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Wieder Straße, wieder Ausstand

In Iran finden die größten Streiks seit Jahrzehnten statt – Arbeiter*innen haben einiges dazugelernt

Von Mina Khani

Drei Männer in Overalls, mit Helmen und Masken halten Schilder mit persischem Text hoch
Anders als in früheren Streiks zeigen die Arbeiter des Ölsektors diesmal kein Gesicht. Das macht es der Repression des Staates schwieriger. Foto via Twitter

Anfang August befanden sind die Arbeiter der Öl- und Gasindustrie Irans (wegen der systematischen Geschlechtstrennung sind es ausschließlich Männer) seit mehr als 40 Tagen im Streik: Kampagne 1400 nennen sich die unsichtbaren Organisatoren dieser Streiks, bezogen auf das Jahr 1400 aus dem iranischen Kalender. Gleichzeitig ist es erst wenige Wochen her, dass sich während des »Wasseraufstandes« (so nannten es viele in den sozialen Netzwerken) Menschen in der Provinz Chuzestan/Al Ahwaz gegen die systematische Unterdrückung und innere Kolonialisierung von Araber*innen in dem Gebiet und letztendlich die Verarmung des Gebietes auflehnten.

Lehren aus 2018

Kurz nach der Präsidentenwahl in Iran im Juni fingen die größten Streiks in der Geschichte der Islamischen Republik in einem der wichtigsten Industriebereiche, der Petrochemie, an. Sehr schnell haben sich Arbeiter*innen weiterer Sektoren wie der Auto- und Rohzuckerindustrie dieser Kampagne angeschlossen. Jetzt schlägt auch das Herz der progressiven Streiks der letzten Jahre wieder: Haft Tappeh, die größte Rohzuckerfabrik des Landes, die auch in Chuzestan ihren Sitz hat. Die Bilder der Streikenden und die langen Wochen, die der Ausstand bereits andauert, zeugen davon, dass die Streiks dieses Mal nicht nur organisierter als zuvor sind, sondern auch, dass die Arbeiter*innen in den vergangenen Jahren viel gelernt haben. Sie zeigen beispielsweise weniger Gesichter, die Organisatoren bleiben unsichtbar.

Gelernt haben die Arbeiter*innen dabei vor allem aus den großen Streiks der Haft Tappeh und Fulad, der Rohzucker- und Metallindustrie in Chuzestan: Im November 2018 hatten Arbeiter*innen von Haft Tappeh und Fulad gestreikt und dabei unter anderem Arbeiterräte und Selbstverwaltung der Fabriken gefordert. Damals wurden viele Streikende und Aktivist*innen, darunter Ismail Bakhshi, Meytham Almahdi, die leitenden Figuren der Arbeiter*innenbewegung dieser Jahre in Iran, und Sepideh Gholian, eine wichtige Schlüsselfigur bei den Kämpfen und die einzige Frau unter den Verhafteten von Haft Tappeh, zusammen mit 40 anderen festgenommen. Ismail, Meytham und Sepideh wurden durch Folter gezwungen, gegen sich selbst vor laufenden Kameras auszusagen.

»Als wir (die Arbeiter*innen von Fulad und Haft Tappeh, Anm. der Redaktion) versucht haben, uns für das Recht auf unabhängige Gewerkschaften und Arbeiterräte zu organisieren und dafür unsere Gesichter zeigten, große Reden innerhalb der Fabriken hielten und sogar die Fabrik Fulad 2018 einen Monat lang selbstverwaltet haben, haben wir die reine Repression des Staates als Antwort zurückbekommen«, sagt Meytham Almahdi heute. Er musste nach seiner Freilassung aus Iran fliehen, lebt in Europa und spielt eine wichtige Rolle bei der Analyse und Berichterstattung über die Streiks in Iran. Er erklärt: »Jetzt haben die Organisatoren dieser Streiks innerhalb der Öl- und Gasindustrie daraus gelernt, sich mehr im Hintergrund zu verstecken und mehr die Gesamtheit der Streiks sichtbar zu machen als sich selber. Die Streikenden versammeln sich dieses Mal nicht auf der Straße oder innerhalb der Fabriken, sondern sie sind einfach zu Hause geblieben, so bleibt der Repressionsapparat des Systems mit seinen Gewehren alleine auf der Straße stehen und weiß nicht, wen er inhaftieren soll oder mit wem er sich zu Verhandlungen treffen muss.«

Der Wasseraufstand

Ein paar Wochen nach Beginn dieser Streiks, die Ausdruck der Spaltung zwischen korrupter Bourgeoisie und der Arbeiter*innenklasse in Iran sind, hat der »Wasseraufstand« eine andere Spaltung sichtbar gemacht: die ethnische Spaltung, die systematische Verarmung der Provinz Chuzestan/Al Ahwaz und die innere Kolonialpolitik des Staates gegenüber Araber*innen in diesem Gebiet. »Ich habe Durst« – auf Arabisch – ist die Parole dieses Aufstandes. Angefangen hatte der Aufstand damit, dass sich die ausschließlich arabischen Farmer*innen in Chuzestan/Al Ahwaz vor dem Gebäude der Provinzregierung versammelt hatten, um gegen fehlenden Zugang zu Wasser zu protestieren. Sehr rasch schlossen sich andere Städte in der Provinz den Protesten an. Allein die Tatsache, dass dabei die Parole »Ich habe Durst« auf Arabisch gerufen wurde, hat sowohl bei den nationalistischen Befürworter*innen des Staates als auch bei den Nationalist*innen innerhalb der Opposition für Unruhe gesorgt. Verwahrt euch gegen »Separatisten«, hieß es von beiden Seiten. »Separatismus« ist der staatliche Vorwurf, der vielen ethnischen Minderheiten in Iran gemacht wird, wenn sie sich für ihre Rechte einsetzen.

Die Streiks sind Ausdruck der Spaltung zwischen korrupter Bourgeoisie und Arbeiter*innenklasse, der Wasseraufstand überdies der ethnischen Spaltung in Chuzestan.

»Ich habe Durst« bedeutet konkret, dass der Staat mit seiner ethnozentristischen Umweltpolitik zur Dürre in dem Gebiet beigetragen hat. »Iran ist eines der Länder mit sehr vielen Staudämmen. Diese sind ein Grund für die Dürre in dem betroffenen Gebiet. In den letzten Jahren hat der Staat mehrere Fabriken in dem Gebiet hochgezogen, die nur die Aufgabe haben – ohne dass dabei jegliche Standards eingehalten würden –, das Wasser aus den Gebieten rauszutransportieren, um Fabriken zu versorgen, die teilweise in anderen Provinzen stehen«, sagt Meytham Almahdi, der jahrelang selbst in der Region gelebt und gearbeitet hat. »Es ist die Verkopplung zweier Politiken. Die eine ist die rassistische ethnozentristische Politik des Staates gegen Araber*innen dieses Gebietes. Die andere ist die ausbeuterische Politik des Staates auf dem Rücken der Arbeiterklasse.«

Der Ahwaz Menschenrechtsorganisation zufolge sind bisher mindestens acht Menschen, darunter mehrere Jugendliche, bei den Protesten vom Staat getötet und mehr als 200 verhaftet worden. Doch die Streiks in der Öl- und Gasindustrie und bei Haft Tappeh dauern weiter an, und immer mehr geht es dabei auch um die übergeordneten politischen Missstände in Iran. Als der staatliche Imam Anfang August bei den Protesten in Haft Tappeh auftauchte, riefen die Protestierenden: »Im Namen der Religion haben sie uns ausgeraubt.«

Der Tag darauf, der 6. August, war übrigens jener der Amtsübernahme des neuen Präsidenten Ebrahim Raisi, der zur Todeskommission gehörte, die Massaker an politischen Gefangenen im Jahr 1988 zu verantworten hatte. Jene Todeskommission, die das Leben Tausender Menschen auf dem Gewissen hat. 

Direkt nach einer Präsidentenwahl, an der sich große Teile der Bevölkerung gar nicht beteiligten und bei der ein Mörder neuer Präsident wurde, zeigen sich bedeutende Teile der Gesellschaft in Iran angriffslustig. Eine arabische Frau, deren Stimme während der Streiks und des Aufstandes als »die Stimme des Gebiets gegen die Repression des Staates« bezeichnet wird, sagt in einem dunklen Video zu den Repressionseinheiten, die während des Wasseraufstandes die Proteste niederschlagen: »Herrschaft! Warum schlägst du? Dieser Protest ist doch friedlich! Warum schlägst du? Dein Wasser wurde doch nicht geraubt! Deine Erde wurde doch nicht ausgeraubt! Warum schießt du?«

Mina Khani

ist iranische Publizistin und linke Feministin. Sie lebt in Berlin.