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Nach der Mobilmachung

Während Antikriegsproteste in Russland vereinzelt bleiben, rumort es unter den Angehörigen von Einberufenen

Von Dietmar Lange

Geschmückter Weihnachtsbaum im Vordergrund, im Hintergrund ist die Basilius Kathedrale am Roten Platz in Moskau zu sehen
Wäre kurz vor dem Jahreswechsel beinah einem Brandanschlag zum Opfer gefallen: Weihnachtsbaum am Roten Platz in Moskau (hier in einer Aufnahme von 2013). Foto: kishjar? / Flickr, CC BY 2.0

Der Jahreswechsel in Russland verlief symptomatisch für die derzeitige Situation im Land. Feuerwerke waren verboten. Landesweit wurden 66.000 Sicherheitskräfte mobilisiert. Während in der Moskauer Altstadt Menschen zu dem Lied des ukrainischen Folk-Sängers Verka Serduchka »Die Ukraine ist noch nicht gestorben« tanzten, riegelte nicht weit davon entfernt die Polizei den Roten Platz ab und nahm vor allem umstehende Männer in Gewahrsam. Ähnliches geschah in Sankt Petersburg, allein hier sollen es 2.000 Ingewahrsamnahmen gewesen sein, die meisten davon Migranten und Männer mit Feuerwerkskörpern. In der Silvesternacht setzten Unbekannte Signalanlagen entlang der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn in Brand, in Moskau griff jemand ein Militärkommissariat mit Molotowcocktails an, und bereits in der Nacht zuvor gab es sogar einen Versuch, den zentralen Weihnachtsbaum auf dem Roten Platz anzuzünden.

Größere, von den Behörden scheinbar befürchteten Unruhen und Aktionen blieben jedoch aus. Mehr als drei Monate nach Ausrufung der Mobilmachung bleibt festzustellen, dass es bislang kein allgemeines Aufbegehren gegen den Krieg gibt. Wiederaufgeflammte Straßenproteste zu Beginn der Mobilmachung wurden bereits im Ansatz niedergeschlagen und sind schnell wieder verebbt. Dennoch lassen sich Anzeichen einer sich ändernden Stimmung im Land ausmachen.

Allein mit Schild

Zunächst ist festzustellen, dass die bisherigen unterschiedlichen Formen vom Widerstand gegen den Krieg weitergehen. Immer noch stellen sich jeden Tag Einzelpersonen mit Antikriegsbotschaften auf selbstgebastelten Plakaten und Schildern in den öffentlichen Raum, es werden Graffiti hinterlassen, Propagandasymbole angegriffen und Menschen äußern sich zumeist im Internet und den sozialen Medien gegen den Krieg. Mittlerweile tun dies auch vermehrt Aktivist*innen nationaler Minderheiten, aus denen die Armee schon vor der Mobilmachung bevorzugt ihr Menschenmaterial rekrutierte und die auch von der Einberufungswelle überproportional betroffen sind. Die größten Straßenproteste fanden nach der Mobilmachung, anders als im Februar und März, in Regionen mit nationalen Minderheiten, im Kaukasus und dem Fernen Osten, statt.

Daneben gehen auch Sabotageakte und Anschläge weiter. Das unabhängige Medienprojekt Werstka kam bis Dezember auf 72 Explosionen und Brände bei militärischen Einrichtungen seit Beginn des Krieges, darunter 44 Wehrersatzämter, ein Großteil davon nach der Ausrufung der Mobilmachung. Oft sind es Einzeltäter*innen ohne längere politische Vergangenheit, die im Zuge solcher Anschläge verhaftet werden. Es gibt jedoch auch organisierte Gruppen. Zwei Mitglieder der Anarcho-Kommunistischen Kampforganisation (BOAK) erzählen in der Youtube-Dokumentation »Russia’s Anti-Putin Underground«, dass um die 30 solcher Gruppen verschiedener politischer Ausrichtung existieren, die sich untereinander koordinieren, Informationen austauschen und auch materiell unterstützen.

Immer noch scheinen viele derjenigen, die nicht geflohen sind, darauf zu vertrauen, dass sie nicht eingezogen werden.

Ein neues Phänomen, neben den schon länger offen und verborgen agierenden Antikriegsaktivist*innen ist indes, dass sich nun auch Einberufene und Angehörige zu Wort melden. Seit September kursieren zahlreiche Videos im Internet, in denen diese die miserablen Zustände in der russischen Armee und die Behandlung durch die Behörden kritisieren: die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Bekleidung und Ausrüstung (teilweise müssen Einberufene bei Minusgraden im Freien campieren), die drakonische Behandlung durch Vorgesetzte. Einige Videos zeigen Fälle offenen Aufruhrs in den Ausbildungszentren, bei denen Einberufene das morgendliche Ausrücken verweigen oder kollektiv die Einrichtung verlassen und nach Hause gehen. Vor allem aber wird die mangelnde Ausbildung beklagt. Viele Einberufene werden direkt an die Front in die Ukraine gebracht; manche haben zuvor in ihrem Leben noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten. Entsprechend drastisch ist die Zahl der Gefallenen gestiegenen. Diejenigen, die sich weigern weiterzukämpfen, werden in inoffiziellen Militärgefängnissen in den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk festgehalten. Dort hausen sie in Kellern und brachliegenden Gebäuden, werden misshandelt und mit dem Tod bedroht. Angesichts dessen verwundert es kaum, dass sich nun auch Angehörige, vor allem Mütter und Ehefrauen, beginnen zu organisieren. Es existieren viele Chatgruppen, in denen sie nach ihren vermissten Söhnen und Ehemännern suchen. Sie richten Appelle an die lokalen Gouverneure, die militärischen Behörden oder direkt an Putin, einige versuchen auch an die Grenze und in die besetzten Gebiete zu gelangen. Zumeist werden dabei die Propaganda von der »Spezialoperation« und der Krieg selbst nicht in Frage gestellt. Es zeichnet sich jedoch eine Radikalisierung ab angesichts der Realität auf dem Kriegsschauplatz und der mauernden Behörden, mit denen die Angehörigen konfrontiert sind.

Rat der Mütter und Ehefrauen

Ein gutes Beispiel dafür ist der Rat der Mütter und Ehefrauen, der bereits im September, kurz nach der Ausrufung der Mobilmachung, in Erscheinung trat. Zunächst forderte er lediglich, an der Koordinierung der Mobilmachung beteiligt zu werden sowie die Ausbildung und Versorgung der Einberufenen zu überwachen, und rief Putin und die beteiligten Behörden zu Gesprächen auf, jedoch mit wenig Erfolg. Mittlerweile ist auch diese sich zunächst loyal gebende Organisation mit Zensur- und Repressionsmaßnahmen konfrontiert. Gegen einige Mitglieder, darunter die Sprecherin Olga Tsukanowa, laufen Strafverfahren. Auf einer Online-Pressekonferenz am 29. November zeigten sich die Mitglieder daher nicht nur desillusioniert, sondern auch äußerst erbittert. Sie kritisierten in harschen Tönen die Regierung, »die uns betrügt, knebelt, uns zu Sklaven macht«. Auch die Dominanz von Männern in der Staatsführung und die passive Rolle, die den Frauen in der Welt der »Silowiki« zugedacht ist, wurde in Frage gestellt. Die Frauen müssten ihre Vereinzelung durchbrechen und ihre Stimme erheben, zudem wäre es besser für Russland, eine Präsidentin an der Spitze zu haben. Mittlerweile fordert der Rat auch die Aufnahme von Friedensverhandlungen.

Auf diese neue Form der Unmutsäußerungen reagierte die Regierung auf die gewohnte Weise mit weiteren Gesetzesverschärfungen, die nun auch die Verbreitung von Informationen über den »psychischen und physischen Zustand und die Ausbildung der Truppen« unter Strafe stellt. Damit droht sie jedoch nicht nur die in Aufruhr geratenen Angehörigen weiter von sich zu entfremden, sondern auch den Teil der Gesellschaft, der zwar den Krieg unterstützt, aber eine größere Transparenz und offene Diskussion über Probleme und Missstände verlangt. Dazu gehören Kriegsberichterstatter*innen in den Sozialen Medien und ihre Follower*innen, die unabhängig von der offiziellen Propaganda von der Front berichten und dabei auch das Verteidigungsministerium und die Armee kritisieren.

»Ich will nichts mehr«

Wie sich die Mobilmachung auf den eher loyalen Teil der Gesellschaft auswirkt, haben zwei Journalistinnen des unabhängigen Online-Mediums Proekt versucht herauszufinden, die die Diskussionen in einem Chat patriotischer Angehöriger mitverfolgten. Um dort aufgenommen zu werden, wurde ein Foto des russischen Passes verlangt, um zu verhindern, dass ukrainische »Provokateure« Zugang erlangen. Zunächst drückten viele Teilnehmerinnen stolz patriotisches Pflichtgefühl ob der Einberufung ihrer Männer aus. Es dominierten die Narrative der russischen Propaganda über eine Befreiung der Ukraine von »Nazis«; selbst die Bombardierung ziviler Infrastruktur wurde in einem Beitrag begrüßt. Der Umschwung begann hier mit den ersten Berichten über die Zustände in der Armee und die Situation an der Front. »Sie werden dort wie Kanonenfutter in die Schusslinie geworfen. Oh, Mann, ich will nicht, dass mein Mann nur die Rolle einer Zielscheibe spielt«, empörte sich eine Teilnehmerin. Statt über die Ukrainer*innen begannen die Frauen über die russische Propaganda und selbst die Regierung zu schimpfen. Gegenstimmen verstummten bald. Eine Frau zitierte ihren einst kriegsbegeisterten Mann: »Ich hasse dieses Land und diese Bastarde jetzt. Ich fühle mich schlecht. Ich will nichts mehr.«

Es gibt also deutliche Anzeichen für eine Ernüchterung und aufkeimende Unruhe selbst unter loyalen Teilen der Bevölkerung. Wie weit verbreitet das derzeit ist, lässt sich jedoch schwer feststellen. Nachdem Verteidigungsminister Sergei Schoigu am 28. Oktober das offizielle Ende der ersten Mobilisierungswelle verkündete, scheint unter dem Teil der Gesellschaft, der bisher verschont geblieben ist, wieder etwas Ruhe eingekehrt zu sein. Immer noch scheinen viele derjenigen, die weder ins Ausland geflohen sind noch eingezogen wurden, darauf zu vertrauen, davonkommen zu können, wie ein Journalist des studentischen Medienprojekts DOXA in einem Interview mit dem linken ukrainischen Online-Journal Commons etwas resigniert feststellt. Sollte eine zweite Mobilisierungswelle erfolgen, die jederzeit ohne offizielle Erklärung möglich ist, dürfte dies das Unruhepotenzial weiter steigern.

Dietmar Lange

ist Historiker der Arbeiter*innenbewegung, der sich aufgrund seiner familiären Wurzeln aktuell viel mit der Situation in Russland beschäftigt.

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