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|ak 703 | Diskussion

»Die Ideologie der Nützlichkeit ist grausam« 

Von den Schlachthöfen zur ökologischen Krise: Der Soziologe Simon Schaupp über den Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Klimawandel

Interview: Guido Speckmann

Stahkonstruktionen auf einer Baustelle mit Bauarbeitern.
Auch sie haben ein Umweltbewusstsein, das aber nicht auf Zahlen und abstrakten Modellen beruht. Foto: Unsplash/Josue Isai Ramos Figueroa

Wie lässt sich die ökologische Krise verstehen? Es dominiert der Blick auf den Überkonsum. Doch das führt in die Irre, argumentiert der Soziologe Simon Schaupp in seinem jüngst erschienenen Buch »Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten«. Wir müssten vielmehr die Arbeit und die Produktion in den Blick nehmen. 

Ich habe dein neues Buch »Stoffwechselpolitik« als theoretischen Überbau für politische Labour -Turn-Forderungen an die Klimabewegung bzw. Climate-Turn-Forderungen an die Arbeiter*innenbewegung gelesen. Teilst du das – bzw. was war deine Motivation für dieses Buch?

Simon Schaupp: Das würde ich teilen. Meine Motivation war natürlich auch, in die wissenschaftliche Diskussion einzugreifen, insbesondere in die Arbeitssoziologie. Denn dort spielt die ökologische Dimension des Arbeitsprozesses kaum eine Rolle. Und ganz wichtig: Ich halte es für kontraproduktiv, Klima- und Umweltzerstörung nur in Kategorien des Konsums zu denken. Ich würde sogar sagen, dass dies derzeit das größte Bewusstseinsproblem in Bezug auf den Klimawandel ist. Viel problematischer noch als die Leugnung des Klimawandels, denn die ist zumindest in Deutschland kaum ausgeprägt. Dieses Bewusstsein verhindert die politische Bearbeitung der Krise. Deshalb ist der Perspektivwechsel auf Produktion und Arbeit so wichtig.

Dein Buch ist auch eine Neuerzählung der industrialisierten Arbeit, etwa am Beispiel der Schlachtfabriken in Chicago oder dem Ruhrbergbau. Kannst du erläutern, wieso das notwendig war?

Die ökologische Dimension der Arbeit ist zwar mit dem Klimawandel und der Corona-Pandemie deutlicher geworden, aber es gab sie schon immer – nicht nur im klassischen Sinne der Umweltzerstörung, die industrialisierte Arbeit oft mit sich bringt, sondern auch umgekehrt. Ökologische Prozesse haben die Geschichte der Arbeit stark beeinflusst.

Hast du ein Beispiel?

Das Fließband ist ein sehr gutes. Ich dachte, es entstand in den Automobilfabriken von Ford. Stimmt aber nicht. Es wurde in den Schlachtfabriken von Chicago eingeführt – unter anderem als Reaktion auf Verwesungsprozesse, die auftraten, wenn man zu viele Tiere geschlachtet hatte. Das hat den Arbeitenden neue Machthebel an die Hand gegeben. Mit kurzen Streiks konnten sie den Unternehmen schon sehr großen Schaden zufügen. Das wiederum trieb die Manager dazu, neue Kühltechniken einzuführen. Das zeigt: Die Widerspenstigkeit oder Autonomie der Natur lässt sich nie ganz dem Kapital unterordnen, und sie beeinflusst die Geschichte der Arbeit und der Produktivkraftentwicklung.

Wie hängt das mit der »Stoffwechselpolitik«, dem Titel deines Buches zusammen? Wer nicht mit Marx vertraut ist, auf den der Begriff »Stoffwechsel« zurückgeht, denkt bei Stoffwechsel eher an den menschlichen Körper. 

Marx sagt, dass Arbeit der Stoffwechsel jeder menschlichen Gesellschaft mit der nichtmenschlichen Natur ist; Natur wird im Arbeitsprozess in Stoffe transformiert, die für uns nützlich sind, also zum Beispiel Essen, aber auch Baumaterialien und so weiter. Und dieser Umwandlungsprozess verursacht stets neue Formationen von Materie wie auch Abfall, die wiederum auf die Natur zurückwirken. Und hier ist der Arbeitsprozess, und wie er organisiert ist, von großer Bedeutung. Im Ökomarxismus wird der Begriff des Stoffwechsels oder des Metabolismus auch viel diskutiert, aber vor allem mit einem Fokus auf das Kapitalverhältnis. Ich hingegen versuche, den Arbeitsprozess und seine Organisation ins Zentrum zu rücken. Stoffwechselpolitik nenne ich das, weil Arbeit nicht einfach nur die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen ist, sondern immer auch eine politische Aushandlung unserer Gesellschaft. 

UniBas, Simon Schaupp,

Simon Schaupp

arbeitet an der Uni Basel am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse. Seine Schwerpunktthemen sind die Transformation der Arbeitswelt, Digitalisierung und ökologische Krisen. Im März erschien sein Buch »Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten« (Suhrkamp, 419 Seiten, 24 EUR). Foto: Universität Basel

Die Landwirte gingen in den letzten Monaten auf die Barrikaden. Kannst du anhand ihrer Situation und ihrer Forderungen erläutern, was du mit dem »Paradox der Nutzbarmachung« meinst, das bei dir zentral ist?

Die heutige Situation der industriellen Landwirtschaft ist durch eine ökologische Krise gekennzeichnet. Bestäubende Insekten sterben aus, die Bodenproduktivität nimmt ab, weil die Böden durch die intensive Landwirtschaft überstrapaziert werden. Die Folge: sinkende Erträge. Das wiederum zwingt die Bauern, die Böden noch intensiver zu bewirtschaften, noch mehr Kapital zu investieren, aggressiver zu düngen und mehr Maschinen einzusetzen, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. Das führt zu einer tragischen Situation: Die Landwirte sind auf diese Kapitalintensität angewiesen, allein um das bisherige Niveau halten zu können. Und dafür gehen sie auf die Straße, wenn ihnen zum Beispiel Subventionen für fossile Energieträger gestrichen werden oder sie Auflagen zum Erhalt der Biodiversität umsetzen sollen. Auf der anderen Seite untergraben sie damit langfristig die Grundlagen ihres eigenen Wirtschaftens. Mit dem Paradox der Nutzbarmachung meine ich, dass durch produktivitätssteigernde Maßnahmen in diesem Beispiel die Bodenfruchtbarkeit untergraben wird. 

Diesen Mechanismus hast du auch im Bausektor festgestellt ….

Ein sehr dramatisches Beispiel. Dort wurde mit der zentralen Technologie des Stahlbetons eine der größten Dequalifizierungsmaßnahmen in der Geschichte der Arbeit eingeleitet. Auf einen Schlag wurden gelernte Maurer und Steinmetze durch Arbeiter ersetzt, die nur noch Beton in Formen gießen mussten. Gleichzeitig hatte dies weitreichende ökologische Folgen, denn es wird extrem viel Sand benötigt, der z.B. aus Flüssen entnommen wird. Zudem wird bei der Betonherstellung enorm viel COfreigesetzt. Der Bausektor ist damit einerseits ein zentraler Treiber des Klimawandels, andererseits aber auch eine der am stärksten betroffenen Branchen, die durch Extremwetterereignisse und Hitze enorme Produktivitätseinbußen hinnehmen muss.

Warum?

Weil bei Hitze viel langsamer gearbeitet wird. Die Schweizer Arbeitgeber rechnen mit 25 Tagen, an denen deshalb oder wegen Stürmen in Zukunft auf dem Bau nicht gearbeitet werden kann. Deshalb wollten sie die Wochenarbeitszeit massiv erhöhen, und es kam zum Streik. 

Der ökologische Eigensinn der Arbeitenden müsste politisch stärker berücksichtigt werden – auch von Fridays for Future.

Du hast Interviews mit Bauarbeitern in der Schweiz über ihre Arbeitsbedingungen geführt. Was sind die interessantesten Erkenntnisse? 

Die meisten Befragten sagten, dass das Wetter allein noch kein massives Problem sei, sondern erst in Kombination mit den widrigen Arbeitsbedingungen zu einem wird. Sie dürfen bei Hitze keine Pausen machen, sich nicht in den Schatten zurückziehen. 

Eine andere Art von Umweltbewusstsein?

Ja, eines, das nicht durch das wissenschaftliche Umweltwissen geprägt ist, das mit Zahlen und abstrakten Modellen jongliert. Und dieser ökologische Eigensinn der Arbeitenden müsste politisch stärker berücksichtigt werden. Denn die Bauarbeiter haben auch eine große Expertise, sie wissen, wie man nachhaltig bauen kann. Und sie wissen, warum das nicht passiert. Weil es vor allem um Profite geht.

Womit wir bei den politischen Schlussfolgerungen aus deinen Erkenntnissen wären. Du glaubst nicht an grünes Wachstum oder Effizienzfortschritte. Aber wie müsste eine alternative Umweltpolitik aussehen, die den Herausforderungen von Klimakrise und Biodiversitätsverlust gerecht wird?

Das Problem ist: Die vorherrschende Umweltpolitik setzt auf die Einschränkung des Konsums. Sogenannte Austeritätspolitiken zielen auf höhere Preise, was dazu führt, dass sich nur noch Reiche umweltschädliches Verhalten leisten können. Ärmere Leute bezahlen hingegen die Kosten der Krise. Aber tatsächlich gibt es objektive Grenzen der Naturbelastung. Deshalb brauchen wir eine politische Vision, die diese Grenzen anerkennt, aber auch wegkommt von diesem Austeritätsgedanken. 

Wie könnte diese aussehen?

Arbeitszeitverkürzung scheint mir eine zentrale Forderung zu sein, weil sie die zweifellos notwendige Reduktion des Gesamtproduktionsvolumens mit Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit vereinbar macht. Es geht darum, weniger Lebenszeit zu verkaufen, weniger Bullshit-Jobs zu machen, stattdessen mehr ökologisch verträgliche Tätigkeiten auszuüben. 

Das Grundkonzept des Buches ist das Konzept der Nutzbarmachung, das heißt, dass sowohl die Natur als auch der menschliche Körper für das Kapital nutzbar gemacht werden müssen.

Siehst du in politischen Bewegungen Ansätze, die in diese Richtung gehen?

Es gibt verschiedene Bündnisse von Klimabewegung und Gewerkschaften, die nicht immer unkompliziert sind, aber grundsätzlich in die richtige Richtung gehen. Dort geht es oft um Fragen der Arbeitszeitverkürzung – wie auch um die ebenso wichtige Frage der nachhaltigen Transformation der Infrastruktur. Stichwort: Abschied von der individuellen Automobilität, mehr öffentlicher Verkehr. Das Bündnis »Wir fahren zusammen« von Fridays von Future und ver.di ist ein gutes Beispiel (siehe ak 702). Und es gibt vor allem auch sehr viele Konflikte, deren ökologisches Potenzial nicht erkannt wird, wie beispielsweise der Streik der Schweizer Bauarbeiter. Die Klimabewegung hatte da keinen Bezug zu, obwohl das ein Konflikt war, der explizit auf den Klimawandel reagiert hat. 

Ist Arbeitszeitverkürzung auch ein Element der »lustvollen Politik der Nutzlosigkeit«, für die du dich starkmachst. 

Durchaus. Das Grundkonzept des Buches ist ja das Konzept der Nutzbarmachung, das heißt, dass sowohl die Natur als auch der menschliche Körper für das Kapital nutzbar gemacht werden müssen. Wir werden nicht als Arbeiter*innen geboren, sondern dazu gemacht; die Natur ist nicht als Ressource da, sondern wird durch Arbeit dazu gemacht. Und das ist ein Prozess, der expansiv und inhärent destruktiv ist. Die Idee der lustvollen Nutzlosigkeit zielt darauf ab, sich dem zu entziehen und sich der gewaltsamen Abspaltung des Nutzlosen zu widersetzen. Sie würde diese Nutzlosigkeit akzeptieren und anders framen; sie wäre eine Befreiung aus der eigenen Vernutzung. 

Das scheint mir schwer vermittelbar zu sein, weil der Begriff »nützlich« positiv besetzt ist. 

Mir geht es darum, dass die Ideologie der Nützlichkeit eine grausame Ideologie ist, von der wir uns befreien müssen. Es geht nicht darum, dass wir irgendetwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun, sondern dass das in den meisten Fällen eine Vernutzung ist. Dass die Leute sich mit der eigenen Nützlichkeit identifizieren, ist tatsächlich ein Problem. Es ist eine Art sadomasochistische Identifikation mit der eigenen Unterwerfung und der eigenen Zerstörung. Das zeigt sich auch in der Identifikation mit der fossilen Energie, die über ökonomisch rationale Aspekte hinausgeht und in marxistischen Debatten unterschätzt wird. Es geht nicht nur darum, dass Klimaschutz zusätzliche Kosten für die Arbeiter*innen bedeutet. Es geht um eine affektive Bindung an die fossile Energie, weil diese die materielle Bedingung für die moderne Arbeitsproduktivität und damit für die Zuschreibung der ökonomischen Nützlichkeit des Einzelnen ist. Man muss sich vor Augen halten: Aktuelle Studien haben ergeben, dass sich 80 Prozent der global Befragten durch ihre Arbeit erschöpft fühlen. Deshalb sehe ich in einer Politik der lustvollen Nutzlosigkeit, die an diesem Leiden an der Leistungssteigerung ansetzt, ein großes Potenzial.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.