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Paradebeispiel der Klassenjustiz 

Die Initiative Freiheitsfonds hat binnen zwei Jahren 911 Menschen aus dem Gefängnis befreit, die dort wegen des Fahrens ohne Ticket einsaßen

Von Tatjana Söding

Für Menschen, für die ein S-Bahn-Ticket unbezahlbar ist, wiegt eine Geldbuße wie ein Strick um den Hals. Foto: Maksym Kaharlytskyi/Unsplash

Die Freiheit von 73 Menschen kostete am 5. Dezember rund 41.000 Euro. Auch am sechsten »Freedom Day« des Freiheitsfonds konnte die Initiative bundesweit Menschen freikaufen, die wegen des Fahrens ohne Fahrschein im Gefängnis einsitzen. Insgesamt, so Gründer Arne Semsrott gegenüber ak, konnten seit Gründung des Fonds Ende 2021 die Ersatzfreiheitsstrafen von 911 Menschen für knapp 800.000 Euro beglichen werden. Auf der Website der Initiative ist von der »größten Gefangenenbefreiung der bundesdeutschen Geschichte« die Rede. 

Menschen freikaufen – das klingt nach einem absurden Auswuchs von Philanthropie oder einem Relikt der Geschichte. Doch das Engagement des Freiheitsfonds und seiner Spender*innen führte dazu, dass insgesamt 166 Haftjahre »aufgelöst« werden konnten. Ein historisches Relikt ist ohne Zweifel die Rechtslage, nach der Personen, die ohne Fahrschein erwischt werden, hinter Gitter müssen. »Erschleichen einer Leistung« heißt diese Straftat im juristischen Jargon und ist durch Artikel 265a des Strafgesetzbuches festgeschrieben, der wiederum auf Artikel 8 der Strafgesetznovelle aus der Zeit des Nationalsozialismus im Jahr 1935 zurückgeht. 

Doppelbestrafung von Armutsdelikten 

Fahren ohne Fahrschein ist in den meisten Fällen, in denen eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wird, ein Armutsdelikt – und ein Teufelskreis. Menschen können sich oft die 2,74 Euro nicht leisten, die das Einzelticket im Jahr 2021 in Deutschland durchschnittlich im Stadtbereich kostete. Viele von ihnen sind auf den ÖPNV jedoch maßgeblich angewiesen. Betroffene berichten von Fahrten zur Arbeit, zur Ärztin oder zur Entzugsstation. Viele nutzen den ÖPNV auch, um Münzen zu erbitten. 

Werden sie wiederholt ohne Fahrschein erwischt, folgt die Doppelbestrafung: mit dem erhöhten Beförderungsentgelt von 60 Euro, das an die Verkehrsbetriebe geht, und mit einer Strafanzeige wegen des Erschleichens von Leistungen, die in der Regel mit einer Geldstrafe geahndet wird. 

Doch für Menschen, für die ein einfaches ÖPNV-Ticket unbezahlbar ist, wirkt eine Geldbuße wie ein Strick um den Hals. Wer zahlungsunfähig ist, muss hinter Gitter. Laut dem Freiheitsfonds sind 87 Prozent der Betroffenen erwerbslos, 15 Prozent suizidgefährdet und weitere 15 Prozent haben keinen festen Wohnsitz – die Gerichtspost, die einer Inhaftierung vorausgeht, erreicht sie also nicht einmal. 

Fahren ohne Ticket ist ein Armutsdelikt – und ein Teufelskreis.

Die Briefe der Betroffenen, die anlässlich des Freedom Days am Berliner Ostkreuz von Künstler*innen und Aktivist*innen vorgelesen wurden, veranschaulichen noch weitere Dimensionen der Prekarität: Alkohol- und Drogensucht, unbehandelte Epilepsien und Angststörungen. »Die Zeit im Knast, in Zellen mit Menschen, die oft weit schlimmere Straftaten begangen haben, abgeschirmt von sozialen Kontakten, ohne Zugang zu Entzugsangeboten oder sozialer Arbeit, sei für viele der Betroffenen traumatisierend und ihr Alltag nach der Haft noch schwerer zu bewältigen«, sagt Semsrott. Die sozio-ökonomische Existenz dieser Menschen prekär zu nennen, ist somit eine maßlose Untertreibung. Die Betroffenen sind Leidtragende einer Klassenjustiz, in der Armut mit Freiheitsentzug bestraft wird. 

Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes ist mit seinem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz so etwas wie das Herzstück des modernen deutschen Rechtsstaates. Die Realität von 7.000 Menschen, die wegen des Fahrens ohne Fahrschein jährlich inhaftiert werden, wirft jedoch einen dunklen Schatten auf dieses Gleichheitspostulat. Auch im Vergleich mit der Ahndung von Fehlverhalten im Autoverkehr wird die Ungerechtigkeit deutlich: Fährt man mit bis zu 1,1 Promille Alkohol im Blut, daddelt am Handy, überfährt eine rote Ampel oder missachtet das Überholverbot, so gilt das nicht als Straftat, sondern lediglich als Ordnungswidrigkeit. Hier müssen weder 60 Euro gezahlt werden noch kommt es zu einer Strafanzeige. Obwohl diese Ordnungswidrigkeiten laut Prognosen des ADAC in diesem Jahr zu etwa 2.730 Todesfällen bei Verkehrsunfällen führen, wiegt das Fahren ohne Fahrschein juristisch schwerer. Auch hier hält der Rechtsstaat seine schützende Hand über reichere Menschen, die sich Autos und die Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten leisten können.

Hinzu kommt, dass die Kontrolleur*innen im öffentlichen Nahverkehr oft prekär beschäftigt sind und durch die Bezahlung auf Provisionsbasis dazu angehalten werden, wirklich jede*n zu erwischen, die*der ohne Ticket fährt. »Es ist ein System, in dem arme Menschen gegeneinander ausgespielt werden«, stellt Semsrott nüchtern fest. 

Reförmchen statt Gerechtigkeit

An zumindest diesem Umstand könnte sich in absehbarer Zeit etwas ändern. So hatte Justizminister Marco Buschmann (FDP) angekündigt, das Fahren ohne Ticket ebenfalls als Ordnungswidrigkeit einstufen zu wollen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung: der hohe Aufwand, den die Behörden haben, Menschen ohne Ticket hinter Gitter zu bringen. Mit durchschnittlichen Kosten von 150 Euro pro Insass*in und Tag kosten die Ersatzfreiheitsstrafen den Staat 200 Millionen Euro jährlich – nicht enthalten sind hier noch die Verfahrenskosten und solche für Anwält*innen. 

»Die Justizvollzugsanstalten sind komplett überlaufen und händigten teilweise schon am Eingang das Antragsformular des Freiheitsfonds an Betroffene aus, mit dem diese die Bezahlung ihrer Geldstrafe anfordern können«, so Semsrott. Insgesamt habe der Fonds dem Staat bereits 112 Millionen Euro erspart. Doch auch wenn die geplante Reform ein erster Schritt wäre, reiche sie nicht einmal aus, um die strukturelle Ungerechtigkeit, abgesehen von der Klassenfrage der Mobilitätsnutzung, monetär zu begleichen: Denn im Gegensatz zum Falschparken kommt die Geldbuße für die Ordnungswidrigkeit für Menschen, die ohne Ticket fahren, auf das erhöhte Beförderungsentgelt obendrauf. 

Dass es auch anders gehen kann, zeigt die Stadt Düsseldorf. Nachdem der Stadtrat im November letzten Jahres unverbindlich beschlossen hatte, das Fahren ohne Ticket nicht mehr zur Anzeige zu bringen, führte zivilgesellschaftlicher Aktivismus der Straßenzeitschrift fifty-fifty und Betroffener dazu, dass die lokale Rheinbahn das Fahren ohne Fahrschein seit Herbst dieses Jahres nicht mehr ahndet. 

Für den Freiheitsfonds ist das der richtige Weg. Allen voran fordert er seine Selbstabschaffung, also niemanden mehr für das Fahren ohne Fahrschein freikaufen zu müssen. Unterstützt wird der Fonds dabei auch vom 9-Euro-Fonds. Dieser hat sich im Widerstand gegen die Abschaffung des 9-Euro-Tickets durch FDP-Verkehrsminister Volker Wissing im letzten Sommer gegründet. Die Mitglieder des Fonds zahlen die neun Euro nun nicht mehr an die Verkehrsbetriebe, sondern in einen Solidaritätstopf. Wird man beim Fahren ohne Ticket erwischt, zahlt der Fonds das Knöllchen. Mit der Einführung eines Solidaritätstickets geht der 9-Euro-Fonds nun einen weiteren Schritt: Werden Mitglieder Zeug*in davon, wie eine Person beim Fahren ohne Ticket erwischt wird, kann auch dieses Knöllchen übernommen werden. Die Solidarkassen der beiden Fonds ermöglichen es im Kleinen, die strukturelle Ungleichheit beim Zugang zur Mobilität in Deutschland aufzuheben. Ein völlig kostenloser ÖPNV als Daseinsvorsorge, wie ihn schon die Umweltbewegung der 1970er Jahre forderte, wäre wohl der nächste Schritt.

Tatjana Söding

forscht zusammen mit dem Zetkin Collective über die Zusammenhänge zwischen Ökofaschismus und Kapitalismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.