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|ak 668 | Feminismus

Selbstorganisierte Sorgearbeit

Achtsamkeit und Konsorten sind nicht nur neoliberale Selbstoptimierung

Von Kuku Schrapnell

"Stapeln gern Steine aufeinander und gucken Löcher in die Luft, diese Queers", scheint sich manch ein Cheftheoretiker oder Berufdemonstrant dieser Tage zu denken.

Es ist 2021, und eigentlich ist die Diskussion über Achtsamkeit schon wieder vorbei. Vor zwei Jahren erschien »Das Glücksdiktat« von Eva Illouz und Edgar Cabanas in der deutschen Übersetzung. In linken Zeitungen wurde wieder eifrig Adorno zitiert, die ZEIT machte was Kritisches zu Yoga und mit »Achtsam Morden« gab es gleich noch einen deutschen Krimi-Comedy-Bestseller zum Thema. Bis weit ins bürgerliche Lager hinein war und ist man sich mehr oder weniger bewusst, dass sich hinter dem Achtsamkeitsgebot mal wieder nur der Neoliberalismus in neuem Gewand versteckt. Der alte Schlawiner lässt bekanntlich keine Gelegenheit aus, gesellschaftliche Verwerfungen ins Individuum zu verlagern. Der Befehl zum Glücklichsein passt hervorragend ins Ensemble der Selbstoptimierungen – direkt zwischen Dankbarkeitstagebuch, Meditation und einem Podcast über gesündere Ernährung oder Heilfasten.

Es wird noch schlimmer: In ihrem Buch »The Wellness Syndrome« führen die Autoren Carl Cederström und André Spicer aus, dass die ganze Wellness-Ideologie gemeinsames politisches und soziales Engagement gefährdet. Klar, wer den Arbeitstag mit drei Stunden Power-Yoga-Videos beendet, hat eben keine Zeit mehr für Demos, Plena und die Gründung eines Betriebsrats, denn selbst die beste Time-Management-App sorgt nicht dafür, dass der Tag plötzlich mehr als 24 Stunden hat. Wenn wir ganz genau hinschauen, scheinen die Qualitäten, die da selbstoptimiert werden sollen, eher für den Arbeitsmarkt gedacht zu sein, als für die Revolution. Das ist jetzt vielleicht etwas weit hergeholt, werden sich so manche denken, aber vielleicht werden die wahren Ursachen für die steigende Rate an Depressionen und Burnout, an Rückenproblemen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gar nicht durch die Einzelnen verursacht und können auch überhaupt nicht von den Einzelnen gelöst werden? Soweit zum Stand der Debatte hierzulande.

Neoliberaler Nebenwiderspruch

Warum das alles richtig ist, aber doch zu kurz greift, hat schon Laurie Penny 2016 in ihrem Essay »Life-Hacks of the Poor and Aimless« (auf deutsch »Die Wohlfühllüge«) beschrieben. Denn auch wenn der Kokoswasser-Smoothie eher für die Mittelschicht produziert wird, sind die Ideen von Selbstliebe und Selbsterfahrung, die die Linke heute so gerne als neoliberal verteufelt, auch aus prekären Zusammenhängen entstanden. So schrieb die schwarze Aktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde schon 1988: »Für mich selbst zu sorgen ist kein persönlicher Luxus. Es ist Selbsterhalt und damit ein Akt politischer Kriegsführung.« Es scheint, die große Paranoia, die immer und überall den Kapitalismus vermutet, verstellt so manchen Genoss*innen den Blick auf Widerständiges. Gerade queere, feministische und antirassistische Arbeit fängt häufig mit Selbstfürsorge und der Sorge für andere an – Sorgearbeit ist eben nicht nur emotionale und praktische Hilfe zum Überleben – sie ist auch wichtiger Teil des Widerstands.

Politisch-aktivistische Sorgearbeit wird besonders dort wichtig, wo der Zugang zu gesellschaftlich organisierter Fürsorge besonders stark reglementiert ist oder die Barrieren zu hoch sind. So berichten zum Beispiel gerade trans, inter und nicht-binäre Personen von Diskriminierung im Gesundheitssystem. Nicht selten wird deswegen der Gang in die nächste Praxis zumindest aufgeschoben. So gaben zuletzt bei einer Studie zu trans Gesundheit 13,2 Prozent der Befragten an, trotz Covid-19-Symptomen einen Test vermieden zu haben. Wenn existenzielle Formen der Hilfe wegfallen, weil die Einzelnen befürchten müssen dort diskriminiert, für krank erklärt und in ihren Anliegen gar nicht ernst genommen zu werden, dann ist es nicht weiter überraschend, dass sich aus der Community heraus alternative Angebote entwickeln.

Während laut der Mitte-Studie das Ausmaß offen homofeindlicher Einstellungen seit Jahren sinkt, geben nach einer Untersuchung des Instituts für Diversity- & Antidiskriminierungsforschung 46 Prozent der lesbischen, bisexuellen und schwulen Befragten an, am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung und Übergriffe erlebt zu haben. 60 Prozent der trans Beschäftigten berichten, ignoriert, ausgegrenzt und isoliert zu werden und über die Hälfte der inter Personen sagen aus, während der Arbeitszeit Voyeurismus und übergriffigen Fragen ausgesetzt zu sein. Wer all das zu seinem Alltag zählen muss, trägt häufig psychische Narben davon. Nicht zufällig ist unter Queers das Suizidrisiko deutlich höher als im Rest der Bevölkerung. So berichtet die Hälfte der trans Jugendlichen in den USA davon, schon Suizidgedanken gehabt zu haben. Jede*r Zehnte von ihnen hat schon versucht, diese Gedanken in die Tat umzusetzen.

Politisches Kümmern

Zwischen dem erfahrenen Leid im Alltag und dem fehlenden oder erschwerten Zugang zu medizinischer und sozialer Unterstützung ist der Griff zum Baukasten aus Achtsamkeit, Esoterik und positiver Psychologie eigentlich nicht erstaunlich. Als Hengameh Yaghoobifarah im Missy Magazine beschrieb, dass Sternzeichen und Astrologie durchaus subversive Momente haben können und dabei gerade eine queere und PoC-Perspektive betonte, gab es gerade von Seiten einer sich aufgeklärt gebenden studierenden und studierten Linken einen Shitstorm. Dabei ging es in »Mein Horoskop ist wichtiger als Deutschland« nie um eine Abkehr von politischer Praxis oder die Flucht in vermeintliche tiefere esoterische Wahrheiten, sondern um subversive kollektive Sorgepraktiken. Oder einfacher: um Spaß mit Freund*innen.

Angefangen beim gegenseitigen Kartenlegen und dem damit verbundenen Gespräch über die eigenen Hoffnungen, Sorgen und Wünsche, über den Austausch zu Strategien in brenzligen oder belastenden Situationen, bis hin zu geschlechtersensibler Körperarbeit für trans, inter und nicht-binäre Menschen, finden sich im Bereich queerer Sorge umeinander viele Dinge, die sich erst auf den zweiten Blick als emanzipatorisch herausstellen. Nicht zuletzt, weil viele Menschen, die alternative Sorgeleistungen beruflich anbieten, eben nicht den ungebrochenen Lebenslauf des im Schnitt selten queeren Mittelschichtslinken vorweisen können. Statt an der Universität landen sie eben häufig an Schulen für Heilpraktiker*innen, Mentaltrainer*innen oder ähnlichem.

Dass wir Queers deswegen nicht automatisch immun sind gegen die Gefahren der neoliberalen Selbstoptimierung, gegen die gruseligen Anteile der Esoterik-Bewegung oder den Wellnesswahn sollte auch klar sein. Das Problem ist aber nicht eins des richtigen Bewusstseins oder des richtigen Glaubens. Anstatt queere Sorgepraktiken zu kritisieren, sollte es darum gehen, dass wir nicht durch alltägliche Gewalt kaputt gemacht werden. Oder darum, dass wir eine Gesundheitsversorgung kriegen, die unsere Krankheiten behandelt, statt uns selbst als Krankheiten zu betrachten. Es sollte mehr um die Anliegen unserer Kämpfe gehen und weniger darum, darauf zu gucken, was wir tun, um Kraft für diese Kämpfe zu haben. Und wer weiß, vielleicht ist da sogar die ein oder andere ganz gute Strategie mit dabei, von der auch so manche andere Linke noch was lernen können.

Kuku Schrapnell

ist neben ihrem neuen Job als schwule Sex-Kommunistin auch Trans-Aktivistin, gut aussehend und Wahl-Ostdeutsche.