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»Schieß doch!«

Das iranische Regime reagiert mit Terror auf die anhaltenden Massenproteste – vertreiben lassen sich die Menschen jedoch nicht

Von Hamid Mohseni

Vier Bilder aus einem Video: im ersten sieht man eine Frau von hinten, die von hinten auf einen Mann mit wallendem Gewand und Turban zuläuft, auf den folgenden Bildern ist zu sehen, wie sie ihm den Turban vom Kopf schlägt.
Mullahs auf der Straße den Turban vom Kopf zu schlagen, ist ein Massensport geworden. Screenshots aus einem Twitter-Video

Zwei Monate ist es her, dass Jîna Mahsa Amini im Teheraner Polizeigewahrsam getötet wurde. Seitdem hat eine landesweite profeministische Bewegung Iran in einen Ausnahmezustand versetzt. Dafür zahlt sie einen hohen Preis: Die kurdische Menschenrechtsorganisation Hengaw zählt über 300 Tote (darunter 60 Minderjährige) und knapp 15.000 Festgenommene, denen als »mohareb« (»Gottesfeinde«) die Todesstrafe droht. Vor allem Hochschulen sind immer öfter Ziel von Razzien, Festnahmen und Entführungen. Bei Protest und Widerspruch gibt es eine einzige Sprache, die die Islamische Republik Iran (IRI) spricht: Gewalt und Terror.

Dabei sind diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist. Zahlreiche Verschleppte und Vermisste können statistisch kaum erfasst werden, ebenso wenig die Tausenden Folter- und Vergewaltigungsopfer in den Gefängnissen. Die Paranoia des Regimes zeigt sich auch daran, dass es ganze Nachbarschaften terrorisiert. Eine Aufnahme aus dem Teheraner Viertel Ekbatan vom 1. November ging viral, als nachts Hunderte Sicherheitskräfte und Regimetreue über Lautsprecher mehrere Wohnhäuser mit Drohungen und Gewaltfantasien beschallten, Tränengas abfeuerten und Wohnungen und Autos beschädigten. Was woanders als Hooliganismus gilt, ist in der Islamischen Republik der Rechtsstaat.

Dabei arbeitet die IRI sorgsam an der eigenen Erzählung, wonach die Proteste von westlichen Geheimdiensten initiiert und gelenkt seien. Die Demonstrierenden sind für sie entweder Agenten oder vom Weg Abgekommene. Offensichtlich unter Folter erpresste Geständnisse wie das des oppositionellen Rappers Toomaj werden regelmäßig triumphierend in den staatlichen Propagandakanälen präsentiert.

Leere Machtworte

Doch auch die sorgfältigste Pflege des eigenen Narrativs bringt dem Regime nichts, wenn die Bevölkerung nichts davon glaubt. Und niemand in Iran glaubt an die Aussagen der Zwangsgeständnisse. Wenn einem nicht geglaubt wird, werden auch die beständig angedrohten »Konsequenzen« nicht mehr ernst genommen: Mehrmals in diesen zwei Monaten haben ranghohe Revolutionswächter und der Revolutionsführer Khamenei selbst gesagt, dass nun aber wirklich Schluss sein müsse mit den Versammlungen, sonst werde man wirklich durchgreifen. Keine zwölf Stunden später versammelten sich wieder Menschen im ganzen Land zum Protest.

Videos zeigen so viele Frauen ohne Kopftuch, dass man denken könnte, der Hijab-Zwang sei bereits abgeschafft.

Seit Wochen wird mit scharfer Munition auf diese Menschenmengen geschossen, nicht nur in den von ethnischen und religiösen Minderheiten bewohnten Provinzen wie Sistan und Balochistan oder Kurdistan, deren Einwohner*innen häufig als Menschen zweiter Klasse abgewertet werden. Auch im Landesinneren werden Demonstrierende oder Filmende mit Kopfschüssen hingerichtet. Doch die Strategie des Terrors funktioniert nicht. Immer mehr Demonstrierende laufen auf die Sicherheitskräfte zu und rufen: »Schieß doch!« Das muss ein ganz unangenehmes Déjà-vu für die Mullahs sein, schließlich wissen sie selbst bestens, dass genau solche Reaktionen essenzielle Kipppunkte in der Revolution 1979 gegen den Schah waren.

Die Demonstrierenden müssen nicht nur ständig mit dem eigenen Tod rechnen, sie nutzen den Tod der bei den Protesten Gefallenen auch für weitere Proteste. Wir befinden uns in einer Phase, in der immer mehr Todestage begangen werden. Im Islam ist der 40. Tag nach dem Tod einer Person Anlass, dass Freund*innen und Familien erneut zusammenkommen, sich erinnern, trauern. Diese qua Religion gestattete Form der Zusammenkunft wird von den Menschen nun angeeignet: Sie machen Friedhöfe zu Orten der emotionalen Verarbeitung des Verlusts und der gegenseitigen Ermutigung (es gibt viele bewegende, kämpferische Reden der Mütter und Väter) sowie von beeindruckenden Demonstrationen. Die Bilder von Zigtausend Menschen in Aminis Geburtsstadt Saqqez gingen um die Welt.

Dieser Zyklus ist nie beendet, denn jeden Tag sterben Menschen. Und so sehr die IRI alles dafür tut, die Toten und Festgenommenen zu anonymisieren und ihre Familien einzuschüchtern, so sehr geben die Menschen an diesen Ereignissen der politisierten Trauer den Toten ein Gesicht und eine Geschichte – sie erhalten sie und die Bewegung am Leben.

Die Bewegung verankert sich zudem immer mehr im Alltag des Landes. Täglich und vor allem in der Nacht finden Versammlungen, Demonstrationen und Straßenblockaden statt, häufig münden sie in militante Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Nach wie vor sind vor allem die Schulen und Hochschulen wichtige Orte des Protests; das belegt, dass es sich auch um einen Aufstand der Jugend gegen die meist durch Greise verkörperte Islamische Republik handelt.

Streik der Basaris

Doch auch Streiks und andere Aktionen von Arbeiter*innen prägen weiterhin das Bild. In Kurdistan bleiben fast jede Woche sämtliche Geschäfte und Läden geschlossen. Immer wieder legen Arbeiter*innen unterschiedlicher Branchen ihre Arbeit nieder und verfassen Statements der Solidarität mit der Bewegung, so die Ölarbeiter*innen, Stahlarbeiter*innen, Lehrer*innen und andere. Für Aufsehen sorgte Ende Oktober ein großer Streik im Teheraner Basar; die Basaris galten lange als äußerst konservativ und als soziale und politische Stütze des Regimes.

Einen wichtigen Beitrag leisten allerdings auch die weniger spektakulären täglichen Aktionen des zivilen Ungehorsams. Videos aus verschiedenen Städten zeigen so viele Frauen ohne Kopftuch, dass man denken könnte, die Zwangsverschleierung sei bereits abgeschafft. Ein Volkssport ist es geworden, Mullahs auf der Straße den Turban vom Kopf zu schlagen, jene Mullahs, die seit Jahrzehnten im öffentlichen Raum auf den Plan treten, wenn Frauen (und Männer) sich ihrer Meinung nach nicht islamisch genug kleiden und verhalten.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen auch diverse iranische Sportler*innen, die durch mehr oder weniger subtile Formen des Protests Solidarität mit den Menschen auf Irans Straßen zeigen: Die Klettererin Elnaz Rekabi und die Schlittschuhläuferin Niloufar Mardani traten ohne Hijab bei internationalen Wettbewerben an. Die iranische Wasserpolonationalmannschaft der Männer verweigerte das Mitsingen der Nationalhymne. Die Haarabschneiden-Jubelgeste des iranischen Beachsoccernationalspielers Saeed Pirmoun ging in Iran viral. Der iranische Fußball-Supercupsieger der Männer, der Traditionsklub Esteghlal Teheran, verweigerte das Feiern des Titelgewinns, der Spieler Siavash Yazdani sagte im Interview: »Das ist ein bitterer Erfolg. Ich widme ihn den iranischen Frauen und Menschen, die in dieser Zeit Angehörige verloren haben. Das letzte, was mich jetzt interessiert, ist Fußball.« Das iranische Staatsfernsehen brach daraufhin die Liveübertragung ab.

Diese Botschaften sind wichtig für die Menschen in Iran. Sie merken: Wir sind nicht allein. Diese Wirkung hat auch die globale Aufmerksamkeit. Die Iraner*innen wissen: Wenn die Welt nicht mehr hinschaut und sie nicht mehr auf die Straße gehen, wird das Regime noch brutaler vorgehen, sie festnehmen, töten, massakrieren. Vorausgesetzt, dass es das Regime als solches dann noch gibt.

Hamid Mohseni

ist in Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er verfolgt die Proteste gegen die Islamische Republik seit 2009. Er ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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