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Schulschluss

Nach dem Tod eines Flüchtlings droht der besetzten Schule in Kreuzberg das Aus

Von Carolin Wiedemann

Einen Tag nachdem ein 29-jähriger Mann auf dem Gelände der ehemaligen Gerhard-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg durch Messerstiche starb, scheint die Sonne durch die dicht belaubten Bäume auf den Hof. Traurige Klänge schwingen durch die Luft, arabische Texte. Die Musik kommt aus den Boxen, die neben einem Bild des Verstorbenen stehen, ein Foto, wohl am selben Morgen im Copyshop ausgedruckt, Blumen liegen davor. Auf den Bänken und Stühlen im Hof sitzen Menschen, dem Altar für den Toten zugewendet. Menschen aus dem Sudan, aus Libyen, Kenia, Rumänien, Menschen, die sich über ihre jeweiligen Herkunftsländer hinweg gemeinsam organisiert haben. Sie sind ganz still.

Eineinhalb Jahre haben die Aktivist*innen der Schule in der mittlerweile ca. 300-köpfigen WG zusammengelebt. Mit der Aneignung des Gebäudes hatten sie sich einen Ort geschaffen in einem Land, das ihnen keinen Lebensraum bietet. Die Schule, wie zuvor auch schon das Protestcamp am Oranienplatz, wurde zum Symbol dafür, dass jene Menschen, die in der deutschen Pampa in Lager gesperrt werden, in die Innenstädte gelangen, sich gemeinsam Raum und Gehör verschaffen und das Gesetz, das sie entrechtet, brechen können. Der Verstorbene hatte drei Monate in der Schule verbracht und zwei enge Freunde gefunden. Abseits der Trauerfeier versuchen die beiden, die Anschrift der Familie des Toten ausfindig zu machen, um die Eltern zu informieren. Der eine hat Tränen in den Augen, der andere raucht mit zittriger Hand eine Zigarette nach der anderen. Sie haben gesehen, wie ihr Freund erstochen wurde, und konnten es nicht verhindern. Sie haben gesehen, dass es Streit gab um die einzige Dusche, aber sie wissen, dass die Dusche nicht der Grund war.

Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg kommt zwar für Miete, Müllabfuhr und Strom in der Schule auf, weitere Hilfe bekommen die Geflüchteten jedoch nicht. Einige Ressourcen für die Einrichtung und den Alltag haben Unterstützer*innen gespendet: Möbel, Elektrogeräte, Decken, mit denen zum Beispiel die Frauen einen eigenen Flur, den Women Space, eingerichtet haben.

Asylpolitik soll verschärft werden

Anfang Mai legte das Bundesinnenministerium einen Gesetzesentwurf für eine weiter verschärfte Asylpolitik vor. Insbesondere sollen AsylbewerberInnen leichter inhaftiert werden können. Etwa dann, wenn sie »unter Umgehung einer Grenzkontrolle« eingereist sind, ihre Ausweispapiere vernichtet haben oder falsche Angaben zur Identität oder zur Fluchtroute machen. Das jedoch gilt für einen Großteil der Flüchtlinge – genauer gesagt: Anders ist es gar nicht möglich, nach Deutschland zu gelangen. Wer in Deutschland Asyl sucht, soll also in den Knast kommen. Auch Einreise- und Aufenthaltsverbote sollen leichter ausgesprochen werden können, nämlich dann, wenn jemand nach Deutschland eingereist ist, um Sozialleistungen zu beziehen. Dies soll in Zukunft dann angenommen werden, wenn ein Asylantrag als »unzulässig, unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet« abgelehnt wird. Verbesserungen sieht der Entwurf lediglich für Geduldete vor. Die meisten der etwa 100.000 Geduldeten sind AsylbewerberInnen, deren Antrag abgelehnt wurde, die aber dennoch nicht abgeschoben werden können. Sie sollen die Chance für ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten, wenn sie arbeiten, gut deutsch sprechen und keine Straftaten begangen haben.

Auch wenn die Situation in der Schule immer schwieriger wurde, weil weitere Geflüchtete einzogen und weder der Senat noch der Bezirk die nötige Infrastruktur zur Körperhygiene stellte, blieb das Leben hier doch immer noch menschenwürdiger als eine Rückkehr in die Lager. In der Schule können die Geflüchteten selbst entscheiden, mit wem sie das Zimmer teilen, sie können ein- und ausgehen, wann sie wollen, und sich vom Gebäude entfernen, so weit sie wollen. Im Lager waren sie auf engstem Raum zusammengesperrt in Zimmern, die keinerlei Intimsphäre bieten. In einigen Lagern gibt es keine getrennten Toiletten, Frauen sind Übergriffen von männlichen Flüchtlingen und vom Lagerpersonal ausgesetzt. Es gibt das gleiche Essen für alle, das Leben besteht aus Essen und Schlafen und immerwährendem Warten: Warten darauf, ausziehen und arbeiten zu dürfen oder aber abgeschoben zu werden. Oder ewig geduldet zu sein, also ewig weiter zu warten.

Doch das Warten hat sie auch hier in Kreuzberg wieder eingeholt: »Seit eineinhalb Jahren versprechen die Politiker, uns eine zweite Dusche zur Verfügung zu stellen«, erklärt ein Bewohner der Schule. Er ist Anfang 20. »Wie sollen wir die Räume sauber halten, wenn wir nicht einmal uns selbst waschen können?« Politiker*innen zeigten sich zwar betroffen und erklärten, den Kampf unterstützen zu wollen, getan hat sich in den Augen der Aktivist*innen aber nichts – und das betrifft nicht nur die Duschen. Dieser Zustand strapaziert die oft ohnehin schon traumatisierten Menschen sehr. »Wir wissen nicht, wie es weitergeht, und auch nach eineinhalb Jahren, in denen wir immer wieder mit Politikern diskutiert und Vorschläge gemacht haben, gibt es keine verlässlichen Zusagen für irgendetwas«, sagt eine der Frauen aus dem Women Space. Verlässlich sei nur die Diskussion über eine etwaige Räumung, fügt sie bitter hinzu.

Diese Diskussion wird durch den tödlichen Vorfall befeuert. So bedauerte die Verwaltung von Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) den Tod des Flüchtlings, um sogleich zu betonen, das Delikt sei Ausdruck des desolaten Zustandes, der dort herrsche und der schnellstens beendet werden müsse. »Sie haben ihn sterben lassen, um jetzt die Leute rauszuwerfen«, sagt der junge Mann auf dem Hof. Laut Feuerwehr traf sieben Minuten nach dem Notruf ein Arzt ein, der dem Mann nicht mehr helfen konnte. Der junge Mann sagt, statt des Krankenwagens sei zuerst die Polizei gekommen, erst eine halbe Stunde später der Notarzt.

Schon Wochen zuvor war Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) mit den Geflüchteten im Gespräch, um sie dazu zu bringen, dem Einigungspapier des Senats zum Oranienplatz zuzustimmen. Danach sollen 470 auf einer Liste aufgeführte Flüchtlinge – von denen angeblich rund 200 in der Schule leben – eine »umfassende Einzelfallprüfung« bekommen, wenn sie freiwillig ausziehen. Doch das Angebot des Senats – Unterkunft plus »umfassende Prüfung« der Anträge auf Asyl oder Aufenthaltsrecht, die sowieso jedem Menschen zusteht – bedeutet für die meisten die gleiche Situation wie vor dem Protest. In der Schule zu bleiben, ist nach dem Vorfall für viele ebenfalls keine Option mehr.

Auch der Bezirk will die Geflüchteten nun zum Auszug bringen. Die Idee, die Baustadtrat Hans Panhoff (Grüne) den Bewohner*innen schon vor Monaten unterbreitete, gemeinsam aus der alten Schule ein Flüchtlingszentrum mit Beratungsangeboten und einen Wohnbereich für reguläre Asylbewerber*innen zu machen, hatte einigen gefallen. Doch war nie klar, wann das passieren sollte, und auch nicht, warum sie bis dahin nicht einfach noch eine Dusche bekommen könnten.

Carolin Wiedemann

ist Soziologin und Journalistin. Sie schreibt vor allem über Geschlechterverhältnisse, digitalen Kapitalismus und Rechtspopulismus. Von ihr erschien zuletzt das Buch »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« im Verlag Matthes & Seitz.

Freedom March to Brussels

Am 19. Mai startete in Straßburg der »Freedom March« nach Brüssel. Flüchtlinge aus mehreren europäischen Ländern wollen die 500 Kilometer von Straßburg nach Brüssel zu Fuß zurücklegen, um gegen die europäische Flüchtlingspolitik zu demonstrieren. Bis zum EU-Gipfel zur Migrationspolitik (26./27. Juni) sind in Brüssel und anderen Städten Protestaktionen geplant. Informationen gibt es auf freedomnotfrontex.noblogs.org.