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|ak 675 | Diskussion

Was würde es bedeuten, Umwelt- und Klassenpolitik zusammenzudenken?

Mit dem politischen Streik für Arbeitszeitverkürzung und Wirtschaftsdemokratie

Von Simon Schaupp

Fünf vor 12, aber mit einer radikalen Arbeitszeitverkürzung könnte ein Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden. Foto: DIE LINKE Nordrhein-Westfalen/Flickr, CC BY-SA 2.0

Entgegen dem Ressentiment von der öko-moralisch verkommenen Unterschicht haben Lohnabhängige seit Beginn des Kapitalismus bei ihren Kämpfen gegen Ausbeutung indirekt auch stets Umweltpolitik betrieben. Umweltschutz ist im existenziellen Interesse der Lohnabhängigen. 23 Prozent aller Todesfälle weltweit sind auf schädliche Umwelteinflüsse zurückzuführen. In den am stärksten betroffenen Ländern ist Umweltverschmutzung verantwortlich für jeden vierten Todesfall.

Im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung, Umweltrisiken beträfen »uns alle« gleichermaßen, sind diese Risiken sehr klassenspezifisch verteilt. Für wohlhabende Menschen besteht ein weit geringeres Risiko, an den Folgen der Umweltzerstörung zu sterben, da sie sich besseren Schutz leisten können und durch ihre erhöhte Mobilität Umweltrisiken leichter ausweichen können als die ärmeren Teile der Bevölkerung. Auch im verhältnismäßig wohlhabenden Großbritannien sterben Menschen, die in den ärmsten Gegenden leben, durchschnittlich sieben Jahre früher und müssen 17 Jahre länger mit Krankheiten und Behinderungen kämpfen als diejenigen in den reichsten Gegenden. Eine konsequente Umweltpolitik, die gegen diese Bedrohungen vorgeht, ist also im Interesse der Lohnabhängigen. Aber was würde es bedeuten, Umwelt- und Klassenpolitik zusammenzudenken?

Arbeitszeitverkürzung

Die Frage nach dem Ausmaß der Arbeitszeit ist seit der Entstehung der Lohnarbeit der zentrale Verhandlungspunkt zwischen Kapital und Arbeit. Sie lässt sich übersetzen in die Frage, ob Produktivitätsfortschritte in Zeitgewinne für die Beschäftigten oder in Extraprofite für die Unternehmen umgemünzt werden. Die Verringerung der Arbeitszeit (bei möglichst vollem Lohnausgleich) ist daher immer eine der wichtigsten Forderungen der Arbeiter*innenbewegung gewesen. Aktuelle Studien zeigen jedoch auch, dass Lohnarbeitszeit einer der wichtigsten volkswirtschaftlichen Einflussfaktoren auf die CO2-Emissionen ist. Bei einer Reduktion der Arbeitszeit um 25 Prozent wäre demnach mit einer Verkleinerung des CO2-Fußabdrucks um bis zu 36,6 Prozent zu rechnen.

Offensichtlich wäre aber der Umwelteffekt einer Arbeitszeitverkürzung in einer Kita nicht derselbe wie in einer Automobilfabrik. Es ist sogar fraglich, ob im ersteren Fall eine absolute Arbeitszeitreduktion überhaupt gesellschaftlich wünschenswert wäre. Aus ökologischer und sozialer Perspektive bräuchte neben dem Care-Sektor auch ein umweltfreundlicher Landwirtschaftssektor zunächst einen deutlich höheren Arbeitsinput. Dem Ziel einer radikalen Arbeitszeitverkürzung müsste also eine Debatte vorausgehen: darüber, welche Güter überhaupt in welcher Form produziert werden sollten, und darüber, wie eine sinnvolle Verteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit aussehen könnte – auch in Hinblick auf die Verteilung von Produktions- und Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern.

Die Debatte über die radikale Verkürzung und Umverteilung der Arbeitszeit hätte also das Potenzial, Forderungen von Umwelt-, Gewerkschafts- und feministischer Bewegung miteinander in Beziehung zu setzen. Genau solche Bündnisse sind angesichts der sich überlappenden sozial-ökologischen Krise von zentraler Bedeutung. Eine Verringerung der Lohnarbeitszeit ist deshalb ein sinnvolles kurzfristiges Ziel, um gleichermaßen gegen Überproduktion vorzugehen und für soziale Gerechtigkeit zu streiten.

Wirtschaftsdemokratie

Wir leben nur in einer halben Demokratie. Sie beruht auf der Trennung zwischen der Sphäre der demokratischen »Öffentlichkeit« und der Sphäre der Produktion, in der die Autokratie der Kapitaleigner*innen herrscht. Dass die Produktion aus der Demokratie ausgespart bleibt, wirkt einer sozial-ökologischen Transformation entgegen: Es wird nicht produziert, was gesellschaftlich und ökologisch notwendig wäre, sondern das, was sich am profitabelsten verkaufen lässt. Wirtschaftsdemokratie zielt demgegenüber darauf ab, allen Beteiligten gleiche Entscheidungsrechte sowohl bei der Produktion als auch der Nutzung von Gütern und Ressourcen einzuräumen.

Es gibt Beispiele für Beschäftigte, die die Konversion ihrer Betriebe selbst in die Hand nehmen. Etwa die Arbeiter*innen der letzten Schiffswerft in Belfast, die ihren von der Schließung bedrohten Betrieb besetzten, um eine Weiterführung des Unternehmens als Produzent für erneuerbare Energien zu erzwingen.

Eine Wirtschaftsdemokratie wäre dann gegeben, wenn alle Menschen gleichermaßen das Recht auf ein erfülltes und gesundes leben hätten.

Ein weiterer wichtiger Faktor einer Wirtschaftsdemokratie wäre eine demokratische Innovationspolitik. Im Gegensatz zum Mythos des erfinderischen Unternehmers werden die allermeisten technischen Innovationen von staatlichen Institutionen hervorgebracht. In Deutschland ist das mit den Fraunhofer-Instituten, die staatlich finanzierte Forschung für die Privatwirtschaft betreiben, in besonders großem Umfang der Fall. Es ist unstrittig, dass Technologie die Gesellschaft und damit auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse entscheidend prägt. Eine Demokratisierung der Innovationspolitik wäre die Voraussetzung dafür, dass Technologieentwicklung konsequent Mensch und Natur zugute kommt.

Eine Wirtschaftsdemokratie wäre dann gegeben, wenn alle Menschen gleichermaßen das Recht auf ein erfülltes und gesundes Leben hätten. Das bedeutet einerseits einen gleichberechtigten Zugang zu Gütern, aber auch das Recht auf eine bewohnbare Erde als Voraussetzung für ein gutes Leben. Eine demokratische Ökonomie könnte in diesem Sinne die Produktion konsequent an menschliche Bedürfnisse und ökologische Grenzen koppeln. (Siehe die ak-Reihe zur Planwirtschaft.)

Diese ohnehin weitreichenden Forderungen stehen dadurch noch vor der zusätzlichen Herausforderung, dass sie nicht auf den Nationalstaat beschränkt bleiben können, da ökologische Systeme global sind. Wie aber können derart weitreichende Forderungen durchgesetzt werden?

Streik

Weltweit kämpft mit Fridays for Future und anderen Bewegungen vor allem die junge Generation um den Erhalt eines lebensfähigen Planeten. Ist dies für unsere Tage »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«, wie Marx und Engels einst den Kommunismus nannten? Für Marx’ und Engels’ Fokus auf die Arbeiter*innen als Träger*innen dieser »wirklichen Bewegung« war neben deren unmittelbarer Verelendung im Kapitalismus noch ein zweiter Grund ausschlaggebend: Durch ihre ökonomische Stellung seien sie nicht nur Leidtragende des Kapitalismus, sondern verfügten auch über die Macht, ihn zu überwinden.

Das liegt vor allem daran, dass Unternehmen, egal, wie groß sie sind, von Arbeiter*innen abhängig sind. Insbesondere die Zurückhaltung der Arbeitskraft in Form von Streiks hat sich historisch als eine der wichtigsten Quellen der Machtausübung von unten und damit als ein maßgeblicher Faktor der meisten Demokratisierungsschübe erwiesen.

Der Klimabewegung hingegen fehlt es bislang an Machthebeln zur Durchsetzung ihrer Ziele. Das hat sie mit den älteren Generationen der Umweltbewegung gemeinsam, die seit vielen Jahrzehnten versucht, Staat und Unternehmen zu mehr Nachhaltigkeit zu bewegen. Beide setzten vor allem auf Demonstrationen und Aktionen zivilen Ungehorsams. Doch die Gegenseite verfügt über enorme Macht: Unter den zehn umsatzstärksten Unternehmen der Welt sind sieben fossilistische Energiekonzerne und zwei Automobilhersteller. Angesichts dessen erscheint es unwahrscheinlich, dass durch symbolische Aktionen eine sozial-ökologische Transformation herbeigeführt werden kann.

Fridays for Future ist es zu verdanken, dass Streiks wieder als Mittel einer Umweltpolitik von unten diskutiert werden. Allerdings bleibt dieses Mittel noch weitgehend auf Schüler*innen und Studierende beschränkt. Um ökonomischen Druck aufzubauen, wäre eine Ausweitung dieser Streiks auf einen Großteil der Beschäftigten notwendig: ein Massenstreik. In vielen Ländern kommt es seit einiger Zeit wieder verstärkt zu solchen Massenstreiks, die sich fast immer gegen neoliberale Politiken wenden. Neben der Durchsetzungskraft hätte ein konsequenter Klimastreik den Vorteil, dass eine massenhafte Arbeitsniederlegung bereits selbst einen Beitrag zum Klimaschutz darstellt. Er ist nicht nur Mittel, sondern Manifestation.

Momentan ist es sehr zweifelhaft, ob eine solche Strategie sich in Deutschland auf die DGB-Gewerkschaften stützen könnte. Auch wenn es einzelne positive Gegenbeispiel gibt, spielen Gewerkschaften beim Thema Umweltpolitik regelmäßig eine höchst ambivalente Rolle, weil ihnen die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder oft wichtiger sind als Umweltschutzmaßnahmen, die diese Arbeitsplätze womöglich gefährden. Das zeigte sich zuletzt im vehementen Widerstand der IG BCE gegen den Kohleausstieg und der IG Metall gegen eine Kopplung von Subventionen für die Automobilindustrie an Umweltstandards. Dies kann jedoch nicht auf die per se unökologischen Interessen »der Arbeiter« zurückgeführt werden, sondern ist einer spezifischen Konstellation von Gewerkschaftspolitik geschuldet.

Anders als zivilgesellschaftliche Symbol- und staatliche Fiskalpolitik hat der politische Streik das Potenzial, eine Macht von unten aufzubauen, die imstande ist, ökonomische Sachzwänge zu durchbrechen. In Deutschland sind politische Streiks verboten. So ein Verbot kann aber durch eine breite Basisbewegung in der Praxis aus den Angeln gehoben werden. Das erfordert wiederum den Aufbau von Netzwerken und Beziehungen inner- und außerhalb von Betrieben im Sinne eines umfassenden Organizing. Eine ökologische Katastrophe kann jedenfalls nur dann verhindert werden, wenn es gelingt, soziale und ökologische Forderungen konsequent zusammenzudenken. Bislang hat ein Ausspielen der beiden Kategorien gegeneinander verhindert, dass die Umweltbewegung eine wirkliche Massenbasis erreichen konnte.

Simon Schaupp

ist Soziologe und forscht zur Digitalisierung der Arbeit. Jüngst ist von ihm bei Matthes & Seitz das Buch »Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung« erschienen.

Eine Langversion dieses Textes erschien im Dezember 2020 in der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online.