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Solidarität in Seenot

Der Prozess gegen das Iuventa-Team, der im Mai beginnen soll, ist nur ein Beispiel für das absurde Ausmaß der Kriminalisierung von Flucht

Von Katharina Schoenes

Bis zu 20 Jahren Haft drohen Mitgliedern der Iuventa-Crew, die 14.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben. Geflüchtete, die sich der Logik des Europäischen Grenzregimes widersetzen, müssen mit noch härteren Repressionen rechnen. Foto: Friedhold Ulonska.

Am 21. Mai beginnt im sizilianischen Trapani der Prozess gegen frühere Besatzungsmitglieder des Seenotrettungsschiffs Iuventa. Zwischen Juli 2016 und August 2017 hatten rund 200 Freiwillige mit der Iuventa Such- und Rettungsaktionen auf dem zentralen Mittelmeer durchgeführt und mehr als 14.000 Menschen aus Seenot gerettet. Doch im August 2017 beschlagnahmte die italienische Staatsanwaltschaft das Schiff und leitete Ermittlungsverfahren gegen mehrere Crew-Mitglieder ein. Im März 2021 erhob sie Anklage gegen 22 Personen wegen »Beihilfe zur illegalen Einreise«. Im Fall einer Verurteilung drohen den Seenotretter*innen bis zu 20 Jahre Haft sowie Strafforderungen in Millionenhöhe. Im Mai entscheidet nun ein Gericht, ob es die Vorwürfe fallen lässt oder einen großangelegten Prozess eröffnet.

Es handelt sich um das letzte noch offene Verfahren, mit dem Seenotretter*innen wegen Such- und Rettungsaktionen auf dem zentralen Mittelmeer verfolgt werden. Nach Beendigung der italienischen Mission »Mare Nostrum« ertranken im Frühjahr 2015 mehr als 1.200 Menschen bei zwei Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer. Als Reaktion darauf gründeten sich ab 2015 zahlreiche NGOs, die eigene Seenotrettungsschiffe entsandten. Zwischenzeitlich stieg der Anteil der Rettungen durch NGO-Schiffe auf 40 Prozent an. Doch von Anfang an waren die Seenotretter*innen mit Repressionen und Diffamierungen konfrontiert. Man warf ihnen vor, mit »kriminellen Schleppern« zusammenzuarbeiten; zudem wurden immer wieder NGO-Schiffe beschlagnahmt und Besatzungsmitglieder kriminalisiert. Daten der EU-Grundrechteagentur (FRA) zeigen, dass zwischen 2018 und 2020 17 NGO-Schiffe Gegenstand gerichtlicher Verfahren wurden, darüber hinaus eröffneten europäische Staaten mehr als 40 Strafverfahren im Zusammenhang mit Seenotrettungsaktionen.

»Solidaritätsverbrechen«

Fluchthilfe und Solidarität mit Geflüchteten werden aber nicht nur auf dem Meer kriminalisiert, was ein Bericht des Londoner »Institute of Race Relations« (IRR) von 2019 eindrücklich belegt. Die Liste der darin dokumentierten »Solidaritätsverbrechen« ist lang. Das IRR untersucht unter anderem die Verfolgung von Fluchthilfe an der italienisch-französischen Grenze, die Kriminalisierung der »Stansted 15«, die 2017 eine geplante Sammelabschiebung von London nach Nigeria und Ghana verhinderten, indem sie sich an das Flugzeug ketteten, und die Verfolgung eines Aktivisten, der an der bosnisch-kroatischen Grenze eine Gruppe von Geflüchteten begleitete, um illegale Pushbacks der kroatischen Polizei zu verhindern. Das IRR kommt zu dem Ergebnis, dass die Kriminalisierung von »Solidaritätsverbrechen« in den letzten Jahren europaweit deutlich zugenommen hat. Darüber hinaus seien neue Straftatbestände entstanden, darunter die Gefährdung der Sicherheit von Seefahrt und Flughäfen, Spionage oder Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Auch würden zum Teil Antiterror- und Antimafiagesetze gegen Solidaritätsorganisationen in Anschlag gebracht, in einigen Fällen seien Telefone abgehört oder Konten eingefroren worden.

Prozesse gegen »Schleuser« werden in Griechenland meist in weniger als 30 Minuten abgehandelt.

Während sich von Kriminalisierung bedrohte Seenotretter*innen meist auf öffentliches Interesse und ein breites Solidaritätsnetzwerk stützen können, ist weit weniger bekannt, dass sich Repressionen im Zusammenhang mit »illegaler Einreise« immer häufiger auch gegen Geflüchtete selbst richten.

In Malta werfen die Behörden drei afrikanischen Jugendlichen »Terrorismus« vor, weil diese es nicht hinnehmen wollten, nach Libyen zurückgeschickt zu werden. Sie waren mit etwa 100 weiteren Menschen während der Flucht über das Mittelmeer in Seenot geraten und wurden am 26. März 2019 von dem Öltanker El Hiblu an Bord genommen. Die EU-Militärmission im Mittelmeer EUNAVFOR Med wies die Besatzung des Tankers an, die Schiffbrüchigen zurück nach Libyen zu bringen – wo Geflüchteten bekanntermaßen Lagerhaft, Folter, Zwangsarbeit und andere schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen. Als die Menschen an Bord des Frachters begriffen, dass sie nach Libyen zurückgeschoben werden sollten, breitete sich unter ihnen Panik aus. Mit ihrem Protest konnten sie die Besatzung der El Hiblu überzeugen, den Kurs zu ändern und sie nach Malta zu bringen, wo sie sich Schutz erhofften. Doch bei der Ankunft nahmen maltesische Sicherheitskräfte drei Jugendliche im Alter von 15, 16 und 19 Jahren fest. Der Vorwurf: Sie hätten das Schiff gewaltsam unter ihre Kontrolle gebracht. Nach sieben Monaten in Untersuchungshaft wurden die »El Hiblu 3« auf Kaution freigelassen. Seit nunmehr drei Jahren warten sie auf ihren Prozess. Sie dürfen Malta nicht verlassen und müssen sich täglich bei der Polizei melden. Bei einer Verurteilung drohen ihnen lebenslange Freiheitsstrafen. Eine internationale Kampagne fordert, dass alle Anklagepunkte gegen die »El Hiblu 3« fallengelassen und die Verfahren eingestellt werden. Für sie ist klar, dass es dem maltesischen Staat darum geht, an den drei Jugendlichen ein Exempel zu statuieren: Widerstand gegen Pushbacks nach Libyen wird nicht geduldet.

146 Jahre Haft

Auch in Spanien, Italien und Griechenland kommt es immer wieder zu Verurteilungen von Geflüchteten zu jahrzehntelangen oder gar über hundertjährigen Haftstrafen, weil ihnen »Schleusertätigkeit« vorgeworfen wird – in Griechenland wurde ein Geflüchteter aus Somalia im Mai 2021 wegen »Menschenschmuggel« zu 146 Jahren Haft verurteilt. Die Strafverfolgungsbehörden machen dies in der Regel daran fest, dass die Beschuldigten das Flüchtlingsboot gesteuert hätten, mit dem sie ankamen.

So erging es auch Amir Zahiri und Akif Razuli. Mit 25 bzw. 23 Jahren flohen sie vor dem Krieg in Afghanistan, Zahiri in Begleitung seiner schwangeren Frau und seiner kleinen Tochter. Im März 2020 versuchten sie mit einem Schlauchboot von der Türkei aus die griechischen Ägäis-Inseln zu erreichen. Nach Aussage von Zahiri und Razuli wurden sie auf dem Meer von der griechischen Küstenwache abgefangen. Als diese das Boot gewaltsam in türkische Gewässer zurückdrängen wollte, wurde es so stark beschädigt, dass es unterzugehen drohte. In der Folge sah sich die Küstenwache gezwungen, die Menschen an Bord zu nehmen und brachte sie nach Griechenland. Dort wurden Zahiri und Razuli umgehend festgenommen und der »Beihilfe zur illegalen Einreise«, »Verursachung eines Schiffbruchs« und der eigenen »illegalen Einreise« beschuldigt. Wenige Monate später, im September 2020, verurteilte ein Gericht sie in erster Instanz zu 50 Jahren Gefängnis, seitdem sitzen sie im Knast. Der Berufungsprozess war eigentlich für Mitte März 2022 angesetzt, wurde nun aber auf Dezember verschoben.

Die Solidaritätsorganisation »You can’t evict solidarity« berichtet, dass solche »Schleuser«-Prozesse in Griechenland meist in weniger als 30 Minuten abgehandelt werden, das durchschnittliche Strafmaß liege bei 44 Jahren Gefängnis. Nach Angaben des griechischen Justizministeriums sitzen momentan fast 2.000 Menschen in griechischen Gefängnissen, weil sie als »Schleuser« verurteilt wurden. Helmut Dieterich von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration zufolge können die europaweit zunehmenden Repressionen gegen Flüchtende und Fluchthelfer*innen als Reaktion der Herrschenden auf die Krise des Grenzregimes seit 2014/2015 verstanden werden. Dazu passt auch, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor einigen Tagen über den »March of Hope« von 2016 entschied: Die Massenabschiebungen der etwa 1.500 Schutzsuchenden, die damals versuchten, über die geschlossene nordmazedonische Grenzen zu gelangen, ohne Möglichkeit eines Antrages auf Asyl, seien mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar.

Das harte Vorgehen gegen angebliche »Schleuser« ist aber auch Ausdruck der Doppelmoral der EU-Asylpolitik: Während Ukrainer*innen derzeit europaweit mit großer Solidarität aufgenommen werden, setzt sich die Kriminalisierung jener, die vor falschen Kriegen geflüchtet sind, unvermindert fort.

Katharina Schoenes

ist aktiv zu institutionellem Rassismus und arbeitet im Bundestagsbüro der Linksparteiabgeordneten Clara Bünger.