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Niederlage für das Parteiensystem

Die Wahl zum Verfassungskonvent in Chile richtete sich auch gegen die Politikelite – nun kommt es darauf an, die Spielregeln dauerhaft zu ändern

Von Alix Arnold

Die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung in Chile, hier ein Bild aus dem Nomber 2019, flammten über Monate hinweg immer wieder auf, und weiteten sich schließlich zu einer Bewegung für eine neue Verfassung aus. Foto: John Englart, CC BY-SA 2.0

Am 15. und 16. Mai fand in Chile die Wahl der 155 Mitglieder des Konvents statt, der eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Das Ergebnis ist eine Niederlage der Rechten, die sich hinter Präsident Piñera zur Einheitsliste Vamos por Chile zusammengeschlossen hatten. Sie erhielt nur 37 Sitze. Das Bündnis Concertación aus Sozial- und Christdemokratie, das 1990 bis 2010 regiert hatte, musste sich mit 25 Sitzen begnügen. Die Linke war mit einer Vielzahl von Listen angetreten. Sie schnitt trotz Zersplitterung und nur 43 Prozent Wahlbeteiligung unerwartet gut ab. Allein die Lista del Pueblo, die »Volksliste« der Unabhängigen aus den Bewegungen, wird mit 24 Sitzen im Konvent vertreten sein. Insgesamt sind Unabhängige die Gewinner*innen dieser Wahl. Mehr als die Hälfte der Mitglieder des Konvents gehören keiner Partei an. Die Delegitimierung des Parteiensystems, die seit dem Beginn der Revolte im Oktober 2019 immer deutlicher wurde, hat sich nun auch an den Urnen gezeigt.

Die noch geltende Verfassung stammt aus der Diktatur Pinochets. Sie schrieb für Chile eine neoliberale Ordnung fest. In der Revolte entstand schnell die Forderung, dass diese Verfassung geändert werden müsse. Am 15. November 2019, vier Wochen nach dem Beginn des Aufstands und drei Tage nach einem Generalstreik, setzte sich die Regierung mit den Oppositionsparteien zusammen und besiegelte einen »Friedenspakt«, in dessen Rahmen sie ein Referendum über eine Verfassungsänderung ankündigte. Auch Teile des 2017 gegründeten linken Bündnisses Frente Amplio unterschrieben diesen offensichtlichen Versuch, die Revolte auszubremsen und in institutionalisierte Bahnen zu lenken. Auf der Straße wurde das Manöver heftig kritisiert. Da die Spielregeln von der herrschenden Politik diktiert wurden, würden die geforderten radikalen Veränderungen auf diesem Weg kaum zustande kommen. So sollten nach Vorstellung der Regierung internationale Verträge nicht angetastet werden. Die Änderung der Verfassungsartikel erfordert außerdem jeweils eine Zweidrittel-Mehrheit. Schon mit einem Drittel der Sitze hätte die Rechte demnach eine Vetomacht gehabt. (Diese Sperrminorität hat sie im nun gewählten Verfassungskonvent allerdings verfehlt.)

Die Delegitimierung des Parteiensystems, die seit dem Beginn der Revolte im Oktober 2019 immer deutlicher wurde, hat sich nun auch an den Urnen gezeigt.

In Nachbarschaftsversammlungen, die im Zuge der Revolte überall entstanden, gab es deshalb vereinzelt Aufrufe, das Referendum zu boykottieren. Dennoch mobilisierten viele in ihren Stadtteilen dafür, nachdem die Bewegung auf der Straße im März 2020 von der Pandemie ausgebremst worden war. Ohne eine konkrete Aussicht auf die geforderte Verfassungsänderung wäre sie schwer wieder in Gang zu bringen gewesen.

Die Pandemie hat in Chile zu einer sozialen Katastrophe geführt. Informelle Arbeiter*innen mussten unter hohem Gesundheitsrisiko weiter arbeiten, viele verloren ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen. In den ärmeren Stadtteilen organisierten die Versammlungen mit Suppenküchen praktische Solidarität. Damit schufen sie gleichzeitig Orte für Begegnung und Organisierung. Nicht zufällig wurden manche von ihnen mit dem Argument nicht eingehaltener Hygienemaßnahmen von der Polizei angegriffen: Die neue Solidarität in den Nachbarschaften und das Interesse sich politisch einzumischen sind das vielleicht wichtigste Resultat der Revolte und die größte Bedrohung für das etablierte Parteiensystem. Jenseits von Parteien und Staat haben sich mit den Territorial-Versammlungen neue Formen der Basisorganisierung entwickelt – die teilweise an die alten Beispiele aus der Zeit Allendes anknüpfen.

Die linken Listen kommen zusammen auf 63 Sitze, weitere 17 sind Indigenen vorbehalten. Die Rechten sind im Konvent in der Minderheit. Aber sie haben immer noch die Staatsgewalt, und es ist nicht absehbar, wie viele aus dem Lager der Concertación sich mit ihnen zusammentun. Außerdem ist eine Verfassung allein bekanntlich keine Garantie für Veränderungen. Dafür ist weiterhin die Bewegung auf der Straße und in den Betrieben ausschlaggebend. Von zentraler Bedeutung ist, dass die vielen Feminist*innen, jungen Aktivist*innen, Umweltschützer*innen und Indigenen, die jetzt politische Funktionen übernehmen, sich nicht vereinnahmen lassen. Erklärungen zukünftiger Mitglieder des Konvents, dass sie nicht verhandeln werden, solange es noch politische Gefangene aus der Revolte gibt, und dass sie sich den Regeln des »Friedenspaktes« nicht unterwerfen werden, sind da schon mal ein guter Anfang. Der Konvent hat ein Jahr Zeit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, über deren Annahme dann wiederum ein Referendum entscheidet. Dieses Jahr wird spannend.

Alix Arnold

lebt in Köln und lernt gerade viel von jungen Klimaaktivist*innen.