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»Auf Arbeit nennen sie mich Genosse«

Wie in der Türkei eine kleine linke Partei Kurierfahrer*innen organisiert

Von Svenja Huck

Kundgebung der Gewerkschaft TÜMTIS vor der Geschäftszentrale von Yemeksepeti. Foto: YemekSepeti Arbeiter*innen Komitee

Seit Beginn des Jahres sind in der Türkei zahlreiche wilde Streiks ausgebrochen. Gefordert wird meist eine Lohnerhöhung über den Mindestlohn hinaus. Dieser wurde zwar zu Beginn des Jahres um 50 Prozent auf 4250 Lira (272 Euro) angehoben, reicht jedoch angesichts der massiven Inflation und Preissteigerungen kaum zum Leben. Seit Beginn der Pandemie stieg der Leistungsdruck besonders für die Beschäftigten im Logistik- und Liefersektor, denn die tagelangen Ausgangssperren gewöhnten die Menschen an Bestellungen per App.

Die Firmen hinter dem Geschäftsmodell gehörten zu den eindeutigen Profiteuren der Pandemie. Marktführer in der Türkei ist YemekSepeti (Lebensmittelkorb): rund 20 Millionen Kund*innen, 600.000 Bestellungen pro Tag, geliefert von Motorradkurier*innen im ganzen Land. 2015 kaufte die in Berlin ansässige Firma Delivery Hero die türkische Firma auf. Während der Chef von Delivery Hero, Niklas Östberg, einen Jahresverdienst von 45,7 Millionen Euro einstreicht, positioniert er sich öffentlich gegen Tarifverträge für die Arbeiter*innen. Genau für diese kämpfen seit zwei Jahren die Beschäftigten von YemekSepeti unter der Führung einer kleinen trotzkistischen Partei, die dabei ist, ein Exempel für erfolgreiche Betriebsarbeit zu statuieren.

Im Gebäude der Transportgewerkschaft TÜMTİS am Istanbuler Taksim-Platz sitzen Kaan Gündeş und İlyas Şentürk, beide Mitglieder der İşçi Demokrasisi Partisi İDP (Partei für Arbeiterdemokratie). Die İDP hat rund 100 Unterstützer*innen in der Türkei und ist Teil einer hauptsächlich in Südamerika vertretenen trotzkistischen Strömung, des Morenismus. Nachdem Şentürk pandemiebedingt vor zwei Jahren seinen Job in einer Bar verlor, fing er bei YemekSepeti an. »Schnell wurde uns klar, dass hier Potenzial für gewerkschaftliche Organisierung besteht. Am Prinzip der Arbeiterdemokratie orientiert, haben wir das YemekSepeti-Arbeiterkomitee gegründet.« Ziel sei es gewesen, aus mindestens der Hälfte aller 187 Depots Vertreter*innen für das Komitee zu gewinnen.

Noch vor den niedrigen Löhnen ist bei YemekSepeti die Sicherheit der Kurier*innen ein großes Problem. Allein in den vergangenen zwei Jahren sind rund 200 Fahrer*innen bei der Arbeit gestorben, denn der starke Zeitdruck in Kombination mit dem dichten Straßenverkehr ist tödlich. Gündeş, der seit zwei Monaten selbst bei TÜMTİS arbeitet, übernahm die koordinierende Funktion im Arbeiterkomitee. »Zu Beginn musste alles heimlich ablaufen, um die Kolleg*innen nicht in Gefahr zu bringen. Der Chef durfte nichts von der Organisierung mitbekommen.« In der Türkei ist gewerkschaftliche Organisierung nicht nur schwer durchzusetzen; auch das Bewusstsein für deren Notwendigkeit ist in der überwiegend konservativen Arbeiter*innenklasse eher schwach ausgesprägt. Der Organisierungsgrad liegt bei nur 14 Prozent, der Großteil davon wiederum sind gelbe, also den Unternehmensspitzen gegenüber freundlich eingestellte Gewerkschaften.

Vertrauen aufbauen

»Man organisiert sich hier nirgendwo einfach so über Nacht«, sagt Gündeş. »Hinter allen organisierten Belegschaften in größeren Betrieben stecken sechs bis sieben Jahre Arbeit.« Gängige Vorurteile gegenüber Gewerkschaften, beispielsweise, dass man »Terrorismus« unterstütze oder für die kurdische Bewegung agitiere, seien dabei ein Problem. »Aber eigentlich ist das leicht zu überwinden, denn die Kolleg*innen suchen nicht die nationalistischste Gewerkschaft, sondern die kämpferischste, die am besten für ihre Rechte eintritt«, so Gündeş. In erster Linie ginge es darum, das Vertrauen zu den Kolleg*innen aufzubauen. »In der Filiale, in der ich arbeite, nennen mich alle Kolleg*innen yoldaş – Genosse«, erzählt Şentürk. »Wenn man mit den anderen Arbeiter*innen über konkrete Probleme in Kontakt kommt, setzen sie sich für dich ein, als wärst du Teil ihrer Familie.«

»Man organisiert sich hier nirgendwo einfach so über Nacht.«

Er wolle die Kolleg*innen nicht belehren, sondern Seite an Seite mit ihnen kämpfen, erklärt Gündeş. Viele Linke würden versuchen, Beschäftigten ihre eigenen Bedürfnisse aufzudrücken, so könnten sie jedoch keine Verbindung mit ihnen herstellen. Das bedeute jedoch wiederum nicht, sich politisch anzupassen. »Wir beobachten oft eine Entwicklung nach rechts unter den Aktivist*innen, wenn sie mit Arbeiter*innen zu tun haben. Sie geben sich den Vorurteilen der Arbeiter*innen, die in der Türkei nun einmal größtenteils konservativ denken, hin, statt für politische Bildung zu sorgen.»

Um in der Türkei einen Betrieb gewerkschaftlich organisieren zu dürfen, muss die Gewerkschaft das offizielle Recht dafür vom Arbeitsministerium erhalten. Dafür müssen mehr als 50 Prozent der Belegschaft Gewerkschaftsmitglieder sein. Wenn ein Betrieb mehrere Filialen hat, sind es 40 Prozent, wie bei YemekSepeti. Außerdem muss die Gewerkschaft mindestens ein Prozent aller Arbeiter*innen aus dem Sektor organisieren. Gängige Praxis der Bekämpfung von Gewerkschaften ist es deshalb, den offiziellen Sektor zu ändern, um in jahrelangen Gerichtsverfahren Zeit zu gewinnen.

»Als durchsickerte, dass die Arbeiter*innen von YemekSepeti sich organisieren, ließ der CEO der Firma, Nevzat Aydin, den Sektor ändern, sodass die Kolleg*innen plötzlich als Büroarbeiter*innen aufgeführt wurden«, erklärt Gündeş. Dies sei nur aufgefallen, weil die Arbeiter*innen plötzlich keine Impfmöglichkeit mehr bekommen hatten. Zu Beginn der türkischen Impfkampagne erhielten Werktätige aus bestimmten Bereichen wie dem Gesundheitssektor und auch dem Liefersektor bevorzugt das Recht auf Immunisierung, Büroangestellte jedoch nicht. In der Eile, die gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern, hatte die Geschäftsleitung jedoch drei Depots vergessen – sie wurden nach wie vor im Liefersektor geführt. »Wir sind sofort ins Auto gestiegen und zu einem der Depots gefahren, um die Belegschaft dort zu organisieren«, berichtet Gündeş. Und so habe man die Berechtigung zur Organisierung des gesamten Betriebs von Seiten des Ministeriums bekommen, »weil die drei Lager vergessen wurden.«

Keine Sektiererei

Die Regelung, dass nur diejenige Gewerkschaft Tarifverträge abschließen darf, die im Sektor und in der Belegschaft die erwähnten Hürden überwindet, führt dazu, dass die gewerkschaftliche Organisierung bei Gewerkschaften des Verbandes Türk-İş oft erfolgversprechender ist. Türk-İş als größter Dachverband ist bekannt für seine regierungsnahe Haltung und hat auch offen rechte Mitgliedsgewerkschaften. Für die İDP, die Partei für Arbeiterdemokratie, ist dies jedoch kein Grund, nicht mit ihnen zu arbeiten.

»Viele Linke in der Türkei verurteilen die großen Gewerkschaftsverbände Türk-İş und Hak-İş generell als gelbe Gewerkschaften und finden es falsch, dort aktiv zu sein«, sagt Gündeş. Doch in diesen Verbänden seien zwei Millionen Arbeiter*innen organisiert, also 90 Prozent der landesweit organisierten Kolleg*innen. »Dort nicht zu intervenieren, weil man die Führung kritisiert, bedeutet auch, diese zwei Millionen Arbeiter*innen den gelben Gewerkschaften auszuliefern. Das Sektierertum ist besonders gefährlich, denn es setzt die Kolleg*innen einer klassenfeindlichen Politik aus«, so Gündeş. Der gemeinsame Kampf eröffne wiederum den Raum für politische Debatten – auch über den konkreten Arbeitskampf hinaus.

Diese Erfahrung machen die Genoss*innen der İDP immer wieder, zuletzt in der Stadt Manisa. Auch dort haben sie Arbeiter*innenkomitees gegründet und organisieren regelmäßig politische Bildungsveranstaltungen. »Manisa ist ein extrem nationalistischer Ort, die MHP holt hier über 50 Prozent der Stimmen«, sagt Gündeş. Dennoch habe man in einigen Fabriken mit den dort organisierten Komitees einen Wahlaufruf für die linke HDP zustande bekommen. Debatten um die kurdische Frage seien dabei aufgekommen. »Das kurdische Volk wird in der Türkei unterdrückt und sein Recht auf Abspaltung und Selbstbestimmung muss anerkannt werden«, bekräftigt Gündeş. »Da gab es natürlich einige, die komisch geguckt haben.« Denen habe er dann vom Rassismus gegen die türkeistämmigen Arbeiter*innen in Deutschland erzählt. »So wie die Türk*innen in Deutschland als Menschen zweiter Klasse gesehen werden, erleben die Kurd*innen das hier in vielfach stärkerer Ausführung«, sagt Gündeş. Viele Arbeiter*innen hätten sich in dieser Debatte offen gezeigt. Arbeitskämpfe seien eben auch eine politische Schule, so Şentürk.

Svenja Huck

promoviert an der FU Berlin zu Istanbuler Arbeiter*innengeschichte und arbeitet als freie Journalistin hauptsächlich zur Türkei. Sie lebt in Berlin und Istanbul.