismus ist unmöglich«. Gegen die darüber einsetzende Empörung, die in einschlägigen Texten bis heute immer wieder geschürt wird, erläuterte er, was er damit gemeint hatte: »Links ist, wo die Aufklärung wirksam gemacht wird. In diesem Sinne ist ein linker Antisemitismus unmöglich.« Gerhard Hanloser, Herausgeber und quantitativ wie qualitativ produktivster Autor des Bandes »Linker Antisemitismus?«, zitiert beides. Dass es Antisemitismus in der Linken gibt, steht für ihn außer Frage. Seine »kontextualisierende Bestandsaufnahme« beginnt im 19. Jahrhundert mit dem französischen Anarchisten und »veritablen Antisemiten« Pierre-Joseph Proudhon und dem von Karl Marx reproduzierten »antijüdischen Schacher-Stereotyp«. Auch den stalinistischen Antisemitismus und den gescheiterten Querfrontversuch der KPD aus dem Jahr 1923 erwähnt er. Damals glaubte die Parteivorsitzende Ruth Fischer, in der Hetze der Nazis gegen »Judenkapitalisten« antikapitalistische Ansätze und damit Potenziale für ein revolutionäres Bündnis gegen den bürgerlichen Staat zu erkennen.

Beim Blick auf die DDR ist der Befund weniger eindeutig. Hanloser trägt einiges zusammen, das der heute verbreiteten Pauschalverurteilung des Arbeiter-und-Bauern-Staates als antisemitisch und geschichtsvergessen widerspricht. Und er relativiert das westdeutsche Selbstlob für vermeintlich vorbildliche Aufarbeitung der deutschen Verbrechensgeschichte. Tatsächlich blieb diese aber für die staatstragenden Kräfte jahrzehntelang ein Tabu. Auch dagegen und gegen die personellen und politischen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus richtete sich die Revolte von 1968. Deren Protagonist*innen wandten sich dann aber von der grauenvollen Vergangenheit ab und der strahlenden Zukunft zu. »Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen«, soll Rudi Dutschke gesagt haben.

Agitatorischer Überschwang, antilinke Delegitimierung

Mit den westdeutschen Revolutionsversuchen verbunden waren dann auch die inflationäre Verwendung des Faschismusbegriffs, oft grobschlächtige Analysen der weltweiten Widersprüche, im Nahostkonflikt eine unkritische Parteinahme für die palästinensische Seite und ein rüder Antizionismus. Hanloser sieht hier vor allem »agitatorischen Überschwang« am Werke. Antisemitismus sei erst dann gegeben, »wenn eine klare Schuldabwehrstrategie … erkennbar ist, die Israelis als neue Nazis konstruiert werden, um die deutsche Schuld zu schmälern«. Die späten Selbstbezichtigungen ehemals linker »Renegat*innen« würden eine differenzierte und selbstkritische Aufarbeitung linker Fehler eher behindern. Seine Lieblingsfeinde schließlich, die Antideutschen, sieht Hanloser als Teil einer »Glaubensgemeinschaft«, die den Antisemitismusvorwurf als »Ordnungsruf« und Mittel einer »politischen Delegitimierungsstrategie« einsetze. »Die öffentliche Anklage des linken Antisemitismus lebt von der Andeutung, Behauptung und dem Raunen«, schreibt Hanloser und zitiert Micha Brumlik: Mit dem »Hammer des israelbezogenen Antisemitismus« sei man »auf der Ebene von Gerüchten, und wozu Gerüchte führen können, das haben wir in den 50er Jahren in den USA erlebt, das nennt man heute McCarthyismus«.

In seinem zweiten Beitrag, einem »kursorischen Blick auf kursierende Begriffsdefinitionen«, demontiert Hanloser das Konstrukt des »strukturellen Antisemitismus« und die mehr oder weniger offiziellen Antisemitismusdefinitionen des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) und der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). (ak 654) Letztere sieht er, wie der von ihm zitierte Peter Ullrich, als ein »zu Willkür geradezu einladendes Instrument«. Wie die antilinken Kampagnen wirken, zeigt er am Beispiel der Linkspartei. Deren Anpassungskurs gipfelte in Gregor Gysis Bekenntnis zur Solidarität mit Israel als Teil deutscher »Staatsräson«, womit er eine Formulierung Angela Merkels übernahm. »Staatsräson«, schreibt Hanloser, sei aber »ein autoritärer Ordnungsruf und kann mit einem linken Selbstverständnis … nicht identisch sein.«

Viel Stoff für kontroverse Debatten

In den weiteren Beiträgen, die etwa zwei Drittel des Gesamtumfangs ausmachen, werden einzelne Aspekte des linken Antisemitismusstreits vertieft. Themen sind die Neue Linke (Karin Wetterau), der bewaffnete Kampf (Gerhard Hanloser), Rainer Werner Fassbinders Theaterstück »Die Stadt, der Müll und der Tod« (Peter Menne), antiisraelische Parolen in der Hamburger Hafenstraße (Markus Mohr), Moishe Postones »marxisierende Konstruktionen« (Karl Reitter), der »selbsthassende Jude« (Moshe Zuckermann) und »Antisemitismus als Beute der Intellektuellen« (Ilse Bindseil).

Alle Beiträge lassen sich mit Gewinn lesen. Besonders ergiebig für die politische Debatte sind Gerhard Hanlosers eigene Texte. Das Wort »Pflichtlektüre« steht bei ak zu Recht auf dem Index. Wer aber über mutmaßlichen »linken Antisemitismus« mitreden will, wird um das Buch nicht herumkommen. Auf seine kontroverse Rezeption, Verrisse eingeschlossen, darf man gespannt sein.

Linker Antisemitismus? Herausgegeben von Gerhard Hanloser. Kritik & Utopie im Mandelbaum Verlag, Wien 2020. 304 Seiten, 22 EUR.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.