analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 686 | Diskussion

Protestbündnisse wärmen sich auf

Bundesweit mobilisieren Initiativen zu Demonstrationen gegen Preissteigerungen – das Angebot wird teilweise unübersichtlich

Von Fabian Lehmann

Dass die FDP scheisse ist, darauf können sich immerhin alle einigen. Protest von »Wer hat, der gibt« im August in Berlin. Foto: Jan Ole Arps

Über alle Grenzen hinweg scheint man sich in der gesellschaftlichen Linken derzeit in einer Frage einig: Es braucht dringend einen »heißen Herbst«. Zahlreiche Initiativen rufen mittlerweile bundesweit zu Protesten angesichts der massiven Preissteigerungen auf, erste Demonstrationen haben bereits stattgefunden. Die großen Feuer lassen jedoch noch auf sich warten. Über den begrenzten Kreis linker Aktivist*innen hinaus gelang es bisher kaum, breite Massen zu mobilisieren. Die extreme Rechte hat hierbei zumindest teilweise größeren Erfolg: Vor allem in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands gehen wieder Zehntausende auf die Straßen – die sächsische Linke-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz spricht von einer faschistischen Massenbewegung.

Von der radikalen Linken über Gewerkschaften bis hin zur Zivilgesellschaft versucht man, mit eigenen Angeboten zu kontern. Diese Kundgebungen finden jedoch nicht immer zusammen. Gerade in Berlin fällt die Fragmentierung der verschiedenen Protestinitiativen auf. Je nach Krisenanalyse, inhaltlichen Schwerpunkten, politischem Milieu und erwünschtem Image haben sich hier verschiedene Bündnisse aufgestellt.

Menschen abholen, Widersprüche aushalten

Eine dieser Initiativen ist das Bündnis Heizung, Brot und Frieden. Im September und Oktober organisierte es unter dem Motto »Protestieren statt frieren« Kundgebungen vor der Berliner Grünen-Zentrale und auf dem Potsdamer Platz. Die Forderungen umfassen etwa eine Deckelung der Gas- und Strompreise, eine Besteuerung der Krisengewinne und die Übertragung der Energiewirtschaft in die öffentliche Hand. Unterstützt wird der Protest unter anderem von den NaturFreunden, der DKP, Aufstehen und der Gruppe Klasse gegen Klasse, bekannte Einzelpersonen sind die Aktivisten Marcus Staiger und Michael Prütz sowie der Autor Christian Baron.

Inhaltlich will man keine extremen rechten oder verschwörungsideologischen Funktionär*innen auf seinen Protesten dulden und auch diskriminierenden Positionen keinen Raum geben – darüber hinaus zeigt man sich aber explizit offen. »Das heißt, die Menschen, die sich noch nicht klar in eine Richtung politisiert haben, abzuholen«, erklärte Uwe Hiksch, der stellvertretende Landesvorsitzende der NaturFreunde Berlin, in der taz. Widersprüche müssten demnach ausgehalten werden. Ein Unterfangen, das Risiken birgt – etwa, wenn Querdenken-Kanäle für die Kundgebungen mobilisieren oder sich auf den Protesten geäußerte Forderungen, wie die Aufhebung der Russland-Sanktionen oder die Inbetriebnahme von Nordstream 2, auch massiv auf rechten Demos finden lassen. 

Das Bündnis Umverteilen wiederum ruft für den 12. November in Berlin zu Protesten auf. Die Unterstützer*innen kommen vor allem aus dem Bewegungsspektrum, wie etwa der Interventionistischen Linken, der Initiative Wer hat, der gibt, Fridays for Future Berlin oder Deutsche Wohnen und Co enteignen. »Umverteilen heißt für uns, an die Vermögen und Profite ran zugehen«, erklärt der im Bündnis aktive David gegenüber ak. Kurzfristig seien Gas- und Strompreisdeckel wichtig, grundsätzlich müsse es aber darum gehen, die Energieversorgung,  Immobilienkonzerne und den Gesundheitssektor »so schnell wie möglich unter gesellschaftliche Kontrolle« zu bekommen. Ziel sei neben einer »bezahlbaren Befriedigung der Grundbedürfnisse« auch, aus dem fossilen Kapitalismus auszusteigen sowie die Umverteilung global zu denken: »innerhalb der Gesellschaft und im globalen Verhältnis von Nord nach Süd«. Versuche, dies voneinander zu trennen, spielten einer nationalistischen Vereinnahmung in die Hände.

Generell wolle man bei »Umverteilen« alle Menschen ansprechen, »die von der Krise betroffen sind und ihnen solidarische Lösungen aufzeigen«. Dabei spreche man einerseits diejenigen an, die sich schon lange in verschiedenen Kämpfen engagieren, wolle aber auch bisher nicht Aktive erreichen.

Versammlung der Zivilgesellschaft

Einen weiteren Ansatz verfolgt das zivilgesellschaftliche Bündnis Solidarischer Herbst. Für den 22. Oktober ruft man in sechs Städten – Berlin, Dresden, Hannover, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Stuttgart – unter dem Motto »Soziale Sicherheit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden« zu Protesten auf. Getragen wird der Protest unter anderem von campact, attac, Greenpeace, dem Paritätischen Gesamtverband sowie den Gewerkschaften ver.di und GEW. »Mit dem Bündnis wollen wir von links bis zur Mitte der Gesellschaft all diejenigen ansprechen, die mit Ängsten und Sorgen in die Zukunft blicken und gleichzeitig auf Solidarität statt Spaltung setzen«, erklärt Maria Henk, Pressesprecherin von Campact, gegenüber ak.

Auf den Kundgebungen und Saalveranstaltungen sollen Krisenbetroffene zu Wort kommen.

Man wolle ebenso verhindern, dass eine »laute Minderheit mit nationalistischen Forderungen« die Debatte prägt und stattdessen zeigen, wie viele Menschen hinter einer solidarischen Krisenpolitik stehen. Entlastungen und »ambitionierterer Klimaschutz« müssten zwei Seiten der gleichen Medaille sein. »Wir denken die Krisen zusammen, grenzen uns klar von Populisten und Rassisten ab und fordern Solidarität mit der Ukraine«, so Henk. Konkret fordert das Bündnis zielgerichtete Entlastungen für »alle, die Unterstützung benötigen«, sowie massive Investitionen in eine »nachhaltige Zukunft«. Finanzieren sollen die Vorhaben die »Superreichen und Krisengewinner«.

Noch einen anderen Ansatz hat die Kampagne Genug ist Genug gewählt. Inspiriert von wochenlangen Streiks im Vereinigten Königreich und der darauf aufbauenden britischen Kampagne enough is enough versucht eine Gruppe um Ines Schwerdtner, Chefredakteurin der deutschsprachigen Ausgabe des US-Magazins Jacobin, einen gemeinsamen Rahmen für die Proteste zu schaffen. »Bisher mangelt es noch an einer gemeinsamen Klammer und an einer zielgenauen strategischen Ausrichtung der Proteste«, schrieb sie im Jacobin. Forderungen sind etwa die Zahlung von 1.000 Euro Wintergeld für alle, die Verlängerung des 9-Euro-Tickets, die Erhöhung von Löhnen sowie ebenfalls die Deckelung von Energiepreisen. Bei einem ersten Online-Vorbereitungstreffen hatten sich bereits mehr als 400 Menschen beteiligt.

Geplant ist nun bundesweit die Durchführung von »Rallys«, der gut besuchte Auftakt war am 13. Oktober in Berlin. Auf den Kundgebungen und Saalveranstaltungen sollen Krisenbetroffene zu Wort kommen, dazu wird eine Vernetzung mit Arbeitskämpfen angestrebt. In Berlin ruft ein Teil von ver.di seine Mitglieder zur Teilnahme an den Rallys auf, Gewerkschafter*innen aus verschiedenen Bereichen wollen sich beteiligen. Man fordere eine »aktive offensive Tarifpolitik«, heißt es in der Einladung. Genug ist genug versucht offenbar inhaltlich vor allem über die hiesigen Klassenkämpfe und weniger über die Rolle der Russland-Sanktionen zu sprechen. 

Ins Handgemenge

Nicht nur in Berlin werden derzeit zahlreiche Protestkundgebungen geplant – zum Teil sind die Initiativen jedoch auch bundesweit so zersplittert wie in der Hauptstadt. Der Gedanke, dass man mit unterschiedlichen Mobilisierungen unterschiedliche Milieus erreichen und verschiedene Schwerpunkte setzen kann, mag berechtigt sein. Gleichzeitig drohen die Proteste, aneinander vorbeizulaufen und so an Energie einzubüßen. Eine bundesweite progressive Klammer und größere Abstimmungen untereinander könnten die Schlag- und Strahlkraft um ein Vielfaches erhöhen. Und damit auch die Attraktivität für bisher weniger Politisierte und Aktive. Der unterschiedliche Umgang der Bündnisse mit der Frage der Russland-Sanktionen und der Bewertung des Ukraine-Kriegs – und damit eine fehlende gemeinsame Krisenerklärung – zeigt, dass dies kein leichtes Unterfangen ist. Zudem bleibt als Herausforderung der Umgang mit den Protesten in den ländlichen Regionen. Dort sind extrem rechte Gruppen meist viel besser verankert. Wo es möglich ist, sollte jedoch auch dort um die Hegemonie gestritten werden – ohne dabei eigene Positionen aufzugeben. Lange diskutierte die radikale Linke in Deutschland über die Notwendigkeit, sich ins Handgemenge zu begeben. Nun ist es soweit.

Fabian Lehmann

ist Autor in Berlin. Er schreibt über soziale Bewegungen, die extreme Rechte und Klassenkämpfe.