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|ak 719 | Diskussion

Wer die Roten Gruppen kritisieren will, sollte Lenin richtig lesen

Anmerkungen zu einer unproduktiven Debatte

Von Ewgeniy Kasakow

Eine Statur auf einem Sockel. Die Figur hält eine Rede, dahinter Hochhäuser.
Ist seine Theorie Schuld am neuen Leninismus? Statue in Belarus. Foto: VKras / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Ein alter Witz aus der UdSSR geht folgendermaßen: Ein Sowjetmensch steht vor einem Plakat, auf dem steht »Lenin ist tot, aber sein Werk lebt weiter!« und murmelt vor sich hin: »Besser wäre es umgekehrt, er würde weiter leben und sein Werk wäre tot.« Nachdem der Staat, wo dieser Witz entstand, unterging, sah es so aus, als wären nun beide tot: Lenin und sein Werk. Selbst in der radikalen Linken der Bundesrepublik galten alle Spielarten des Leninismus als schwer zu legitimieren. Neuerdings vernimmt man jedoch von überall her Klagen über das Aufkommen Roter Gruppen. Diese Gruppen pfeifen auf mühsam etablierte Gepflogenheiten der Szene und punkten damit auch noch bei der jungen Generation. Die Anzahl von Beiträgen, die mit diesem Phänomen abrechnen wollen, wächst von Monat zu Monat – doch leider ist ein Großteil untauglich, um den Leninismus zu verstehen und ordentlich zu kritisieren.

Historische Positionen

Der Verweis auf die in der Tat blutige Bilanz realsozialistischer »Übergangsgesellschaften« zwischen 1917 und 1990 ist keine Widerlegung von Lenins Theorie. Man sollte sich schon die Mühe machen nachzuweisen, wie sie zu solchen praktischen Konsequenzen geführt hat.

Auch der Verweis auf skandalöse Positionen verschiedener ML-Richtungen und Gruppen quer durch die Geschichte ist keine Widerlegung der ML-Theorie. Da jede historische Situation laut deren Lehre ganz »konkret« und zugleich »dialektisch« bewertet gehöre, finden sich in der Geschichte Belege in alle Richtungen. Wenn heute jeder Old-School-Antiimperialist den Zerfall von Jugoslawien, die Abwicklung der DDR oder die bundesdeutsche Politik in der Vertriebenenfrage beklagt – dann in völliger Amnesie, dass die Kommunistische Internationale (Komintern) zwischendurch für die Unabhängigkeit von Kroatien und die »Selbstbestimmung« der Sudetendeutschen eintrat und Genosse Stalin ursprünglich lieber ein neutrales Gesamtdeutschland als ein sozialistisches Mitteldeutschland haben wollte. Für die Entstehung und Verteidigung des Staates Israel hat die stalinistische UdSSR mehr gemacht als die gesamte Frankfurter Schule in all den Jahren ihres Bestehens. ML-Gruppen können in den Kämpfen der LGBT+/Queer-Bewegung eine kleinbürgerliche Ablenkung vom Klassenkampf sehen oder auch sich um deren Radikalisierung bemühen – unmittelbar aus Lenins Theorie folgt keine der beiden Optionen. Es kommt darauf an, welchen Reim sich die verschiedenen ML-Organisationen auf die aufkommenden gesellschaftlichen Situationen und Bewegungen machen.

Das Wiederaufkommen der ML-Gruppen wirkt wie ein Rätsel auf ihre Gegner*innen.

In vielen Beiträgen geht es gar nicht um die Fehler der kritisierten Richtung, sondern um deren Konsequenzen, die daran gemessen werden, wie gut sie zur eigenen Praxis passen. Einige Kritiker*innen Lenins lehnen ihn ab, ohne ihn jemals gelesen zu haben. Zugegeben, in den Verkaufskolonnen trotzkistischer Zeitungen und maoistischer Sportgruppen finden sich ebenfalls genügend Menschen, die von der Richtigkeit von ihnen nie gelesener Werke überzeugt sind. Aber auch die Kritik an den Roten Gruppen basiert häufiger auf den Beobachtungen ihrer Alltagspraxis als auf der Auseinandersetzung mit ihren Thesen oder Texten.

Ist Lenin wirklich, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird, ein Vertreter »personifizierender Kapitalismuskritik«, wenn er feststellt: »Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration (des Kapitals) sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen« (AW I/827)? Und andererseits: Lassen sich die imperialistischen Kriege, die zwischen Staaten geführt werden, aus der veränderten Rolle des Finanzkapitals erklären? Und woher kommt die ganze Konkurrenz auf dem Markt, wenn doch, laut Lenin, seit über hundert Jahren der Monopolkapitalismus herrscht? Existiert ein Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Reformismus, und wenn ja welcher?

Lenins Argumente zu prüfen, ist nicht dasselbe, wie die Fragen mit den Verweisen auf seine Erfolge oder die Gewalt der Bolschewiki wegzuwischen. Konkret auf die Thesen einzugehen, ist nochmal was anderes, als sie mit Adjektiven wie »unterkomplex«, »autoritär«, »dogmatisch« oder »unzeitgemäß« abzustempeln.

Organisationsfragen

Ein konstanter Grund für die Bewunderung und Anfeindung von Lenin ist bis heute sein Organisationskonzept. Er hat darauf bestanden, dass diejenigen, die sich wissenschaftliche Kapitalismuskritik angeeignet haben, diese systematisch unter den Lohnabhängigen verbreiten sollen. Bis heute zieht diese Einstellung viel Zorn auf sich, da in der Agitation Bevormundung gesehen wird. Wer bestehendes Bewusstsein gegenüber jenen verteidigen möchte, die es verändern wollen, kann sich schon mit der Feststellung, dass die Kaderorganisation etwas möchte, was die Klasse (Massen, Proletariat, Betroffene etc.) nicht möchte, zufrieden geben.

Dabei gäbe es keinen Grund, sozialistische Organisationen zu gründen, wenn die Mehrheit eh von der Kritik am Kapitalismus überzeugt wäre. Insofern bewegte sich Lenin weg von der Behauptung, die Marx und Engels im »Manifest« aufgestellt haben: Die Kommunist*innen hätten »keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen«. Offensichtlich haben sie diese, denn sie verweisen in ihrer Agitation auf die Gründe, warum der Kapitalismus das Interesse hervorruft, im Hier und Jetzt seine Arbeitskraft zu verkaufen.

Auch dass die Mitglieder einer revolutionären Organisation sich auf eine richtige Kritik einigen und die Organisation kein buntes Mosaik aus Meinungen und Ansätzen sein sollte, gehört zu den Positionen, die man Lenin immer wieder ankreidet. Ihn hat spätestens der Ausbruch des Ersten Weltkriegs endgültig davon überzeugt, dass Meinungsvielfalt in der Frage, ob man sein Vaterland verteidigt oder gegen den Krieg agitiert, keine Bereicherung für die sozialistische Bewegung darstellt. Den Wahrheitsanspruch mit Herrschaft gleichzusetzen, gehört zu den beliebtesten Einwänden gegen den Marxismus, sei es aus liberalen oder anarchistischen Ecken. Ausgerechnet darin den Fehler zu sehen, statt zu prüfen, was die Inhalte von Lenins Kritik am Kapitalismus sind, ist eine fruchtlose Beschäftigung.

Allerdings schreiben Lenin und seine Anhänger*innen den richtigen theoretischen Erkenntnissen mehr zu, als diese leisten können. Erstens ist in deren Augen die Theorie und die Organisation, die diese verbreitet und gegebenenfalls umsetzt, immer ein Ausdruck der historischen Notwendigkeit. Zweitens unterstellt Lenin, dass mit einer richtigen Theorie über den Kapitalismus die immanenten Kämpfe darin erfolgreicher laufen müssten. Demnach hat die Organisation richtige Argumente, doch überzeugt werden die Massen dadurch, dass die Kenner*innen des »Kapitals« Erfolge bei den Lohnkämpfen erzielen. Wenn diese Erfolge ausbleiben, dann müsste auch in der Kapitalismuskritik oder der Einschätzung der historischen Situation was schiefgelaufen sein. An diesem Problem zerbrechen etliche Organisationen. Der Widerspruch zwischen Klasse organisieren und Kritik an ihrem Bewusstsein zu üben, wird unaushaltbar. Dafür gibt es zahlreiche Linke, die entweder Organisationen ohne Agitation in die Kämpfe führen oder Agitation ohne Organisation betreiben.

Mehrheitswille

Lenin verlangte von seiner Partei den Willen zur Entscheidung, eine neue Staatsgewalt zu etablieren, mit dem Verweis, die Gesetze der Geschichte wirkten durch die Aktionen der Klasse und ihrer Vorhut. Die Entwicklung zum Sozialismus galt für ihn sowohl als dringend nötig als auch unvermeidlich. Häufig greift die Kritik deterministische Kategorien auf: »Der Bolschewismus ist im Prinzip, Taktik und Organisation einer Bewegung und Methode der bürgerlichen Revolution in einem vorwiegenden Bauernlande«, schrieb Rätekommunist Helmut Wagner 1934. Wir wissen heute, wie die Geschichte der Sowjetunion verlaufen ist. Daraus wird häufig der Schluss gezogen, es sei von Anfang an der Plan von Lenin und seiner Partei gewesen, sich an Stelle der Klasse an die Macht zu bringen, und das rückständige Russland für den Kapitalismus zu modernisieren. Aber es gibt keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine vorher gehegte Vorstellung und bewusste Täuschung handelte. Noch 1917 ging Lenin davon aus, dass, wenn nur die ehemals Unterdrückten entscheiden dürften, dabei der Aufbau des Sozialismus rauskommt. Bald darauf wurden die Bolschewiki daran erinnert, dass es eine Differenz zwischen ihrem Programm und dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung gab. Sie haben aber bis zum Ende des Realsozialismus darauf bestanden, dass ihre Staaten Ausdruck eines genuinen Klassenwillen seien. Aber diesen Irrtum, die eigenen Ziele mit dem Mehrheitswillen zu verwechseln, haben nicht nur die Leninist*innen innerhalb der Linken gepachtet.

Das Wiederaufkommen der ML-Gruppen wirkt wie ein Rätsel auf ihre Gegner*innen. Dabei sind drei Gründe für ihren Erfolg offensichtlich. Erstens: Mitte der 2000er Jahre gab es kaum eine linksradikale Organisation, die sich ohne ironische Distanz, Verweis auf die eigene Machtlosigkeit oder die Unwahrscheinlichkeit auf die Revolution bezogen hätte. Fast zeitgleich zur ML-Jugend betrat der insurrektionalistische Anarchismus die Bühne im deutschsprachigen Raum. Beide Strömungen decken den Bedarf an existenziellen und ernsthaften Einstellungen, die sich auf Ziele und Mittel radikaler Politik beziehen. Beide streifen vereinzelt immer wieder die Grenze zum politischen Lager des rechten Gegners. Was nicht auf die Entscheidung über Leben und Tod hinausläuft, erscheint sinnlos und des Kampfes nicht wert.

Zweitens: Die »Neomaoisten« haben entdeckt, dass es in Indien, Peru und auf den Philippinen sich links nennende Kräfte gibt, die zeitweise beachtliche Gebiete kontrollierten, während die hiesige Linke dies kaum zur Kenntnis nahm. Erfahrungsgemäß findet alles, was sich links nennt und irgendwelche Erfolge vorzuweisen hat, ob Chavez oder China, in der bundesdeutschen Linken eifrige Anhänger*innen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wer wann »entdeckt« wird.

Drittens: Die neuen MLer haben Milieus erschlossen, in denen die restlichen Linken keinen Anschluss fanden; sie organisieren viel mehr Migrant*innen und Menschen aus den unteren Schichten als die klassische radikale Linke. Gleichzeitig waren sie viel aufgeschlossener gegenüber Strukturen, die ursprünglich nicht aus der Bundesrepublik kommen: Zahlreiche türkische kommunistische Parteien wurden auf einmal zum Vorbild und nicht als defizitäre und komplett unzeitgemäße Strukturen wahrgenommen.

Insofern gibt es keinen Grund, die »roten Bünde« als etwas »ganz anderes« und fremdes zu externalisieren. Sie wollen sich durch »konsequent sein« absetzen und sind dabei auch in ihren Irrtümern konsequent.

Ewgeniy Kasakow

ist Historiker und Herausgeber des Buches »Spezialoperation und Frieden« (Unrast Verlag) über Antikriegspositionen in der russischen Linken.

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