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|ak 693 | Geschichte

Wie kann die Revolution siegen

Der westliche Marxismus wird 100 – er ist vor allem aus der Erfahrung der Konterrevolution entstanden

Von Johannes Tesfai

Von hinten fotografierte Person, an einer Barrikade, die dort ihre Gewehre aufgelegt haben und zielen
Auch dieser Aufstand wurde niedergeschlagen: Barrikadenkämpfe in Berlin im Januar 1919. Foto: gemeinfrei

Der Erste Weltkrieg blieb seinen Zeitgenoss*innen als Albtraum in Erinnerung. Mit den neu erfundenen Panzern, den schnellen Maschinengewehren, dem massiv eingesetzten Giftgas und der Ausbreitung des Luftkriegs sorgte er für bis dahin unvorstellbares Leid. Der ewige Stellungskrieg wurde zweifellos zu einem Katalysator der danach einsetzenden proletarischen Aufstände und Revolutionen.

Zwei der wichtigsten kommunistischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit radikalisierten diese Revolutionsversuche nachhaltig: Karl Korsch und Georg Lukács. Vor 100 Jahren veröffentlichten beide unabhängig voneinander Schriften, die für kontroverse Diskussionen in der kommunistischen Weltbewegung sorgten, nachhaltig den Blick auf marxistische Theorie veränderten, aber auch als Anknüpfungspunkte für die rebellischen Studierenden in der globalen Revolte um 1968 dienten. Mit »Geschichte und Klassenbewusstsein« legte der ungarische Philosoph Lukács eine Essaysammlung vor, die sich mit Problemen des revolutionären Bewusstseins beschäftigte, aber auch mit Organisationsfragen. Er versuchte zu verstehen, warum das Bewusstsein vieler Arbeiter*innen vor einer revolutionären Radikalität zurückschreckte. Der deutsche Kommunist Korsch veröffentlichte mit »Marxismus und Philosophie« einen theoretischen Versuch, in dem er die materialistische Geschichtsauffassung auf sich selbst anwendete, um die politische Zurückhaltung der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg zu verstehen.

1976 erschien wiederum von dem britischen Historiker Perry Anderson das schmale Buch »Über den westlichen Marxismus«. Der Autor beschrieb die beiden 1923 erschienenen Bücher von Lukács und Korsch als Beginn einer neuen Strömung des Marxismus. Diese zeichne sich durch ein Auseinanderfallen von marxistischer Theorie und kommunistischer Praxis aus. Linke Intellektuelle betrieben demnach vermehrt Philosophie im bürgerlichen Sinne und entfernten sich zusehends von Arbeiter*innenorganisationen. Andersons Framing der beiden als Kathedersozialisten sorgte in den roten 1970er Jahren oft genug für eine einseitige Rezeption. 

Radikalisierung in den Aufständen

Das Bild der beiden Theoretiker als einsame Philosophen ist allerdings etwas schief. Zwar wurde Lukács als Ästhetiker in der Philosophie bekannt und genoss seine akademische Ausbildung in Heidelberg. Doch die Umbrüche nach dem Krieg änderten alles. 1918 kehrt er nach Budapest zurück und wurde, wie es der Lukács-Experte Rüdiger Dannemann ausdrückte, »überraschend zum Marxisten«. Diese Turbo-Radikalisierung hinderte ihn aber nicht daran, schnell Bedeutung in der kommunistischen Bewegung in Ungarn zu erlangen. Nachdem sich die kurzzeitige bürgerliche Republik nach dem Fall der Habsburg-Monarchie in Österreich-Ungarn nicht halten konnte, errichteten die Kommunist*innen in Ungarn eine Räterepublik. Lukács wurde dort Volkskommissar für Bildung.

Korsch wurde vor dem Ersten Weltkrieg nach einem Aufenthalt in England Anhänger der Fabian Society. Dieser Kreis hatte ein sozialdemokratisches Reformprogramm. Der ausgebildete Jurist versuchte schon damals, eine Professur an einer Universität zu erlangen. Seine Einberufung zur Armee 1914 war für ihn erstmal ein Schock. Laut einer Ausstellung über sein Leben, die 2022 in Thüringen gezeigt wurde, schrieb er an einen Freund: »Du musst bedenken, dass für mich dieser Krieg der Zusammenbruch alles dessen war, wofür ich leben wollte.« Der Sohn aus kleinbürgerlichem Hause trug durch das Schlachtfeld ein Trauma davon.

Das Bild von Lukács und Korsch als einsame Philosophen ist allerdings etwas schief.

Bekanntlich wurde der Krieg in Deutschland durch einen revolutionären Aufstand beendet. Die beginnende Revolution bedeutete für Korsch auch eine Beschäftigung mit den Fragen des Umbaus zu einer neuen Gesellschaft. Er ging 1918 nach Berlin und arbeitete in der Sozialisierungskommission mit. Diese Kommission wurde von der provisorischen Revolutionsregierung eingesetzt, um die Überführung der Industrie in Gemeineigentum zu organisieren. 1919 schrieb er einen programmatischen Text: »Was ist Sozialisierung?« Die Broschüre zeugt von dem allgegenwärtigen Einfluss der Räterepublik, die kurzzeitig eine Chance hatte, in Deutschland eine neue Gesellschaft aufzubauen. Das Konzept Sozialisierung sollte die Interessen von Produzent*innen und Konsument*innen moderieren. Korsch entwickelte sich zu einem organisierten Kommunisten. Er trat der USPD bei und votierte 1920 für den Beitritt in die KPD.

Die Autoren von »Geschichte und Klassenbewusstsein« und »Marxismus und Philosophie« wollten mit ihren Büchern eine theoretische Begründung für den Erfolg der Oktoberrevolution liefern. Sie befassten sich zentral mit dem Wesen der Arbeiter*innenorganisationen, aber auch mit Fragen des proletarischen Bewusstseins. Fragen, die Lenin versuchte, mit seinem Avantgardekonzept zu lösen. In der Sowjetunion stießen die Texte zwar auf viel Beachtung in den Reihen der kommunistischen Kader, aber ihnen wurde vor allem Schmähkritik zuteil. Der philosophische Einschlag war den Praktiker*innen in Moskau dann doch zu bürgerlich.

Die Niederlage verstehen

Zwar war die erfolgreiche Oktoberrevolution ein Grund für die Entstehung der beiden Standardwerke marxistischer Theorie, aber das Erscheinungsjahr der beiden Studien zeigte sich auch als ein Wendepunkt in der europäischen Arbeiter*innenbewegung. Jene Zeit der militanten Aufstände, die nach dem Weltkrieg begann, fand 1923 ihr Ende. Fast alle Aufstände endeten in Niederlagen. Die Räterepublik in Berlin wurde durch den Sozialdemokraten Gustav Noske im Januar 1919 mithilfe des Militärs niedergeschlagen. Die Münchner Räterepublik erlebte im gleichen Jahr mit vielen Toten aufseiten der radikalen Arbeiter*innen ihr blutiges Ende. Kleinere Aufstände wie der Mitteldeutsche Aufstand 1921 wurden schnell vom Militär beendet. Auch die kurzlebige ungarische Räterepublik schlug das Königreich Rumänien militärisch nieder. Lukács musste ins Exil fliehen, er wählte das demokratisch regierte Österreich und ging nach Wien.

Beide Autoren erlebten die Aufstände als Sieg der Konterrevolution. Und zwar nicht nur als Werk der neuen autoritären Massenbewegungen, die sich in Deutschland anfangs nur in Freikorps oder antisemitischen Kleinparteien formierte. Die Konterrevolution, die vor allem Korsch erlebte, war auch eine Spaltung in der Arbeiter*innenbewegung selbst. Auf der einen Seite Arbeiter*innen, die mit dem Gewehr in der Hand die Hoffnung auf eine basisdemokratische Gesellschaft umsetzen wollten, auf der anderen Seite eine etablierte Sozialdemokratie, die mit den alten militärischen Eliten des Kaiserreichs jeden Aufstand blutig unterdrückte. Die Rückkehr zur Philosophie ist bei Lukács und Korsch in ihren Schriften auch ein Umgang mit der Konterrevolution.

Aber für beide Intellektuelle war das Scheitern der Revolution keine Frage der Stärke der Rechten dieser Zeit. Es ging um die Sollbruchstellen auf linker Seite. Wie konnte eine Arbeiter*innenbewegung so gespalten oder reformistisch sein, dass Teile sich auf die Seite des Gegners schlugen? Oder: Warum blieb die Revolution auf halben Weg stecken?

Auch nach den Aufständen hielt die Spaltung an. Korsch wurde 1923 kurzzeitig Justizminister in Thüringen, wo er schon vor dem Krieg gelebt hatte. Dort regierten SPD und KPD in einer Koalition, die jedoch nicht lange hielt. Der SPD-Reichspräsident Friedrich Ebert erließ einen sogenannten Reichszwang. Das erlaubte es ihm, die Landesregierung aus dem Amt zu entfernen. Ebert ließ Thüringen von der Reichswehr besetzen und Korsch musste untertauchen. Erklärtes Ziel dieser Maßnahme der Reichsregierung war das Ende der Koalition aus Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen. Einer ähnlichen Regierung in Sachsen wurde das gleiche Schicksal zuteil.

Während Lukács zwar Selbstkritik im Umfeld der Komintern für »Geschichte und Klassenbewusstsein« leisten musste, war es ihm weiterhin möglich, für die ungarische KP Politik zu machen. Korsch hingegen entwickelte sich in eine andere Richtung. Zunächst stieg er in der KPD auf. Er bekleidete bis 1925 den Posten des Chefredakteurs der KPD-Theoriezeitschrift Die Internationale und prägte damit maßgeblich die Debatten der Partei in der Mitte der 1920er Jahre. Ab 1924 saß er für eine Wahlperiode im Reichstag. Als Abgeordneter der KPD repräsentierte er schnell den ultralinken Flügel und ging damit auf Konfrontationskurs mit Moskau. 1926 wurde er aus der KPD-Fraktion ausgeschlossen.

Ende der 1920er Jahre musste Lukács aufgrund seiner kommunistischen Betätigung endgültig Wien verlassen. Seine Zeit im Moskauer Exil nutzte er, um eine kulturtheoretische Studie über die Wurzeln des Nationalsozialismus zu schreiben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er als Professor nach Budapest zurück. Er schlug sich während des Aufstandes 1956 gegen das stalinistische Regime auf die Seite der Reformer. Trotz eines Parteiausschlusses blieb er ein wichtiger Stichwortgeber der Neuen Linken und begründete in Ungarn eine eigene philosophische Schule.

Korsch hingegen erlitt das Schicksal der Exilant*innen. Mit der Machtübertragung an die Nazis musste er Deutschland in Richtung Schweden verlassen, wo ihn sein Freund Bertolt Brecht zunächst aufnahm. Von da aus ging er in die USA. Mit der KPD und der Komintern hatte Korsch aufgrund der fortgeschrittenen Stalinisierung bereits gebrochen. Er wendete sich im Exil vollständig einem Kreis von Rätekommunist*innen zu, die um den Theoretiker und Maschinenschlosser Paul Mattick weiterhin linksradikale Zeitschriften herausbrachten. Das linke deutsche akademische Milieu, etwa der Kreis um Max Horkheimer und das Frankfurter Institut, blieben auf Distanz zu ihm. Er starb fast vergessen 1961 in den USA.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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