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»Dann stellen wir uns auf die Seite der Ukraine«

Russische Linke treten für die Niederlage Russlands ein

Von Christoph Wälz

Zerstörter russischer Panzer in der Ukraine. Foto: Ministry of Internal Affairs Ukraine / Wikimedia, CC BY 4.0

Ein Sieg des Putin-Regimes in der Ukraine wäre nicht nur ein Alptraum der Ukrainer*innen, sondern auch der sozialistischen Linken in Russland. Schon am 7. April hat die Russländische Sozialistische Bewegung (RSD) gemeinsam mit der Sozialen Bewegung der Ukraine (Sozialnyj Ruch / SR) die Erklärung »Gegen den russischen Imperialismus« veröffentlicht. Darin wenden sich die Aktivist*innen gegen die in der westlichen Linken verbreitete Vorstellung eines in erster Linie inter-imperialistischen Kriegs: »Es ist Putin, nicht die Nato, der Krieg gegen die Ukraine führt. Deshalb ist es wichtig, den Fokus vom westlichen Imperialismus nun auf den aggressiven russischen Imperialismus zu lenken.«

Die Opposition zu ihrem »eigenen« Imperialismus verfolgt die RSD konsequent: »In seiner [Putins] Weltanschauung haben die Starken das Recht, die Schwachen zu schlagen, die Reichen haben das Recht, die Armen auszubeuten, und die Machthaber haben das Recht, Entscheidungen im Namen ihrer entmachteten Bevölkerung zu treffen. Dieser Weltanschauung muss in der Ukraine ein schwerer Schlag versetzt werden. Um einen politischen Wandel innerhalb Russlands herbeizuführen, muss die russische Armee in der Ukraine besiegt werden.«

RSD und SR schlugen gemeinsam als Forderungen der Linken vor: den sofortigen Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine, gezielte personenbezogene Sanktionen gegen Putin und seine Multimillionäre, die Sanktionierung von russischen Öl- und Gasexporten, verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine, insbesondere die Bereitstellung von Luftabwehrsystemen, und die Entsendung von UN-Friedenstruppen aus Nicht-Nato-Ländern zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Drei Monate später hat nun die Gruppe Sozialistitscheskaja Alternativa (SozAlt), die in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn eine beachtliche Rolle in den Mobilisierungen gegen den Krieg spielte und russlandweite Resonanz erhielt, eine ähnliche Position veröffentlicht. In ihrer Stellungnahme für einen militärischen Sieg der Ukraine spricht sich SozAlt ebenfalls für Waffenlieferungen aus und hebt sich damit auch von dem trotzkistischen Dachverband International Socialist Alternative ab.

Diese Stellungnahme ist in mehrerlei Hinsicht interessant und soll weiter unten dokumentiert werden. Als Staatsbürger*innen der Russländischen Föderation sind die Sozialist*innen besonders von den innenpolitischen Entwicklungen betroffen, wo sich nach Ansicht nicht Weniger eine Vorstufe einer faschistischen Diktatur entwickelt hat. Infolge der Niederlage der Antikriegsbewegung, die sich spätestens Ende März 2022 abzeichnete, und des hohen Repressionsdrucks haben viele linke Aktivist*innen das Land verlassen oder agieren nun im Untergrund. In der Konsequenz gehen sie in ihrer Solidarität mit der Ukraine weiter als viele westliche Linke. Ohne eine Niederlage des aggressiven Putinschen Imperialismus bekommen sie selber ihre Heimat nicht zurück.

Die momentanen Verbündeten der Ukraine sind unzuverlässig. Sie haben nicht das Ziel, das Putin-Regime zu demontieren.

Sozialistitscheskaja Alternativa

In einer weiteren Stellungnahme vom 31. Juli .2022 benennt SozAlt diesen Zusammenhang mit der innenpolitischen Situation Russlands genauer: »Wir wollen, dass dieser räuberische Krieg schnellstmöglich endet. Aber nicht zum Preis einer teilweisen oder vollständigen Okkupation der Ukraine und einer darauf folgenden Unterdrückung der Ukrainer*innen. Alle russischen Truppen müssen die ukrainischen Territorien verlassen. Aber wenn die russische Arbeiter*innenklasse gerade nicht dazu in der Lage ist, Putin und seine Regierung zu stoppen, während der Terror gegen das ukrainische Volk andauert, dann stellen wir uns offen auf die Seite der Ukraine und werden alles dafür tun, dass sie siegt.«

Die (vom Autor übersetzte und im folgenden dokumentierte) Stellungnahme der SozAlt vom 7. Juli verbindet die Fragen der militärischen Verteidigung und der sozialen Revolution. Sie warnt die Ukrainer*innen vor der Unzuverlässigkeit ihrer Nato-Verbündeten, die bereitwillig eine Einigung mit Putin gegen die Ukraine durchsetzen könnten, die auch Gebietsverluste einschließt. SozAlt skizziert holzschnittartig ein Programm der Selbstermächtigung der ukrainischen (!) Arbeiter*innenklasse. Durch eine Revolution würden die militärische Verteidigung, die internationale Solidarität mit der Ukraine wie auch der Widerstand der Antikriegsbewegung innerhalb Russlands gestärkt werden.

Fraglich ist, ob diese Verlautbarung dabei hilft, einen Dialog mit der ukrainischen Linken anzubahnen. In der Stellungnahme, die RSD und SR drei Monate zuvor gemeinsam abgaben, gab es keinerlei Ratschläge an die ukrainische Arbeiter*innenklasse. Offenbar ist SozAlt selber nicht ganz wohl dabei, aus der Position der russischen Linken heraus gegenüber der Linken des vom eigenen Imperialismus angegriffenen Landes so aufzutreten. In einer Vorbemerkung zu ihrer Stellungnahme schreibt SozAlt:

»Dies ist kein leichter Text für uns. Es kann leicht den Anschein haben, als würden wir den Ukrainer*innen etwas aufbürden, was unter den Bedingungen des Krieges unmöglich zu erreichen scheint. Aber wenn man sich anschaut, wie sich der Krieg entwickelt und welche möglichen Auswege dieser haben kann, wer an ihm beteiligt und woran interessiert ist, dann ist es unmöglich, die radikalste Variante nicht vorzuschlagen. Weil gerade sie sich als am realistischsten erweisen kann. Die ukrainische Gesellschaft ist mobilisiert, zeigt eine titanenhafte Anstrengung und einen eisernen Widerstand. Wir erklären unsere Solidarität mit den Ukrainer*innen und schlagen ein kurzes sozialistisches Programm für das Erringen eines tatsächlichen Sieges vor.«

Aus der Perspektive der ukrainischen Linken scheint der Zusammenhang ihrer militärischen Selbstverteidigung mit der Revolution in Russland naheliegender zu sein. So zitierte die ak am 12. Mai 2022 Serhii Movchan von der Gruppe Operation Solidarity: »Einige ausländische Linke meinten, wir sollten unsere Waffen doch lieber gegen unsere Herrschenden richten und die Revolution beginnen. Ja, wie wäre es, wenn ihr schon mal anfangt? Und wenn dann auch in Russland die Waffen gegen den Kreml gerichtet werden, können wir gern nochmal sprechen, dann ziehen wir bestimmt auch nach.«

Am 26. Juli 2022 führte der ukrainische Sozialist Taras Bilous die Bedeutung der Revolution in Russland in einem Beitrag für Jacobin weiter aus: »Eine militärische Niederlage der russischen Invasion ist also auch im Interesse der Russ*innen. Nur eine massenhafte Bewegung für Veränderung im Land selbst kann die Möglichkeit einer Wiederherstellung stabiler Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine in der Zukunft eröffnen. Aber wenn Putins Regime siegt, wird diese Revolution für eine lange Zeit unmöglich sein. Seine Niederlage ist notwendig für die Möglichkeit progressiver Veränderungen in der Ukraine, Russland und der gesamten postsowjetischen Welt.«

Festzuhalten ist jedenfalls, dass es eine Voraussetzung für einen transnationalen Dialog in der derzeitigen Situation ist, als russische Linke die Niederlage des eigenen Imperialismus zu befördern.

Wie kann die Ukraine siegen?

Die Gruppe Sozialistitscheskaja Alternativa (Russland) schreibt am 7. Juli 2022:

Der Eroberungskrieg des russischen Imperialismus muss mit seiner Niederlage enden. Die Ukraine muss siegen, indem sie die Okkupanten von ihrem Territorium verjagt. Jedes andere Ergebnis würde nur ein Einfrieren des Krieges und seine spätere Fortsetzung bedeuten – wie das bereits 2015 der Fall war. Aber um zu siegen braucht das ukrainische Volk Unterstützung für eine Strategie der sozialen Revolution, und keine Hoffnung auf imperialistische »Verbündete«.

Die momentanen Verbündeten der Ukraine sind unzuverlässig. Sie haben nicht das Ziel, das Putin-Regime zu demontieren. Die Regierungen Kontinentaleuropas sind abhängig von russischen Energieressourcen, sie sind interessiert an einem »Frieden, der Putins Gesicht wahrt«. Macron und Scholz üben ständigen Druck auf Selenskij aus, sich mit einer Abtrennung eroberter Gebiete einverstanden zu erklären. Das würde es Deutschland und Frankreich erlauben, wenn auch nicht vollständig zu den Vorkriegsbeziehungen mit Putin, dem Kontrolleur der Rohstoffmacht, zurückzukehren, so doch diese zu ihren Bedingungen abzubrechen, mit einer komfortablen Übergangsperiode. Genau deshalb sabotieren die beiden größten Volkswirtschaften der EU seit Beginn des Krieges faktisch die Waffenlieferungen an die Ukraine.

Britannien und die USA wollen Russland »auf seinen Platz verweisen«. Ihr Interesse besteht darin, dass Putin sich im Krieg verstrickt, seinen Appetit einschränkt und in Verhandlungen über eine neue Aufteilung der Einflusssphären kommt, wiederum zu den Bedingungen dieser Länder. Sie sind nicht daran interessiert, den russischen Imperialismus als solchen zu beseitigen, zumal sie Instabilität in den von Russland kontrollierten Territorien befürchten: Zentralasien, Kaukasus, Belarus, Armenien. Dann könnten diese Länder unter noch größeren Einfluss Chinas, des Hauptkonkurrenten der USA, geraten. Deshalb stellen die USA und Britannien genau soviel Bewaffnung bereit, wie dafür gebraucht wird, Putins Soldateska auf den momentanen Linien zu halten, und lehnen die Bereitstellung von Angriffswaffen ab.

Die gesamte Hilfe der »Verbündeten« an die Ukraine wird ausschließlich von ihren eigenen politischen Absichten bestimmt, und nicht von dem Willen, den russischen Imperialismus zu beseitigen. Niemand von den »Verbündeten« braucht eine starke Ukraine, die fähig ist zu siegen. Eine solche Ukraine braucht aber die Arbeiter*innenklasse des Landes, die heute durch russische Bombardements umkommt, die unter dem Kollaps der Wirtschaft leidet und die als Teil der Armee und der Territorialverteidigung an der Front kämpft. Sind Selenskij und die nationale herrschende Klasse, die hinter ihm steht, fähig, die Ukraine zum Sieg zu führen?

Selenskij hat sich von Beginn des Krieges an öffentlich und sehr mutig der russischen Aggression entgegengestellt. Er stützt sich auf die antiimperialistische Stimmung des ukrainischen Volkes und der Arbeiter*innenklasse. Deshalb wird er gerade unterstützt – als das »kleinere Übel« im Vergleich zu Putin, obwohl er vor dem Krieg überhaupt nicht so populär war. Die Arbeiter*innenklasse verschließt noch die Augen vor den neoliberalen Reformen, die seine Regierung während des Krieges durchführt, und davor, dass Selenskij den Krieg nutzt, um Rechnungen mit politischen Gegner*innen zu begleichen. Das Problem besteht also darin, dass Selenskij ein prokapitalistischer Politiker bleibt.

Die Frage des Sieges der Ukraine stößt aber direkt auf das kapitalistische System. Die Ukraine steht vor der Gefahr eines langgezogenen »Erschöpfungskrieges«, der immer mehr Waffen, Panzer, Raketen und Geschosse erfordern wird, um die russische Armee aus den besetzten Territorien zu vertreiben. Und das wird die Abhängigkeit der Ukraine von unzuverlässigen Verbündeten, die ihr jederzeit den Rücken zuwenden und anfangen können mit dem russischen Regime zu verhandeln, immer mehr verstärken. Ja und wer kann schon garantieren, dass die schon bereitgestellten Ressourcen maximal effektiv eingesetzt werden?

In Russland könnte eine Orientierung auf eine rein militärische Lösung die rückständigsten Schichten der Gesellschaft noch mehr hinter dem herrschenden Regime zusammenschließen. Während die Oligarchen und die politische Spitze auf beiden Seiten der Front Wege finden, sich zu bereichern, verarmen und sterben die Massen. Die Arbeiter*innenklasse ist die einzige Klasse, die ein Interesse an der Suche nach einem nicht nur militärischen, sondern auch radikalen politischen Ausweg aus der vom Krieg geschaffenen Sackgasse hat. Für einen Sieg über den russischen Imperialismus braucht das ukrainische Volk Unterstützung für ein Programm der sozialen Revolution gegen das kapitalistische System.

Alle verbliebenen Ressourcen, die Produktion und die Infrastruktur müssen unter der Kontrolle der organisierten Arbeiter*innenklasse der Ukraine zusammengefasst werden. Es muss eine Kontrolle der Arbeiter*innen und Soldat*innen über die Verwendung der bereits gelieferten Waffen und weiterer Hilfsgüter hergestellt werden. Die Wirtschaft muss demokratisch so geplant werden, dass die Armee mit allem für den Sieg Nötigen versorgt wird und dass der Fall des Lebensstandards der Mehrheit der Ukrainer*innen umgekehrt wird. Man sagt uns, dass die Ressourcen der Ukraine alleine für einen Sieg über den russischen Imperialismus nicht ausreichen werden. Das ist wahr. Deshalb ist die internationale Solidarität mit der Ukraine so wichtig.

Die westliche Arbeiter*innenklasse sollte bereits jetzt, während die Regierung Selenskijs an der Macht ist, um eine Kontrolle über Lieferungen aller Arten von Hilfe, inklusive der Waffenlieferungen, kämpfen, um ihre Transparenz und Unentgeltlichkeit durchzusetzen. Solche Lieferungen können durch die Beschlagnahmung der Vermögen der russischen und ukrainischen Oligarchen finanziert werden.

Unzweifelhaft würde eine Revolution in der Ukraine die Arbeiter*innen aller Länder begeistern, ihre Anstrengungen für Hilfe zu verdoppeln. Sie würde einen Impuls für Widerstand in den besetzten Gebieten geben. Der Kampf der Arbeiter*innenklasse gegen den Krieg in Russland selbst würde nicht weniger beflügelt werden: die Bewegung, die heute fürchtet, nicht die Kraft zu haben, Putin herauszufordern, wird mit Generalstreiks in der Lage sein, das Putin-Regime zu demontieren und den Krieg zu beenden.

Christoph Wälz

ist gewerkschaftlich aktiv in der GEW Berlin. Er schreibt zu Organizing, Streikrecht und russischer Antikriegsbewegung.