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Durch den Streik die Welt verstehen

Verónica Gago über die neue Welle antipatriarchaler Kämpfe und ihr Buch »Für eine feministische Internationale«

Interview: Caroline Kim

In Argentinien, wo der feministische Streik entstanden ist, erkämpfte die Bewegung letzten Dezember die Legalisierung von Abtreibungen. Kundgebung zum Tag der Parlamentsentscheidung in Buenos Aires am 29. Dezember 2020. Foto: TitiNicola / Wikipedia, CC BY-SA 2.0

Feministische Proteste gegen Femizide sind vor allem in Lateinamerika zu Massenbewegungen geworden, die die patriarchalen kapitalistischen Gesellschaften in ihren Grundfesten herausfordern, Proteste weltweit inspirieren und den feministischen Streik als Kampfform popularisiert haben. Mit der argentinischen Aktivistin und Theoretikerin Verónica Gago haben wir darüber gesprochen, wie die Bewegung die Legalisierung von Abtreibungen erkämpft hat, wie der feministische Streik uns zu einem besseren Verständnis der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit verhilft – und in welcher Verbindung er zum Klimastreik und anderen sozialen Kämpfen steht.

Der feministische Streik dient dir in deinem neuen Buch als »Linse«, um aktuelle Konflikte und Themen der feministischen Bewegung, aber auch der gesamten Gesellschaft zu analysieren. Was bringt der feministische Streik als Analyseinstrument?

Verónica Gago: Für mich gibt es drei Momente in der Analyse des Streiks. Erstens: Wie entsteht die Idee des Streiks als Reaktion auf einen brutalen Femizid? Dann, was lernen wir, wenn wir einen feministischen Streik organisieren? Und: Was ergibt sich daraus für den politischen Prozess? Die Idee zum ersten Frauenstreik im Oktober 2016 war als Aktion keine Selbstverständlichkeit. Sie entstand in einer riesigen Asamblea, einer Versammlung, um der Empörung gegen den Femizid an Lucía Pérez Ausdruck zu verleihen. Das ist das, was ich in meinem Buch »Realismus der Versammlung« nenne, denn es ist dieser kollektive Raum, der eine Vorstellung dessen eröffnet, was möglich ist, und die Kraft organisiert, das konkret zu machen. Die Versammlungen zur Vorbereitung der Streiks haben eine zentrale Bedeutung,. Dort werden die Inhalte, Formen und Schwierigkeiten des feministischen Streiks diskutiert. Aus den ganzen organisatorischen Aufgaben lernen wir unglaublich viel.

Foto: Constanza Niscovolos

Verónica Gago

ist Theoretikerin und Aktivistin der feministischen Bewegung Argentiniens, Teil des Ni Una Menos Kollektivs, der Bewegung gegen Femizide, und aktiv im feministischen Streik. Am 8. März erschien ihr Buch »Für eine feministische Internationale«, in dem sie ein Konzept feministischer Handlungsmacht entwirft, in deutscher Übersetzung.

Was zum Beispiel?

Dadurch, dass er feministisch ist, wird der Streik zu einer praktischen Forschungsfrage. Feministisch heißt hier, dass sich der Streik außerhalb seines bekannten Terrains als politisches Instrument ausbreitet – also jenseits von Arbeitern, zumeist männlichen, gewerkschaftlich organisierten Arbeitern in formalisierten Arbeitsverhältnissen. Wir müssen neu erfinden, was streiken bedeutet. So kommen eine Menge Fragen auf: Was bedeutet streiken, wenn du keine Arbeit hast? Was müssen wir unterbrechen, wenn wir von Hausarbeit sprechen, bei der es scheinbar keine Pausen gibt? Was bedeutet der feministische Streik für die Gewerkschaften? Was machen wir mit der gewonnenen Zeit, die wir uns erkämpfen? In diesem Sinne bezeichne ich den Streik sowohl als analytische als auch praktisch-organisatorische Linse, um jene Teile der Arbeitswelt zu erfassen, die historisch nicht als solche anerkannt werden, die aber heute, angesichts der Prekarisierung, mehr Menschen als je zuvor umfassen.

Mit dem feministischen Streik denken wir, ausgehend von den reproduktiven Tätigkeiten, das neu, was wir unter Arbeit verstehen. Aber wir denken auch Lohnarbeit neu. Wie und mit welchen Folgen?

Ja, der feministische Streik beleuchtet nicht nur die unbezahlte Reproduktionsarbeit, sondern er fragt auch: Wie beeinflusst Reproduktionsarbeit Menschen in angestellten Beschäftigungsverhältnissen? Welche Formen der hyperprekarisierten Lohnarbeit sind eigentlich erweiterte Formen der Reproduktionsarbeit? Was bedeutet es, dass sich Menschen trotz Lohnarbeit verschulden müssen? In diesem Sinne rekonzeptualisiert die feministische Bewegung durch den Streik das, was wir unter Arbeit und Streik verstehen: Sie rückt die vielfältigen nicht anerkannten Aufgaben, die Wert produzieren, in den Fokus, und sie weist die Hierarchisierung und Trennung zurück, die der Lohn zwischen Arbeiter*innen und Arbeitslosen, Entlohnten und Nicht-Entlohnten aufmacht. Einerseits lehnt sie ab, dass diejenigen, die keinen Lohn erhalten, ins politische und soziale Abseits verbannt werden. Andererseits problematisiert sie die gängige Vorstellung, dass diejenigen, die Lohn erhalten, eine Art »Arbeiteraristokratie« sind, die ihre »Privilegien« gegen andere arbeitende Subjekte verteidigen müssen. Ich argumentiere stattdessen, dass die Stärke der aktuellen feministischen Diagnose der Arbeit darin besteht, dass sie andere Bilder von dem, was wir Arbeit nennen, entwickelt und andere Wege findet, wie wir sie anerkennen und vergüten.

Der Feminismus kämpft für die Anerkennung der unsichtbaren und abgewerteten Formen der Arbeit. Erst wenn sie sichtbar werden, wird es möglich, Forderungen nach Lohn und Rechten zu stellen.

Wie könnten solche Alternativen aussehen?

Mit einem sozialen oder feministischen Lohn oder einem Grundeinkommen zum Beispiel. Der Feminismus kämpft für die Anerkennung der unsichtbaren und abgewerteten Formen der Arbeit, indem er sie sichtbar macht, sie wertschätzt und ihren politischen Charakter herausstellt: Die nicht entlohnten und prekarisierten Tätigkeiten wie Hausarbeit, gemeinschaftliche Arbeit in der Nachbarschaft etc. sind Arbeiten, die die Reproduktion der Gesellschaft garantieren, gerade im Neoliberalismus, der alles in die Krise stürzt. Erst wenn diese Arbeiten sichtbar werden, wird es möglich, konkrete Forderungen nach Anerkennung durch Lohn oder Rechte zu stellen.

Nach dem feministischen Streik sind Ideen zu einem Klimastreik, Mietenstreik oder Schuldenstreik entstanden. Heißt, die Grenzen des Streiks zu verschieben, auch, ihn außerhalb der Arbeit neu zu erfinden?

Es ist interessant, dass der Feminismus uns in die Lage versetzt, den Streik auch hinsichtlich anderer Konflikte zu denken. Er ist ein Nein zu den verschiedenen Formen der kapitalistischen Extraktion, in denen Körpern und Territorien immer ausbeuterischere Bedingungen aufgezwungen werden. Im Fall von Mieten und Schulden ist der Streik ein Versuch, sich eine Aktion gegen den finanziellen Extraktivismus (1) vorzustellen, den ich als eine grundlegende räuberische Dynamik des neoliberalen Kapitalismus verstehe. Vielleicht haben Mieten, Schulden und der Klimawandel auf den ersten Blick nicht direkt mit Arbeit zu tun. Aber die feministische Analyse zeichnet nach, warum der Preis der Miete oder der Zwang, Schulden aufzunehmen, um den Alltag zu bewältigen, und auch die ökologischen Bedingungen Teil der Reproduktionsbedingungen sind, die direkt mit der Organisation der Ausbeutungsbedingungen der Arbeitskraft zusammenhängen. Mit anderen Worten: Wenn wir verschuldet sind oder hohe Mieten zahlen, müssen wir immer prekärere Arbeitsbedingungen akzeptieren.

Die feministische Ökonomie führt eine echte Perspektive »von unten« in die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise ein.

Du betonst, dass Reproduktion die grundlegende Bedingung der Produktion ist. Der Feminismus versucht, die Hierarchien und Trennungen innerhalb der Arbeit und zwischen der Arbeit und anderen Sphären infrage zu stellen.

Es handelt sich um eine künstliche und hierarchische Trennung, zwischen bezahlter und unbezahlter, zwischen gesellschaftlich anerkannter und abgewerteter Arbeit. Und natürlich impliziert es eine politisch-geschlechtliche Ordnung, wer die jeweiligen Orte besetzt. Wenn Marx neoklassische Theorien diskutiert, um die Sphäre der Zirkulation zu defetischisieren, graben marxistische Feministinnen noch tiefer und defetischisieren die Sphäre der Produktion, indem sie all das offenlegen, was die Produktion überhaupt erst ermöglicht – auch, wie Silvia Federici betont, den dort, in der Reproduktionssphäre, produzierten und gestohlenen Wert. Die feministische Ökonomie führt also eine echte Perspektive »von unten« in die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise ein. Diese Ebene der Kritik ist grundlegend, um über eine gesellschaftliche Neuorganisation der Arbeit nachzudenken. Wie kann das Verhältnis von Produktion und Reproduktion nicht-ausbeuterisch organisiert werden? Indem die Aufgaben so vergütet werden, dass sie nicht mehr als frei verfügbare natürliche Ressource erscheinen, und indem die Infrastruktur bereitgestellt wird, damit sie nicht mehr durch unbezahlte reproduktive Arbeit bewältigt werden müssen. Aktuelle Feminismen setzen daher die Wiederaneignung der gesellschaftlichen Reproduktionsmittel auf die Tagesordnung. Die Forderung hat sich als eines der gemeinsamen Elemente auf globaler Ebene herauskristallisiert.

Das klingt ziemlich utopisch, gerade in der Corona-Pandemie, wo Sorgetätigkeiten mehr ins Zentrum rücken und der Druck auf Frauen, unbezahlte Arbeiten zu erledigen, wieder wächst.

Ja, die Pandemie hat diese Konflikte verschärft. Aber durch die feministische Politisierung der Reproduktionssphäre wurde es möglich zu verstehen, dass diese Sphäre die Kriegsbeute der neoliberalen Gewalt ist: Wem gehören die öffentlichen Dienstleistungen? Wer besitzt die Produktionsmittel für Lebensmittel und Medikamente? Wem gehören die Häuser? Wie wird der Zugang zu Bildung bedroht? Wem gehören die Vermögen, welche Schulden werden gemacht, und welche Steuern werden erhoben, um die Kosten der Krise zu finanzieren? Die Forderung nach der Anerkennung von Care-Arbeit durch Lohn und Rechte ist ein wichtiger Aspekt. Daraus ergeben sich die Forderungen nach öffentlichen Dienstleistungen und Entschuldung, nach Wohnraum und Lebensmitteln. Das alles sind Fragen der Wiederaneignung des kollektiven Reichtums, die die Beziehungen zwischen Reproduktion und Produktion in einem nicht-extraktiven Sinn neu definieren.

Sieg nach vielen Jahren des Kampfes: Kundgebung in Buenos Aires nach der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Foto: TitiNicola / Wikipedia, CC BY-SA 2.0

Du machst das Transnationale des Streiks als etwas Neues der aktuellen Bewegung aus. In Deutschland ist es uns nicht gelungen, eine massive Streikbewegung aufzubauen. Ist das Instrument des Streiks nicht so ohne weiteres übertragbar? Was zeichnet den neuen Internationalismus dieser feministischen Bewegung aus?

Ich glaube, dass wir es wirklich mit einer transnationalen Dynamik zu tun haben, die eine Bewegung aus ganz verschiedenen Kämpfen hervorbringt, die sich immer weiter ausbreitet und eine gemeinsame Interpretation der Lage der Welt möglich macht. Es ist ein Internationalismus, der aus den Süden dieser Welt kommt, vor allem aus Lateinamerika, umbenannt in Abya Yala, und der von grenzüberschreitenden Kreisläufen der Arbeitsmigrantinnen geprägt ist. Es ist mir wichtig zu betonen, dass dieser transnationale Charakter auch eine antifaschistische Kraft ist. Wenn der Neoliberalismus sich jetzt mit konservativen und neofaschistischen Kräften verbünden muss – von White Supremacy bis zu religiösen Fundamentalismen –, dann deshalb, weil die Destabilisierung patriarchaler und rassistischer Autoritäten die Kapitalakkumulation selbst gefährdet. Hier zeigen die Feminismen ihre Fähigkeit, Widerstand und Konfliktfähigkeit wiederzubeleben, weil sie die Struktur der Unterordnung und Ausbeutung angreifen. Genau dort, wo sich der Neoliberalismus mit reaktionären Kräften verbindet: in der Ordnung der Familie, der Sexualität, der unbezahlten Arbeit, der einwanderungsfeindlichen Gesetzgebung.

In den letzten Jahren hat sich die politische Landschaft in Argentinien ziemlich verändert. Im Dezember hat die feministische Bewegung dann den Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen gewonnen.

Argentinien ist das vierte Land in der Region, das Abtreibung legalisiert – und das größte. Der Sieg im Dezember war extrem wichtig, weil in ihm so viele Jahre des Kampfes zusammenkommen, und weil er zweifellos als politische Errungenschaft der Bewegung erlebt wird. Die Mobilisierung, die Debatte, der Aufbau feministischer Macht von unten haben Wirkung gezeigt. Der als grüne Flut bekannt gewordene Protest für die Legalisierung hat auch Debatten über integrale Sexualerziehung in den Lehrplänen der Schulen Auftrieb gegeben.

Für mich ist es wichtig, selbst Teil der Bewegung zu sein. Aus dieser parteiischen Position heraus entsteht eine Art des Wissens und Handelns, die mich sehr interessiert.

Wie hat die neue feministische Welle euer Leben verändert?

Die letzten Jahre haben verändert, wie wir unsere Beziehungen leben, wie wir unseren Alltag organisieren, wie wir Politik machen und wie wir unsere Arbeit verstehen. Sie haben uns so sehr verändert, dass wir uns ständig neu erfinden und uns mit Sarah Ahmed fragen, was es bedeutet, ein feministisches Leben zu führen. Ich glaube, das ist eine generationenübergreifende Erfahrung. Für mich ist es wichtig, selbst Teil dieser Bewegung zu sein. Von innen – aus dieser parteiischen Position heraus – entsteht eine Art des Wissens und Handelns, die mich sehr interessiert. Mein Buch ist dort verortet. Politische Arbeit zu machen, bedeutet, Zeit für Aktivismus zu produzieren und freizumachen, wenn doch alles darauf ausgelegt ist, dass wir keine Zeit haben.

Was bedeutet der Erfolg für die Bewegung?

Der Staat ist verpflichtet, den Eingriff kostenfrei zu gewährleisten, was auch einen Streit um Ressourcen impliziert. Aber, wie ich im Buch anmerke, ging die Debatte über die Forderung nach legaler Abtreibung hinaus, es ging um den Wunsch nach Autonomie. Junge Menschen wurden dadurch politisiert und gingen in die Konfrontation mit religiösen und konservativen Gruppen, die gewaltsame Kampagnen gegen sie gestartet haben. In diesem Sinne sehe ich die Legalisierung auch als antifaschistische Errungenschaft.

Caroline Kim

ist Redakteurin der Lateinamerika Nachrichten.

Verónica Gago: Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern. Unrast Verlag, Münster 2021. 288 Seiten, 18 EUR.

Das Buch kann bei Abschluss eines ak-Jahresabos als Prämie gewählt werden.

Anmerkung:

1) Extraktivismus bezeichnet ein Wirtschaftsmodell, dass auf der Ausbeutung natürlicher Rohstoffe beruht. Vor allem in der lateinamerikanischen feministischen Diskussion wird der Begriff auch benutzt, um die verstärkte Ausbeutung und Enteignung gesellschaftlicher, kooperativer Aktivitäten, von Körpern oder – als finanzieller Extraktivismus bei Verónica Gago – Mechanismen der finanziellen Ausplünderung im Zuge des Schuldendienstes zu analysieren.