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|ak 670 | Diskussion

Orientierungshilfe für die Verwirrten

Die Jerusalemer Erklärung zu Antisemitismus ist auch ein Angebot an die Linke in Deutschland

Von Jens Renner

Anfang Februar hat der Deutsche Fußballbund (DFB), laut Wikipedia der mit mehr als sieben Millionen Mitgliedern »größte nationale Sport-Fachverband der Welt«, den Kampf gegen den Antisemitismus für sich entdeckt. Im Beisein des DFB-Vizepräsidenten Günter Distelrath übernahm die DFB-Kommission für Gesellschaftliche Verantwortung die 2016 formulierte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA): »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.« 2017 wurde sie von der Bundesregierung übernommen und um einen Satz erweitert: »Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.« Nun also folgten die deutschen Fußballfunktionäre. Im Anschluss an ihren Beschluss bezeichnete Distelrath es als »Selbstverständlichkeit, dass wir als DFB die Antisemitismus-Definition der IHRA übernehmen. Dadurch schaffen wir auch mehr Sicherheit beim Erkennen antisemitischen Verhaltens.«

Das ist eine gewagte These. Denn der Nutzen der IHRA-Definition für das Erkennen und die Bekämpfung von Antisemitismus ist seit Längerem umstritten, vor allem, weil sie so vage formuliert ist. Anwendbar wird sie erst durch die angefügten elf Beispiele, von denen sieben einen Bezug zu Israel und zum Nahostkonflikt haben – eine folgenreiche Schwerpunktsetzung: »Ganz wesentliche andere Entstehungskontexte und Traditionslinien von Antisemitismus, insbesondere der Rechtsextremismus oder das Christentum, finden keine oder nur eine beiläufige Erwähnung«, kritisiert Peter Ullrich in seinem Gutachten zur IHRA-Definition, das er 2019 im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von medico international verfasste. (Auszüge in ak 654)

Doppeltes Ziel

Ullrich gehört auch zu den Autor*innen einer neuen Antisemitismus-Definition, die am 25. März der internationalen Öffentlichkeit vorgestellt wurde: der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA), unterzeichnet von mehr als 200 Wissenschaftler*innen vor allem aus Israel, den USA und Deutschland. Die Erklärung besteht aus Vorbemerkung, Definition, Leitlinien sowie Fragen und Antworten zu Entstehung, Motiv und Verständnis des insgesamt vier Seiten langen Textes. Die Antisemitismus-Definition der JDA lautet: »Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).« Konkretisiert wird sie in 15 Leitlinien, die in drei gleich lange Abschnitte unterteilt sind: »A. Allgemein«, »B. Israel und Palästina: Beispiele, die als solche antisemitisch sind« und »C. Israel und Palästina: Beispiele, die nicht per se antisemitisch sind«.

In der Vorbemerkung wird klar formuliert, dass die JDA eine Alternative zur IHRA-Definition bieten will. Letztere sei »in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen« und habe daher »Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben«. »Doppeltes Ziel« der JDA, schreiben die Verfasser*innen, sei es, »(1) den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittenen Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren«.

In Deutschland druckten konservative Blätter ihre vorhersehbaren Verrisse, flankiert von Polemiken (ehemals) linker Autor*innen aus dem Lager der »bedingungslosen Israel-Solidarität«.

Die sich an die Veröffentlichung der JDA anschließende Debatte bezog sich vor allem auf Abschnitt C der Leitlinien. Aufgelistet unter den »Beispielen, die nicht per se antisemitisch sind«, finden sich auch die »Unterstützung der palästinensischen Forderungen …, wie sie im Völkerrecht verankert sind«; »Kritik oder Ablehnung des Zionismus«; »faktenbasierte Kritik an Israel als Staat«; »Boykott, Desinvestition und Sanktionen« gegen Israel; auch »Kritik, die von manchen als übertrieben oder umstritten oder als Ausdruck ›doppelter Standards‹ betrachtet wird«. Hier komme es auf den Kontext an und nicht darauf, ob eine Aussage richtig und vernünftig sei. Dieser Maßstab soll auch für die internationale Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen/BDS) gelten. Auch der »Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid« ist für die JDA nicht per se antisemitisch.

Vor allem solche Aussagen riefen heftige Abwehrreaktionen hervor. In Deutschland druckten national-konservative Blätter wie FAZ, Welt oder Cicero ihre vorhersehbaren Verrisse, flankiert von Polemiken (ehemals) linker Autor*innen aus dem Lager der »bedingungslosen Israel-Solidarität«. Stilbildend hierfür ist ein Text von Matthias Küntzel – geschrieben als »Intervention« für das Online-Magazin Perlentaucher und in Auszügen übernommen vom Blog der Jungle World. Küntzels vernichtendes Urteil: Die Autor*innen der JDA wollten »einen Freibrief für israelbezogenen Antisemitismus«; zusammengeführt hätte sie »der politische Wille, den Israelhass vom Stigma des Antisemitismus zu befreien«.

Am Ende seines Pamphlets steht die leicht verklausulierte Forderung, das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung zu schließen. Dessen »alte und neue Führung« sei »besonders engagiert« beteiligt an der »Kampagnen-Serie« gegen eine heftig umstrittene Entschließung des Deutschen Bundestages, die Küntzel als nicht hinterfragbare politische Richtlinie verteidigt: die am 17. Mai 2019 verabschiedeten Drucksache 19/10191 »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«, beschlossen mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen. Durch die exklusive Verurteilung erscheint der marginale deutsche BDS-Ableger als besonders gefährlicher antisemitischer Akteur. Wo die Entschließung konsequent umgesetzt wird, geraten auch Menschen und Organisationen ins Visier, die mit Menschen und Organisationen kooperieren, die mit BDS kooperieren. Kritik an Zielen und Methoden von BDS, selbst Distanzierung hilft den Betroffenen nicht gegen Stigmatisierung: ein klassischer Fall von »Kontaktschuld«!

Lesenswerte neue Bücher

Der von Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband »Streitfall Antisemitismus« wird seit seinem Erscheinen im Sommer 2020 kontrovers diskutiert. Der Versuch einer Bestandsaufnahme deutscher Antisemitismusdebatten gelingt darin nur teilweise. Mancher Text changiert zwischen Polemik und wissenschaftlichem Aufsatz. Über die »unheilige Allianz von Rechtspopulisten mit der israelischen Regierung«, schreiben Shimon Stein und Moshe Zimmermann. Micha Brumliks Klage über einen »neuen McCarthyismus« in Zusammenhang mit Antisemitismusvorwürfen klingt überzogen. Brumliks eigenes Büchlein »Antisemitismus« lässt sich mit mehr Gewinn lesen. Auf einen historischen Abriss folgen Überlegungen zur »strukturellen Ähnlichkeit des Antisemitismus im späten Kaiserreich mit der heutigen Islamophobie« und zum »Widerspruch zwischen einer anti-antisemitischen und einer (auch und gerade postkolonialen) antirassistischen Bildungsarbeit«. Deutlich ausführlicher ist Peter Schäfers »Kurze Geschichte des Antisemitismus«, beginnend mit der griechisch-römischen Antike und endend in einem nicht gerade optimistischen Ausblick. Der »durch alle Epochen hindurch präsente Grundtenor« des Antisemitismus sei »die ständige Ambivalenz zwischen Hass auf die Juden und Angst vor den Juden«. Eine Gebrauchsanweisung für respektvolle Alltagskommunikation bietet Ronen Steinkes »Antisemitismus in der Sprache« – mit Beispielen für »gutes« wie für »schlechtes Jiddisch«, jüdische Ironie und antisemitische Schmähungen. Nicht nur Anglizismen, auch Jiddismen würden die deutsche Sprache bereichern. »Manchmal«, schreibt Steinke, »ist das treffendste Wort – Schlamassel«.

Wolfgang Benz (Hg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Metropol Verlag, Berlin 2020. 328 Seiten, 24 EUR.
Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten. Philipp Reclam jun., Ditzingen 2020. 102 Seiten, 10 EUR.
Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus. C.H. Beck, München 2020. 335 Seiten, 26,95 EUR.
Ronen Steinke: Antisemitismus in der Sprache. Warum es auf die Wortwahl ankommt. Dudenverlag, Berlin 2020. 63 Seiten, 8 EUR.

Deutschlands Superheld der Antisemitismusbekämpfung

Ungeachtet aller Kritik ist für den seit Mai 2018 amtierenden Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, Drucksache 19/10191 verbindliche Handlungsanweisung: Sie will er umsetzen und mit Leben erfüllen. In einem Interview des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (bundesregierung.de, 5.8.2020) stellt er einerseits fest: »Die Mehrheit der antisemitischen Straftaten … wird im Internet begangen und kommt von rechts.« Dennoch müsse man sich »davor hüten, Priorisierungen vorzunehmen.« Denn: »Auch wenn … der rechte Antisemitismus derzeit eine große tödliche Gefahr darstellt«, müssten alle Formen von Antisemitismus gleichermaßen bekämpft werden: »Das gilt auch für Antisemitismus, der von Links kommt, von islamistischer Seite oder auch aus der Mitte der Gesellschaft.« Erschreckend sei, dass sich »Rechtsextreme, Linksextreme, auch Islamisten einig sind im Hass auf Israel, im Hass auf Juden.« Dass radikale Linke (»Linksextreme«) Juden hassen, gehört für den Beauftragten und die mit seiner Befragung von der Regierung beauftragten Medienprofis zu den Gewissheiten der anti-extremistischen Staatsdoktrin; Belege und kritische Nachfragen erübrigen sich.

Bei allem Unheil sieht Felix Klein aber auch Positives: »Da ist zunächst die Schaffung meines Amtes im Jahr 2018 zu nennen.« Das und die Berufung eines Beratungskreises für die Bundesregierung hätten nachhaltige Folgen gehabt: »Antisemitismusforschung ist jetzt auf dauerhafte Füße gestellt worden.« Der Superheld der Antisemitismusbekämpfung ist mit sich zufrieden. Auch in dem Fall, der ihn international in die Schlagzeilen brachte, würde er nach eigener Aussage alles noch einmal genauso machen. Im vergangenen Jahr hatte Klein den Historiker und Theoretiker des Postkolonialismus, Achille Mbembe, unter Antisemitismusverdacht gestellt und dessen geplanten Eröffnungsvortrag auf der Ruhrtriennale abgesagt. Mbembe, der in Kamerun geboren wurde und in Südafrika lehrt, hatte u.a. an einem Sammelband mitgewirkt, dessen Erlöse an BDS gingen. Außerdem soll er an akademischen Boykotten südafrikanischer Universitäten gegen israelische Wissenschaftler*innen beteiligt gewesen sein. Mindestens missverständlich klingen Formulierungen, in denen er das südafrikanische Apartheidsregime und die Shoah als »zwei emblematische Manifestationen eines Trennungswahns« bezeichnet. Daniela Janser, die aus der entsprechenden Passage zitiert, kritisiert hier »eine Unschärfe in Mbembes Denken«. Zugleich hält sie fest: »Durch die Antisemitismusvorwürfe wurde die überfällige Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialverbrechen, für die Mbembe und sein Werk exemplarisch stehen, hart ausgebremst.« (WOZ Nr. 14, 8.4.2021)

Dass Antisemitismus und Rassismus gleichermaßen bekämpft werden müssen, ist auch eine Grundüberzeugung der JDA-Unterstützer*innen. Dabei vertreten sie »die Auffassung, dass Antisemitismus einige spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist.« Was Rafael Seligmann nicht von der Behauptung abhält, sie würden Judenhass lediglich als »eine Variante des Rassismus verstehen«; die als »Orientierungshilfe« gedachte JDA verwirft Seligmann als Werk »nützlicher Idioten der Antisemiten«. (Cicero, 29.3.2021) Angesichts solcher Reaktionen erweist sich die Hoffnung der JDA-Initiator*innen auf einen »Raum für die offene und respektvolle Diskussion« mit dem Ziel, »alle Kräfte im Kampf gegen Antisemitismus breitestmöglich zu vereinen«, als weitgehend illusorisch. Schade.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.