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500 Polizeibusse gegen den Generalstreik

In einem feindseligen Klima setzt sich die südkoreanische Gewerkschaft KCTU für die Rechte der irregulär Beschäftigten ein

Von Choo Young-Rong

Parodie der südkoreanischen Erfolgsserie »Squid Game«: Beschäftigte während des Generalstreiks am 20. Oktober. Foto: KCTU Facebook

Zerschlagt die Ungleichheit!« und »Hin zu einer egalitären Gesellschaft!« – unter diesen Mottos folgten am 20. Oktober etwa 70.000 Arbeiter*innen dem Aufruf des südkoreanischen Gewerkschaftsdachverbandes KCTU (Korean Confederation of Trade Unions) zu einem Generalstreik. Der eintägige Streik mit Massendemonstrationen an 14 Orten war nur der Auftakt zu landesweiten Aktionen, denen im November und im Januar weitere folgen werden. Denn nächstes Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Insgesamt beteiligten sich sogar 260.000 Mitglieder auf unterschiedliche Weise. So »stoppten« zehntausende Beamt*innen, die gesetzlich kein Recht auf kollektives Handeln haben, ihre Arbeit in der Mittagspause. Auch Zehntausende von der Metallgewerkschaft nahmen teil, und außerdem streikten 1.000 Kurierfahrer*innen mit einer eigenen Aktion – und das trotz ihrer unsicheren Rechtslage. 

Durch den Streik wurde wieder einmal die gewerkschaftsfeindliche Stimmung in der südkoreanischen Gesellschaft sichtbar. Mit diesen ist der KCTU immer wieder konfrontiert. Antikommunistische und neoliberal-individualistische Einstellungen in der Bevölkerung sind hierfür die Gründe. So berichtet der 36-jährige Kwon Nam-Pyo: »Dass ich bei der KCTU arbeite, war in Gesprächen mit Fremden immer ein Spaßverderber.« Dass das Image des KCTU so umstritten ist, hat historische Gründe. Selbst nach dem Ende der Diktatur 1987 wurde der gewerkschaftliche Dachverband als illegale Organisation eingestuft – selbst noch 1997 von einer demokratischen Regierung. Der KCTU hatte mit Verhaftungen und Repressalien zu kämpfen, ihre Mitglieder wurden als »commies« gebrandmarkt. 

Informalität und Outsourcing

Nach der über 20 Jahre andauernden Neoliberalisierung sind die südkoreanischen Arbeitsbeziehungen von irregulären Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit) geprägt. Je nachdem, ob Regierungszahlen oder unabhängige Stellen zu Rate gezogen werden, arbeiten 36,4 bis 41,6 Prozent der Erwerbstätigen in solchen Jobs. Informalität und Outsourcing durch Leiharbeit vereinzeln die Arbeiter*innen und erschweren die gewerkschaftliche Organisierung. Zusätzlich sind die neuen Plattformarbeiter*innen (7,61 Prozent der Erwerbstätigen) in Südkorea noch nicht als solche anerkannt. Wo sich die Prekarisierung rasant ausbreitet, ist es mit einzelnen Tarifverhandlungen unmöglich, die miserablen Arbeitsbedingungen abzuschaffen. Und genau dort agiert der KCTU mit seinen sowohl arbeitskämpferischen als auch politischen Forderungen.

Ein Beispiel ist der Dienstleistungs- und Bildungssektor, wo Reinigungskräfte unter den schlechtesten Arbeitsbedingungen leiden. Byun In-Seon, delegierte Gewerkschafterin für irreguläre Reinigungskräfte an Schulen, berichtete in einer Pressekonferenz einen Tag vor dem Generalstreik davon, dass sich Beschäftigte nur auf einem benutzten Karton in einem schimmeligen Raum ausruhen durften. 

Große Medienhäuser berichteten, der KCTU habe die Infektionsgefahr in der Öffentlichkeit »egoistisch« für seine eigenen Interessen in Kauf genommen.

Kein Wunder also, dass die überwiegende Mehrzahl der Teilnehmer*innen des Generalstreiks aus irregulär Beschäftigten an Schulen bestand, während regulär Beschäftigte aus großen Konzernen wenig sichtbar waren. Beteiligt waren zudem Arbeiter*innen der Schulkantinen, aus den Verwaltungs- und Sicherheitsbüros und Nachhilfelehrer*innen sowie Erzieher*innen. Zwar wurden einige Stellen in diesen Bereichen nach langem Kampf letztes Jahr in Stellen mit unbefristeten Verträgen umgewandelt, gleichwohl sind die Bedingungen schlechter als in tariflich abgesicherten regulären Jobs. Kwon Nam-Pyo, der inzwischen als Fachanwalt für Arbeitsrecht arbeitet, betrachtet diese Entwicklung aufmerksam. »Diese Beschäftigten haben in den letzten Jahren die unmittelbaren positiven Auswirkungen der Arbeiter*innenbewegung erlebt. Sie haben gemeinsam Verbesserungen erkämpft, und sie solidarisieren sich aktiv.« 

Industrieller Strukturwandel, neoliberale Politik und die daraus folgende Prekarisierung – auf all das nehmen die 15 Forderungen des KCTU Bezug. Sie zeugen überdies vom politischen Charakter des Dachverbandes. Insbesondere setzt er sich für die Abschaffung von irregulärer Beschäftigung und Diskriminierung in Unternehmen mit weniger als fünf Beschäftigten (in kleinen Unternehmen gilt das Arbeitsrecht nicht) und das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung aller Arbeitnehmer*innen ein. Zudem fordert der KCTU mehr staatliche Verantwortung für Arbeitsplätze im industriellen Strukturwandel und staatliche Regulierungen im Verkehr, in der medizinischen Versorgung sowie in Wohnen, Bildung und Pflege. 

Kriminalisierung der gewerkschaftlichen Aktivitäten

Bei den Aktivitäten des KCTU handele es sich, so ein beliebtes Argument der Regierung, um mehr als Tarifverhandlungen. Da politische Streiks in Südkorea als illegal gelten, wurde dies für das strenge Durchgreifen gegenüber des KCTU genutzt – und zwar von allen bisherigen südkoreanischen Regierungen seit 1948. Sowohl antikommunistische, diktatorische als auch liberal-demokratische Regierungen haben sich des Konzepts des »politischen Streiks« als rechtliche Unterdrückungsgrundlage gegen die Arbeiter*innenbewegung bedient.

Zu den üblichen Repressionen, die der KCTU erleiden muss, kam beim jüngsten Generalstreik ein weiteres Mittel: Hygienemaßnahmen wegen der Corona-Pandemie. Aufgrund der Covid-Maßnahmen verbot die Polizei schon einen Tag zuvor Versammlungen. Am Morgen des Generalstreiks baute sie mit etwa 500 Polizeibussen in der nördlichen Innenstadt Seouls kreuzförmige Mauern auf. 12.000 Polizist*innen waren im Einsatz. Auf den Straßen beschwerten sich viele Fußgänger*innen über die Versammlung, und große Medienhäuser berichteten, dass der KCTU die Infektionsgefahr in der Öffentlichkeit »egoistisch« für seine eigenen Interessen in Kauf genommen habe. 

Bereits im September war der Vorsitzende des Dachverbandes, Yang Kyung-Soo, inhaftiert worden. Zwei Wochen nach dem Generalstreik forderte die Staatsanwaltschaft, ihn wegen des Verstoßes gegen Hygienemaßnahmen infolge der Kundgebungen zu einem Jahr und sechs Monate Gefängnis zu verurteilen. Sein Verteidiger hielt dagegen: Nach offiziellen Angaben der Korea Disease Control and Prevention Agency habe es keine Infizierten wegen des Generalstreiks gegeben. 

Der KCTU-Vorsitzende betonte in seiner Schlusserklärung: »Vielen Beschäftigten bei Kleinunternehmen mit weniger als fünf Personen wurde während der Corona-Zeit ohne rechtlichen Schutz von heute auf morgen gekündigt. Immer noch sterben Arbeiter*innen an ihrem Arbeitsplatz. Der Mindestlohn wurde weniger als sogar während der letzten Regierung angehoben, und der Anteil der irregulären Beschäftigung hat dieses Jahr einen Rekord erreicht.« Die Regierung habe mehrfach Gesprächsanfragen und die Arbeiter*innen, die sich in Gefahr befinden, ignoriert. »Deshalb«, so Yang Kyung-Soo weiter, »habe ich mich entschlossen, dass ich als der Vertreter der 1,1 Millionen KCTU-Mitglieder laut sprechen sollte.«

Von den im November geplanten Aktionen wird vor allem die am 13.11. (nach Redaktionsschluss) von Bedeutung sein. Das ist der 51. Todestag von Jeon Tea-Il, einem Näharbeiter, der in Seoul gegen die entsetzlichen Arbeitsbedingungen der 1960er und 70er Jahren mit seiner Selbstverbrennung im Alter von 22 Jahren protestierte. Damit rief er die Schattenseite von Südkoreas rasanter ökonomischer Entwicklung ins Bewusstsein. 51 Jahre danach befindet sich Südkorea übrigens weiterhin in der untersten Klasse des Arbeitsrechtsindex des internationalen Gewerkschaftsbundes.

Choo Young-Rong

ist Migrantin aus Südkorea. Sie arbeitet als Kulturschaffende, Übersetzerin und antirassistische/feministische Aktivistin in Berlin.